Glauben – wie geht das?

Der Bund – die Zehn Gebote – das Hauptgebot

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal: Jesus kommt es nicht darauf an, sozusagen am Reißbrett ein System der Ethik zu entwerfen, eine lückenlose Herleitung und Aufstellung dessen, was zur sittlichen Haltung und zum sittlichen Handeln des Menschen gehört. Die heilsgeschichtliche Situation, die Ansage des Gottesreiches, fordert ihn, uns zu sagen, was wir tun sollen, was Gott, der nahekommende Gott, von uns will.

Im Alten Testament ist es grundsätzlich nicht anders. Mag der religiöse Umtrieb es mitunter verdunkelt haben, in den Schriften des Alten Testamentes und in der Religiosität und Lebenseinstellung der Frommen Israels tritt zutage: Nicht das „Du sollst!“ ist das erste, sondern das geschichtsmächtige Handeln des Gottes, der sein Volk ruft und führt und immer wieder auf den Weg zurückführt. Weil ich, Jahwe, dein Herr und Gott bin – so dürfen wir Gottes gesetzgebende Offenbarung zusammenfassen –, weil ich an dir gehandelt habe und dich aus Ägypten herausgeführt habe, deshalb sollst du mich ehren als deinen Herrn und Gott, deshalb meinen Namen heilig halten, deshalb nicht mit deinen Interessen und Planungen meine Zeit und meinen Tag zudecken! Gott handelt an seinem Volk und stellt sein Volk in die Situation der Antwort. Nur in der Position der bekennenden, dankenden, bezeugenden Antwort kann dieses Volk überhaupt leben; denn seine ganze Existenz, seinen Anfang und seinen Bestand verdankt Israel dem Handeln Gottes, die gelebte Beziehung zu diesem Gott ist sein Lebensraum und seine Lebensbedingung. Und dieses dankende Bezeugen und Bekennen ist zugleich seine Berufung als priesterliches Volk, als Gottes Eigentum unter den Völkern.

Dieser Grundposition seiner Existenz und seines Auftrags entspricht Israel aber nur, wenn es nicht nur als Summe privater einzelner, sondern eben als Volk antwortet. Die Treue des Volkes zu Gott setzt sich fort in der Treue und Verlässlichkeit zwischen Volksgenossen und Volksgenossen, in der Weise, wie der eine zum anderen steht und sich für den anderen mitverantwortlich weiß. Deshalb [55] sind die Eltern zu ehren, deshalb ist das Leben des Nächsten zu achten, deshalb muß die eheliche Treue gewahrt, das Hab und Gut des Nächsten respektiert werden, deshalb muß man sich aufs Zeugnis eines jeden verlassen können, deshalb sind Rechte, Familie, Güter des anderen unantastbar. Im Miteinander des Volkes muß die Bundestreue zwischen Gott und dem Volk sich widerspiegeln, sich fortsetzen, greifbar und offenbar werden für die Völker im Umkreis – das Verhältnis zum Nächsten strahlt über die bloße Gegenseitigkeit, über die Grenzen des eigenen Volkes hinaus, grundsätzlich ist die „Volks“-ethik offen in die menschheitliche Dimension hinein (vgl. zum bisherigen besonders Ex 19 u. 20; Dtn 5 u. 6).

Die „Ethik“ des Alten Testamentes, das, was sich in den 10 Geboten ausspricht, ist also Antwort auf Gottes die Existenz Israels gründende und haltende Tat, ist Vollzug der Existenz des Volkes und seines heilsgeschichtlichen Auftrages. Immer wieder steht dies in der Gefahr, in frommer Geschäftigkeit und unfrommer Untreue überwuchert, vergessen, verfälscht zu werden. Es ist die Stoßrichtung der prophetischen Verkündigung, auf diesen zentralen Lebensgrund Israels hinzuweisen.

Besonders eindrücklich geschieht das etwa beim Propheten Micha. Gott nimmt die Angebote der Opfer nicht an, die das untreu gewordene Volk zur Versöhnung ihm anbietet. Jahwe faßt unzweideutig seinen Willen und damit die Chance zum neuen Anfang so: „Eines nur ist von dir verlangt: nichts als Recht tun und die Güte lieben und in Demut wandern mit deinem Gott“ (Mich 6,8). Es ist geradezu ein Hauptzug prophetischen Bemühens, das Ausweichen auf die bloß kultische Anerkennung Gottes zu unterlaufen durch die hartnäckige Forderung, das Verhältnis zu Gott zu bewähren im Verhältnis zum Nächsten.

Es liegt in der inneren Logik der Botschaft Jesu von der herannahenden Gottesherrschaft, daß er diesen Akzent wieder aufgreift. Gott, Gott allein, dies ist bestimmt das Erste, ja wir dürfen sagen: im Sinne Jesu das Ganze! Aber Gott allein, das ist das genaue Gegenteil eines bloßen „Sektorengottes“. Denn Gott hat ja nicht mehr irgendwo nur einen Sektor des Horizonts für sich in Beschlag ge- [56] nommen, jenseits dessen er thront und von dem her er seine Wohltaten sendet; nein, er bricht auf, er rückt in die Mitte unseres Daseins, alles ist sein Strahlungsbereich. Und so kann ich Gott nicht lieben, wenn ich nicht auch die liebe, die er liebt, und das liebe, was er liebt. Wo alles auf Gott allein ankommt, da kommt es auf den Menschen und auf die Welt an. Gott über alles lieben und alles in Gott, dies sind die beiden untrennbaren Seiten desselben.

Zum Grundbestand der ersten drei Evangelien gehört Jesu Betonung des Hauptgebotes: Gottesliebe aus ganzem Herzen, und als zweites, das denselben und davon untrennbaren Rang einnimmt, Liebe zum Nächsten (Mt 22,34–40; Mk 12 28–31; Lk 10,25–28). Beachtenswert dabei der jeweils besondere Akzent: Bei Matthäus gibt Jesus selbst die Antwort auf die Frage nach dem größten Gebot; er ist es, der unterstreicht, daß das zweite dem ersten gleich ist. Bei Markus sind es Jesus und der die Frage stellende Gesetzeslehrer, die sich in der einen Antwort treffen. Anlaß für Jesus, dem Gesetzeslehrer zu bescheinigen, er sei nicht fern vom Reich Gottes. Hauptgebot und Gottesherrschaft hängen unmittelbar zusammen. Bei Lukas wird der Dialog mit dem Gesetzeslehrer, der seinerseits von Jesus zur Antwort herausgefordert wird, weitergesponnen. Die Rückfrage „Wer ist mein Nächster?“ gibt Jesus Anlaß, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu erzählen (Lk 10,25–37). Dies entspricht dem Blick des Lukas über Israel hinaus, auf die gesamte Menschheit. Diese Hinsicht liegt in der Gesamtrichtung der Verkündigung Jesu und verstärkt einen Akzent alttestamentlicher Botschaft.

Grundlage der Ethik Jesu ist also die auf ihre Mitte konzentrierte und in die menschheitliche Dimension geöffnete – sagen wir es einmal so – Bundesethik des Alten Testamentes: ein ganzes Ja zum ganzen Gott und deswegen ein Ja genauso zum anderen wie zu mir selbst, weil zu uns beiden der eine und selbe Gott sein Ja sagt. Die neue Nähe und neue Universalität dieses göttlichen Ja zum Menschen, das ist Kennzeichen der Situation der Gottesherrschaft, die nicht die Situation des Alten Bundes aufhebt, sondern eben verdichtet, erfüllt.