Christliche Spiritualität in einer pluralistischen Gesellschaft

Der Anstoß: der „Überschuß“Jesu

Schon in der anfänglichen Klarheit der Nachfolge bricht eine Differenz auf, etwas, das uns dazu treibt, die Mitte des Christlichen je neu zu formulieren. Wer Jesus begegnete, erfuhr, daß er „anders“ ist. Er rief zur ungeteilten, zur fraglosen Nachfolge, er rief aber zugleich – bei jenen, die nachfolgten, wie bei jenen, die staunend abseits blieben – auch die Frage hervor: Wer ist dieser? Sowohl in seinem Wirken wie in seiner Person bezeugte sich ein „Überschuß“. Diesen Überschuß konnte man nicht auf sich beruhen lassen. Die Einlösung durchs Tun, eben durch die Nachfolge, reicht nicht aus; der Überschuß wollte sich auch in der Aussage, im Bekenntnis einlösen. Sich selbst und den anderen war man die Antwort auf die Frage schuldig, auf was und auf wen man sich da eigentlich einließ.

So mußte von Anfang an die „Sache Jesu“, das, was er brachte, was er auslöste, was er ansagte, in Namen [93] gefaßt werden, von ihm selbst und von jenen, die ihn bezeugten: Herrschaft Gottes, Heil der Welt, Erlösung, und er selbst mußte aus-gesagt werden, indem man ihm Titel beilegte: Jesus ist der Messias, der Prophet, der Menschensohn, der Sohn Gottes, der Herr, der Hohepriester. In solchen Namen und Titeln wollte deutlich werden, was in der Sache und in der Person Jesu uns angeht, uns ruft, uns meint. Und woher stammen diese Namen, diese Titel? Sie weisen zurück in die Geschichte des Alten Testaments, in religionsgeschichtliche, philosophische, menschheitliche Horizonte, immer aber in Horizonte der Erwartung. Worte menschlicher Erwartung, menschlicher Hoffnung, menschlicher Sehnsucht werden beansprucht, um in ihnen auszusagen, wer dieser Jesus ist, was dieser Jesus erschließt.

Darin aber geschieht eine merkwürdige Doppelbewegung. Zum einen ist Jesus das Subjekt, und die Namen menschlicher Erwartung sind das Prädikat, das dieses Subjekt bestimmt, das seine Gestalt und sein Wesen uns auslegt. Doch unversehens dreht sich dieses Verhältnis um: Um zu wissen, was diese Worte menschlicher Erwartung meinen, wohin sie in letzter Konsequenz tendieren, so sie sich erfüllen, wo sie Aussage werden, die nicht ins Leere greift, muß ich auf Jesus blicken. Diese menschlichen Worte werden das Subjekt, und Jesus ist ihr sie identifizierendes, ja sie überbietendes Prädikat. Wir brauchen solche Worte, um zu erklären, wer Jesus ist, doch mehr noch erklärt Jesus selbst, was die Worte meinen, die wir ihm zumessen und die wir ihm zulegen. Der Grund für diese Zirkelbewegung liegt im Je-größer-Sein Jesu, er selbst bleibt all unserem Erklären, Fassen gegenüber uneinholbarer Komparativ. Unser Sprechen ist Umkreisen der Mitte, die er ist. Nie kann unser [94] Sprechen die Mitte einholen, sie ausfüllen, und doch ernötigt diese Mitte immer neu unser Sprechen. Um es mit Leo dem Großen zu sagen: Dasselbe, was es uns schwermacht zu sprechen, macht es uns unmöglich zu schweigen.