Wert und Wirkungen der Religion

Der Beitrag der Religion in einer nachchristlichen Gesellschaft

Fundamentalistisches, aber auch utilitaristisches Religionsverständnis sind ausgeschlossen. Basis für Religion kann nur die Freiheit sein, sich beschenken zu lassen und zu schenken. Von oben verordnete Staatsreligion wird unmöglich, aber auch bloße Privatisierung der Religion bleibt problematisch, da in einer so verstandenen Religion Werte und Verhaltensweisen enthalten sind, die in ihrer gesellschaftlichen wie gesellschaftskonstitutiven Funktion über den Raum jener hinauswirken, die diese Religion sich zu eigen machen. Zwar ist es notwendig, auf dialogische Weise und auch in Schutz und Anerkennung von Religion als konstitutivem Wertverhalten diese in die Beteiligung am öffentlichen und gemeinsamen Leben mit einzubeziehen, doch muß ihre eigentliche Wirkungsweise die ihr je eigene sein.

Allerdings behält die Religion und zumal das Christentum in unserer Gesellschaft die Funktion, Erkenntnisse über fundamentale menschliche Zusammenhänge zu artikulieren, die dann, wie beispielsweise im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, relevant bleiben für eine gemeinsame Wertbasis, auf der Handeln aller in Freiheit unter Wahrung von Menschenwürde möglich ist.

Welche Perspektive auf den Menschen ergibt sich aus einer so verstandenen Religion? Welche sich dem Christentum verdankende, anthropologische Deutung, die freilich nicht nur an die Religion gebunden bleibt, kann Kultur, Ordnung und das Zusammenleben in der modernen Gesellschaft tragen? Die Einheit von drei Wesenselementen ist für das menschliche Dasein konstitutiv, die mit Gegebensein, Selbstsein und Mitsein bezeichnet werden können.

Es scheint, daß die Einheit dieser Momente, welche zwar als je einzelne sicher nicht vergessen sind, aber in ihrer Verbundenheit und Zusammengehörigkeit verdrängt wurden, das Erbe einer integrierten Kultur an eine fortschrittliche Gesellschaft ist.

Der Religion kommt die Aufgabe zu, die innere Verankerung dieser Momente in ihrer Einheit zu hüten, ohne daß der einzelne gleichzeitig zum religiösen Vollzug genötigt wird.

[51] Gegebensein: Dem Dasein ist es gegeben zu sein; es ist sich gegeben; die Welt und der andere sind ihm gegeben. Weder die existentialistische „Verurteilung zu sein“ noch das verbreitete Mißverständnis, daß die Welt, das Selbst, der Mitmensch frei verfügbar, machbar und manipulierbar sind, treffen diese Grundkonstitution des Daseins. Vielmehr geht es um das Bewußtsein dessen, daß das Sein anvertraut und verdankt ist. Diese Überantwortung eröffnet gerade die Möglichkeit der Annahme, der Ehrfurcht und des Respektes.

Selbstsein: Das Moment des Gegebenseins scheint auf den ersten Blick das Selbstsein einzugrenzen. Und doch beansprucht die Gegebenheit das Selbstsein aufs äußerste: Wir werden geboren, damit wir selbst sind; diese Selbstübernahme ist nicht substituierbar. Gegebensein und Freiheit sind miteinander verbunden. Freiheit darf freilich nicht als willkürlicher Entwurf meiner selbst verstanden werden, sondern sie ist immer Antwort auf das schon gegebene Sein. So ist Freiheit immer mit Verantwortung verbunden.

Mitsein: Gegebensein und Selbstsein stellen das Dasein als Selbstsein wiederum anderen, die jeweils selber sind, gegenüber. Alles Sein und Agieren der sich selbst übernehmenden Freiheit steht schon im Verhältnis zu anderen, ist hineingestellt ins Mitsein. Dieses Mitsein als Konstitutivum des Daseins trägt die Möglichkeit, daß Menschen sich in Gleichheit und Einheit zusammenschließen.

Gegebensein, Selbstsein und Mitsein zeigen sich in einer Sicht auf den Menschen, die zutiefst darin gründet, daß der Mensch kein Zufallsprodukt, sondern ein Gerufener ist, der frei antworten kann und sich darin zum Nächsten verhält. Wurden diese Momente auch am religiösen Verhältnis abgelesen, so lassen sie sich doch auch in einer davon gelösten ontologischen Analyse aufweisen.

Freilich sollte sich niemand über die Durchsetzungsfähigkeit einer solchen christlich motivierten anthropologischen Perspektive in unserer Gesellschaft Illusionen machen: Die moderne Welt kommt weitgehend ohne die Überlieferung der Religion aus.

Exemplarisch für diesen Sachverhalt ist die moderne Kunst: Die ursprüngliche Bildwelt christlichen Glaubens läßt sich wohl am ehesten im Museum antreffen. Die Bildwelt, in der sich der Glaube ausdrückt, ist dort vorwiegend bis in das 18. Jahrhundert hinein dokumentiert; danach nimmt der Anteil der museumswürdigen religiösen Kunst erheblich ab. Die Kunst und ihre Ausdrucksformen trennen sich von der Religion und ihrer Ausdrucksweise.

[52] Vielleicht gibt es aber eine neue, eine soziale Ikone als lebendiges Bild der Beziehungen zwischen denen, die an den dreifaltigen Gott glauben. Ein sich solchermaßen verstehendes Christentum könnte die Trinität, die Einheit von Vater, Sohn und Geist, diese Sozialität Gottes als vertikales Modell horizontaler Beziehentlichkeit berührbar werden lassen.

Die „soziale Ikone der Trinität“ vermag vielleicht den Weg zu weisen in einen Raum gemeinsamen Lebens: Das Christentum könnte seinen Beitrag leisten, Gesellschaft als „Raum der Werte“ – nicht durch bloß retrospektive Festschreibung von Werten, sondern durch das Schaffen eines Netzes lebendiger Beziehungen – zu konstituieren und zu wahren. So würde der dreifaltige Gott gegenwärtig im Sinn jenes Wortes Jesu: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt“ (Joh 17,21).

Vielleicht finden wir nur zueinander in der Unabdingbarkeit der Bundestreue, der absoluten Ehrfurcht, der Verantwortung, der Einheit und Gleichheit. Vielleicht liegt hier jene Zukunft der Werte, die zugleich Zukunft der Religion ist; eine Religion, die erfahrbar macht – so hat es Irenäus von Lyon zu Beginn der christlichen Geschichte einmal formuliert –, daß die Ehre Gottes der lebendige Mensch ist.