Ideologiekritik und christlicher Glaube

Der Begriff der Ideologie als ideologiekritischer Begriff*

Dem Begriff der Ideologie, den wir soeben gewonnen haben, haftet indessen eine eigentümliche Unsicherheit an, denn er bezieht sich nicht unmittelbar auf das Phänomen der Ideologien; er blickt vielmehr unmittelbar nur auf die mannigfachen Begriffe von Ideologie, die sich in der Diskussion oder im unkontrollierten Vorverständnis derer befinden, die über Ideologie diskutieren. Ideologie als solche wird jedoch nur von denen so genannt, die sie kritisch betrachten. Auch der nicht werten wollende Ideologiebegriff der Wissenssoziologie, so zeigte sich uns, ist ein solch kritischer Begriff von Ideologie. Über dieses ideologiekritische Bewußtsein selbst ist indessen in den bisherigen Ausführungen noch nichts ausgemacht. Es stellt sich darum zunächst die Frage, ob die Voraussetzungen, welche die Ideologiekritik notwendig impliziert, um von Ideologie überhaupt reden zu können, als solche zu halten sind. An dieser Frage müßte es sich allererst entscheiden, ob es überhaupt so etwas wie Ideologie gibt.

Zur Beurteilung dessen bietet sich folgender Weg an: Die Beobachtungen, die das ideologiekritische Bewußtsein veranlassen, von Ideologie zu sprechen, lassen sich auch für ein Bewußtsein verifizieren, das Bedenken gegenüber der heutigen Ideologiekritik hegt. Es gibt also allgemeine und für jede Bewußtseinslage beobachtend zu bestätigende Anlässe zur Bildung des Ideologiebegriffes. Es wird nun darum gehn, von diesen Anlässen aus kritisch auf jene Voraussetzungen zu blicken, welche in der heute gängigen Ideologiekritik zu dem genannten Ideologiebegriff führen.

Wenden wir uns zuerst den Anlässen zu, die es nahelegen, von Ideologie überhaupt zu reden.

Es gibt die schreckliche Erfahrung – gerade in unserem Lande – mit Gedankengebäuden, die im Interesse der Macht aufgerichtet werden und das allgemeine Bewußtsein so faszinieren, daß es wie betäubt zu praktischen Konsequenzen bereit wird, die sich von außerhalb dieser Faszination überhaupt nicht erklären lassen, Konsequenzen, die das Menschliche in seiner elementaren Grundlage zerstören und verfremden.

Wie ist so etwas unter denkenden Menschen möglich? Diese Frage darf nicht sterben, und es gibt genügend Beobachtungen, die es fordern, sie besorgt aufs neue zu stellen. Hier liegt ein weites und zugleich bedrängend nahes Feld der [22] Anlässe, die den Begriff „Ideologie“ dem Instrumentarium unseres Denkens aufnötigen.

Ein zweites Feld bleibt zu erwähnen. Unser Leben ist in eine verwirrende Fülle gesellschaftlicher Zusammenhänge verwoben – etwa in Konsum, Werbung, Produktion, Information, Meinungsbildung. Diese Zusammenhänge sind unmittelbar keineswegs durchsichtig. Sie aufzudecken, tut not im Interesse unserer eigenen Freiheit, die sonst in den Dienst undurchschauter anderer Interessen abgedrängt wird. Das Mißtrauen gegen unbesehene Selbstverständlichkeiten, gegen gemeinhin geltende Maßstäbe und Wertungen bestimmt daher weithin den Rhythmus unseres geistigen Lebens und erweist sich als notwendig. Was sich bei dieser Prüfung vordergründig als Deutung der Welt und des Daseins anbietet, gerät hierbei leicht in den Verdacht der Ideologie.

Bleiben wir nun zunächst bei den beiden aufgezeigten positiven Anlässen dieses Mißtrauens, das im Anscheinenden das Scheinbare und nicht das Wirkliche vermutet und hierfür den Begriff der Ideologie bereithält, um den Schein aufzuklären. Es zeigten sich zwei Felder solcher Anlässe: zum einen die geschichtlichen Verkehrungen und Betäubungen des Bewußtseins im Interesse der Macht, zum anderen die undurchschauten Hintergründe der eigenen Existenz im gesellschaftlichen Leben, die es nicht mehr die erste Frage sein lassen: Warum bin ich, warum ist etwas und nicht nichts?, die vielmehr als erste Frage uns diese aufdrängen: Was steckt hinter dem, was mich als Sinn, als Erklärung, als Ziel und als Deutung meines Daseins umwirbt, in Wirklichkeit?

Woran genau entzündet sich nun der Verdacht der Ideologie? Was liegt vor, wenn das prüfende Denken zu der Vermutung kommt, eine Deutung von Welt und Dasein stamme aus einem heimlichen Vorurteil, sie funktioniere Welt und Dasein zugunsten irgendeines Interesses um? Die Vermutung entsteht, weil das prüfende Denken einen Verstoß gegen den Vollzug rechten Denkens feststellt. Der Vollzug des Denkens muß nämlich als Mitdenken, als Gespräch der verschiedenen Gedanken und Konzepte miteinander geschehen. Dieses mitdenkende Gespräch prüft dabei nach, ob es sich so denken und sagen lasse, wie da gedacht und gesagt wird. Es fordert Zugang zu allen Gedanken, Rechtfertigung aller Gedanken vor den Fragen, die man an sie stellt.

Und da begegnet in bestimmten Fällen nun ein Gedanke, der sich nicht aufschließt ins Gespräch, der die Zudringlichkeit der Nachprüfung verwehrt, der sich schützend vor sich selber, vor seine angebliche Unwiderleglichkeit und [23] Selbstverständlichkeit stellt, sich dem Hin und Her des aufrechnenden Raisonnements entzieht. Dieser Gedanke, der seine eigenen Karten nicht offen auf den Tisch legen mag, der sich nicht messen mag mit anderen Gedanken: was ist an ihm? so stellt sich die Frage. Er stammt offenbar nicht aus der Familie der anderen Gedanken, die das Gespräch der ratio riskieren. Indem er sich dem Urteil der ratio nicht unterwirft, erweist er sich als Vorurteil, weil er dem Urteil über sich zuvorkommen will. Warum? Weil er sich eben will und nicht den offenen Tag der allgemeinen Wahrheit. Er ist also ein willentlicher Gedanke, einer, der aus einer undurchschauten Schicht emporschießt, die vor und unter dem Gedanken liegt; er ist die Verkleidung eines Wollens als Gedanke. Die Züge, die den Ideologiebegriff ausmachten, kehren wieder, und es fiele nicht schwer, alles dort Gesagte hier wiederholend zu präzisieren.

Mit der Feststellung des Vorurteils scheint die Ideologiekritik gerechtfertigt zu sein. Es bedarf indessen noch eines weiteren Verhandlungsganges.

Warum fordert denn die Redlichkeit des Denkens, daß alle Gedanken sich einander ausliefern und offenlegen? Weil es dem Denken um die Wahrheit geht. Von redlichem Denken kann man nur sprechen, wenn es dem Denken nicht um sich, sondern nur um die Wahrheit geht, wenn es unvoreingenommenes Denken ist, Denken, dem nichts den Platz für die Wirklichkeit beengt und vorweg einnimmt, so daß sie sich unverstellt zeigen kann. Ohne diese Leidenschaft für die Wahrheit hätte auch die Ideologiekritik weder Grund noch Sinn.

Hier aber ist eine Frage zu stellen: Wenn ein deutender Gedanke sich nicht in die Aufrechnung der Argumente gegeneinander begibt, wenn er sich nicht auflösen und auflichten läßt in Gründe für ihn und hinter ihm, ist dann in der Tat ausgemacht, daß er ein Vorurteil sei, das die Wahrheit verstellt, statt sie zu entbergen?

Darauf ist zu antworten: Wenn es richtig ist, daß das Denken nichts anderes als die Selbstvollstreckung seiner immanenten kategorialen Logik ist, wenn die Grenze seiner Erkenntniskraft schlechthin dort verläuft, wo sein Vermögen, das Zählbare und Berechenbare zu verknüpfen, wo seine Eindeutigkeit, das Endliche zu fassen, am Ende sind, dann allerdings ist das Denken genötigt, deutende Aussagen über das Ganze von Welt und Dasein als theoretisch nicht tragfähig abzuweisen. Aber ob es sich mit dem Denken so verhält, ist noch näherhin zu untersuchen.

[24] Vertiefend stellt sich dabei folgende Frage: Ist ein Gedanke, der sich nicht in den Aufrechenbarkeiten und Durchschaubarkeiten des zwingenden Raisonnements erschöpft, sondern irgendwie zu deuten versucht, damit notwendig ein bloßes Vorurteil, ist er also immer Ideologie? Um dies beantworten zu können, sollte man daran denken, daß am Anfang der neuzeitlichen Denkgeschichte nicht nur Descartes steht; es steht dort auch die Gestalt eines Blaise Pascal. Sein Hinweis auf die keineswegs irrationale Erkenntnissphäre des „cœur“, des Herzens, in der die Voraussetzungen der „raison“ ruhen, seine Unterscheidung der drei Ordnungen des Fleisches, des Geistes und der Weisheit sind durch Kants Erkenntniskritik keineswegs abgetan und verlangen ihre Berücksichtigung.

In einer verkürzenden Übersetzung auf unsere Frage zugesagt, heißt das: Das Denken, das sich nur auf die Kontrollierbarkeit seiner Gedanken beschränkt, ist nicht schon das unvoreingenommene Denken. Denn, wenn das Denken im vorhinein behauptet, es könne nichts anderes geben, als was sich in die Logik der ordnenden Bewältigung endlicher Erfahrung fügt, so ist diese Behauptung eben auch ein Vorurteil.

Hier zeigt es sich, daß es möglich ist, den Grundansatz des ideologiekritischen Denkens kritisch zu überholen, indem wir ihn gerade noch radikaler und unvoreingenommener formulieren. Es heißt dann nicht mehr nur: Ein Urteil, das sich nicht in der aufrechnenden Diskussion seiner Gründe und Gegengründe zwingend rechtfertigt, ist ein Vorurteil. Das ideologiekritische Axiom heißt vielmehr: Ein das Ganze deutendes Urteil, von dem aus nicht mehr alles sein darf, was es von sich her ist und als was es sich von sich her zeigt, ist ein Vorurteil.

Nicht dann schon jede Deutung des Ganzen ist Ideologie. Eine solche Deutung geschieht latent ja immer, auch im scheinbaren Verzicht auf solche Deutung; und sie läßt sich auch nie aus endlichen Fakten des Gedeuteten, der Welt und des Daseins, zwingend errechnen. Ideologie ist vielmehr nur eine solche Deutung, die das Gedeutete nicht an sich selbst freigibt, sondern ihm verbietet, seine volle Phänomenalität zu entfalten.

Was immer ist, darf sein, wie es immer ist: dies ist der Maßstab unvoreingenommenen Denkens. Dieser Maßstab unvoreingenommenen Denkens ist nur dort erfüllt, wo auch das sich bezeugen darf, was sich nicht in den Maßstäben seines endlichen Vorkommens erschöpft. Wo beispielsweise ein Kunstwerk nur der Inbegriff seiner berechenbaren Proportionen oder seiner gesellschaftlichen [25] oder psychischen Hintergründe und Effekte sein dürfte, oder wo das lebendige begegnende Du nur ein Glied gesellschaftlicher Gruppierungen und eine Verknotung physiologischer und psychologischer Zusammenhänge sein dürfte, oder wo ein Text nur das Ergebnis der geistesgeschichtlichen, sprachlogischen und gruppen- wie einzelpsychologischen Faktoren sein dürfte, die an seiner Gestalt ursächlich beteiligt sind, da wäre Ideologie im Spiel. Wo Kunstwerk, Text und Mensch aber sie selbst sein dürfen, als sie selbst aufgehen dürfen, wo sie sich bezeugen dürfen, dort waltet jene Offenheit, um die es gehen muß, wo es um die Wahrheit geht.

Der Einwand liegt nahe: Die moderne Wissenschaft, die Historie, die Psychologie, die Soziologie, aber auch die Naturwissenschaft, weist doch allen Phänomenen, auch den genannten, ihren funktionalen Stellenwert und ihre Verursachung in den Feldern aufklärbarer Zusammenhänge nach. Sie lassen sich also „erklären“.

Gewiß. Doch was leistet solche wissenschaftliche Erklärung und was leistet sie nicht? In einer abstrakten Formel läßt sich dies so ausdrücken: Alles, was vorkommt, kommt unter den Bedingungen des Vorkommens vor. Diese Bedingungen und ihre Zusammenhänge zu klären, ist Aufgabe und Leistung der Wissenschaften. Die Aussage, das Vorkommende selbst sei nichts anderes als der Inbegriff der Bedingungen seines Vorkommens, übersteigt indessen die immanenten Möglichkeiten dieser Wissenschaften. Die je neue Offenheit fürs Zeugnis dessen, was sich zeigt, was vorkommt, läßt sich wissenschaftlich nie abgelten.