Einheit als Leitmotiv in „Lumen Gentium“ und im Gesamt des II. Vatikanums

Der Ansatz von „Lumen gentium“

Nicht mit der Kirche fängt die Dogmatische Konstitution über die Kirche an, sondern mit Christus, dem Licht der Völker. Kirche kommt zur Sprache erst in der Spannung zwischen ihrem Woher und Wohin. „Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen verkündet (vgl. Mk 16,15)“ (LG 1). Kirche ist nur mit sich identisch, weil und sofern sie sich ausspannt zu Christus als dem Ursprung und hinspannt zu der Menschheit, für die sie gesandt ist. Aber auch ihr Eigenes ist nicht etwas zwischen dem Ursprung und dem Adressaten ihrer Sendung. Dieses Eigene ist vielmehr der Widerschein eines Lichtes, das [210] nicht ihr gehört, sondern dem Herrn, das ihr selber aber nur scheint, wenn es von ihr weiterscheint hinein in die Welt. Christus will die Welt und will zur Welt – das ist Kirche. Aber gerade diese doppelte Selbsttranszendenz gibt ihr auch in ihr selber Stand und verlangt von ihr selber das Einssein. Es kommt darauf an, das ganze Licht Christi als getreuer Spiegel aufzufangen, zu wahren und so weitergeben zu können. Sie hat nicht irgendeine Funktion für Jesus Christus, sondern eine selbst universale Funktion, eben jene der Durchgabe und Weitergabe, die sie nur erfüllt, indem sie in sich selbst zusammenhält. In sich selbst zusammenhalten, in sich selbst eins sein aber heißt eins sein durch das, was ihr geschenkt und anvertraut ist, eins sein in dem Licht Christi, das auf sie fällt. Der Text fährt fort: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (ebd.). Daß Gott sich mit der Menschheit eins gemacht hat, das ist Kirche: vertikale Einheit. Diese Einheit der Menschheit mit Gott wird durch die Kirche hindurch weitergegeben und wird zugleich in ihr selber sichtbar (Werkzeug und Zeichen).

Kirche ist aber nur als Versammlung, als Einheit. Ihr Miteinander ist der Ort, an dem Christus der Welt aufstrahlt, ihr Charakter als Gemeinschaft ist in Anspruch genommen, der Welt Zeugnis zu geben von Christus und Christus selber als den in ihrer Mitte Lebenden weiterzugeben. Damit aber ist sie Zeichen und Werkzeug auch dafür, daß Gott die Menschen, alle Menschen, zusammenführen will, daß die Gemeinschaft mit ihm Gemeinschaft der Menschen miteinander werden will: horizontale Einheit. Beide Dimensionen der Einheit, die horizontale und die vertikale, schließen sich gegenseitig ein, lassen sich nicht voneinander trennen. Dieser Charakter der Kirche als Sakrament der Einheit ist jedoch nicht nur abgeleitet aus dem Ursprung der Kirche und ihrer Botschaft in Jesus Christus, sondern entspricht auch dem Kairos der Geschichte, die heute mehr denn je offenbar macht, daß Menschheit und Welt auf Einheit hin tendieren. So sagt es der Schluß der Nr. 1 unseres Dokumentes: „Deshalb möchte sie [sc. die Heilige Synode] das Thema der vorausgehenden Konzilien fortführen, ihr Wesen und ihre universale Sendung ihren Gläubigen und aller Welt eingehender erklären. Die gegenwärtigen Zeitverhältnisse geben dieser Aufgabe der Kirche eine besondere Dringlichkeit, daß nämlich alle Menschen, die heute durch vielfältige soziale, technische und kulturelle Bande enger miteinander verbunden sind, auch die volle Einheit in Christus erlangen“ (ebd.).

In den nächsten drei Abschnitten (LG 2–4) entfaltet sich dieser Anfang. Jedesmal ist vom Heilswillen Gottes für die Welt die Rede, jedesmal kommen, zumindest im Ansatz, die drei göttlichen Personen der Dreifaltigkeit [211] ins Spiel, wobei Vater, Sohn und Geist jeweils den Ansatzpunkt der aufeinanderfolgenden Nummern bilden. Kirche wird hier also hineingestellt in die Geschichte Gottes mit dieser Welt, und diese Geschichte ist die der Selbstmitteilung und Selbsthingabe Gottes, der immer als der eine nach außen wirkt, dabei aber gerade als der Vater, der Sohn und der Geist Welt und Menschheit ins göttliche Leben einbezieht, ihr an sich selber Anteil gibt. Die zusammenfassende Schlußleiste der ersten vier Nummern unseres Textes lautet denn: „So erscheint die ganze Kirche als ,das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk'„ (LG 4). Das Konzil zitiert hier Cyprian, De oratione dominica 23, also die Vaterunser-Auslegung des großen afrikanischen Bischofs. Bedenkenswert, daß es sich bei Cyprian an dieser Stelle um die gegenseitige Vergebung unter den Glaubenden handelt, um die Forderung Jesu, sich zuerst mit dem Bruder zu versöhnen und die Gabe so lange am Altar zu lassen, ehe man das Opfer darbringt (vgl. Mt 5,23f). Die trinitarische Verankerung hebt nicht ab vom Leben, sondern zielt auf gelebte Einheit in der beständigen, radikalen Versöhnungsbereitschaft.

Die Einheit des dreifaltigen Gottes hält und trägt Welt und Menschheit; es kann nicht anders sein, als daß das Geschaffene nach dem Urbild des Schöpfers strebt, und zwar im doppelten Sinne der Transzendenz hin zu ihm und der Immanenz der Abbildung göttlichen Lebens in der gegenseitigen Einheit. In Jesus Christus, dem vom Vater Gesandten und mit dem Geist Erfüllten, geschieht das Werk der Einung der Menschheit mit Gott und miteinander. Werkzeug und Zeichen solcher Einheit aber ist die Kirche. Dies ist der Ansatz von „Lumen gentium“, der – ungeachtet verschiedener Einflüsse, Rücksichten, Schichtungen des Textes – sich durchsetzt, hinein dekliniert in die verschiedenen Fälle und hineinkonjugiert in die verschiedenen Gezeiten und Personen des Lebens der Kirche inmitten der Welt.

Es muß genügen, auf ganz wenige Punkte zu verweisen, an denen dies besonders sichtbar wird.

a) Die Vorordnung des Kapitels über das pilgernde Gottesvolk vor das Kapitel über die hierarchische Verfassung der Kirche.

Das erste und Wichtigste, was über das Warum und Wie der Kirche zu sagen ist, besteht gerade darin, daß Gott die Menschen eben nicht einzeln, nicht unabhängig von ihrer wechselseitigen Verbindung heiligen und retten, sondern sie zu seinem Volk rufen will (vgl. LG 9). Einheit als communio ist Gottes Weg mit dem Menschen, und darin prägt sich gerade Gottes Liebe aus, die sein eigenes, allem menschlichen Begreifen überlegenes und unzugängliches Dasein eben doch nicht anders uns aufzuschließen vermag als durch die Botschaft von der Dreifaltigkeit. So wird der einzelne in seiner un-[212]vertretbaren Einmaligkeit, in seinem unüberholbaren Geliebtsein und seiner unvertretbaren Verantwortung gerade nicht nivelliert, aber ins Mitsein und Fürsein hineingenommen. Geschichte des einzelnen mit Gott geht nicht ohne die Geschichte von anderen und mit anderen. Einheit selber hat so einen kommunikativen und geschichtlichen, nicht allein mit dem Bild des Organismus zu fassenden Grundcharakter. Erst in diesem transzendierenden, sich mitteilenden Einssein werden Verschiedenheiten und auch qualitative Unterschiede (vgl. die Aussagen über den nicht nur graduellen Unterschied zwischen Priestertum des Dienstes und gemeinsamem Priestertum der Gläubigen in LG 10) verstehbar. Sie stehen unter dem Vorzeichen des „für“ und „mit“. Im „mit“ entfaltet das Fürsein als „Konstruktionsprinzip“ der Einheit die Lebendigkeit, die Fülle, die Vielheit.

b) Der eine Geist, der seine Lebendigkeit in den vielen Gaben und Diensten erweist (vgl. LG 7).

Einheit kann nicht leben ohne Beziehung, sie stiftet Beziehung und hebt damit notwendigerweise das bloße Einerlei auf. Zugleich ist das „je größer“ und „je mehr“ Gottes durch seine Selbstmitteilung nicht nivelliert, und so kommt gerade durch die Teilgabe an Gottes einem Leben die Brechung in die vielen Gaben und Dienste innerhalb der endlichen Vermittlung zustande. Diese aber sind nicht für den Gegensatz, sondern für die Ergänzung bestimmt, sind selber Bausteine der Einheit und Hinweise auf die Einheit. Solche Einheit aber wird nur dadurch wirksam, daß ihr einender Grund, ihr einendes Worumwillen in ihnen gelebt und ergriffen wird. So bezeichnet die Kirchenkonstitution das Neue Gebot (vgl. Joh 13,34), zu lieben, wie Christus uns geliebt hat, als das Gesetz des Volkes Gottes (vgl. LG 9).

c) Das Ineinander der Kirche als sichtbare Versammlung und geistliche Gemeinschaft, als irdische mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche (vgl. LG 8).

Es ist Kennzeichen der von Gott her gewirkten und wirkenden Einheit, daß sie nicht nivelliert, was sie verbindet. Dies wirkt sich aus in der Einheit von Einheit und Unterschied zwischen dem Wesen und der ganzen Verwirklichung der Kirche und ihrer sichtbaren Gestalt. Die Subsistenz der einen und einzigen Kirche in der römisch-katholischen Kirche und die Anerkennung von ekklesialen Momenten auch außerhalb ihrer sichtbaren Einheit: diese Sicht ist hier begründet (vgl. LG 8 u. LG 13).

d) Der doppelte Ausdruck der Einheit in ihrer Gestalt.

Die je größere Einheit Gottes teilt sich in der endlichen Gestalt der Kirche sakramental mit. Dies wirkt sich gerade in einer das bloße System sprengenden Verfaßtheit kirchlicher Einheit aus. Der „Eine“ ist in der Tat vollgültiger Ausdruck der ganzen Einheit und ist es nicht nur aus der Zustimmung, [213] die ihm von allen her erwächst. Die entsprechenden Aussagen über die Bedeutung des Papstes für die Kirche und, anders gewendet und akzentuiert, des Bischofs für sein Bistum bringen dies zur Darstellung. Zugleich aber wird Einheit nicht nur durch die endliche Einzelheit und deren nur aus der Grundstruktur der Sendung und der Liebe auszuhaltenden „Skandal“ vollbracht, sondern zugleich durch jenes Miteinander des Kollegiums der Nachfolger der Apostel um Petrus und – wieder in einer qualitativ anderen Weise und Bedeutung – im Miteinander der Presbyter im Presbyterium um den Bischof. Die Entäußerung der Einheit in den einzelnen hinein und die Entäußerung der einzelnen in die Einheit hinein finden diesen strukturell doppelten, sich ergänzenden, einschließenden und doch nicht ineinander aufgehenden Ausdruck.

e) Die katholische Einheit als geistlicher „Verdichtungskern“ jener Einheit, auf welche die gesamte Menschheit angelegt ist (vgl. bes. LG 13).

Alles, was auf den je größeren Gott und was auf das je größere Miteinander hinzielt, ist sozusagen Same jener Einheit, die sich in der katholischen, allumfassenden Einheit der Kirche bereits zeichenhaft und werkzeuglich, eben sakramental, vom Ziel der Geschichte her in deren Lauf hineinhält. Die Weise, wie Kirche solche Einheit in der Fülle der geschichtlichen und kulturellen Unterschiede lebt, soll Katalysator dieses Prozesses sein, der nicht „machbar“ ist, aber gnadenhaft bereits die Menschheit und ihre Geschichte durchdringt.