Volk Gottes auf dem Weg
Der Dienst des Amtes am Wort
Das Wort ist der ganzen Kirche gegeben. Jeder einzelne in der Kirche hat Verantwortung fürs Wort; denn dieses Wort ist Wort an ihn persönlich und ist Wort, das durch ihn persönlich bezeugt, weitergegeben, bewahrt, übersetzt werden will. Gerade dies aber macht es von [14] innen her erforderlich, daß es einen besonderen Dienst der Einheit des Wortes in der gesamten Kirche gibt.
Das Wort ist den Aposteln übertragen worden; sie sind die bevollmächtigten Zeugen, auf denen der Glaube der Kirche ruht. Sie haben das Wort weitergegeben, doch in dieser Weitergabe haben sie auch den Dienst an der Einheit des Wortes in der Kirche weitergegeben; denn ohne diese Einheit wäre das Wort nicht das Wort und die Kirche nicht die Kirche. Nur indem die vielen Stimmen in ihr, in ihrer Vielheit und Verschiedenartigkeit übereinstimmen ins Wort hinein, geht dieses Wort nicht unter im Stimmengewirr, sondern wird es vernehmlich, deutlich und hörbar für die Welt. Der Dienst des Amtes am Wort ist der Dienst dieser Einheit. Er ist nicht der einzige Dienst am Wort, aber er ist der einende Dienst am Wort; und daher kann das Amt sein Dienst am Wort nicht nur Produkt der vielen Stimmen sein, die es in der Kirche gibt, sondern es muß unmittelbar ins Wort und seine Tradition hineinhören, hat eine unmittelbare und unersetzlich eigene Gabe für die Einheit der vielen Stimmen im Wort. Gleichwohl ist auch dieser Dienst ein Übersetzerdienst; und so hat er sich nicht nur am Woher, sondern auch am Wohin der Übersetzung zu orientieren. Das Amt hat hineinzuhören in die vielen Stimmen der Kirche, ist auch auf sie angewiesen. Gerade in diesem doppelten Hören, im Hören auf die vielen Stimmen in der Kirche und zugleich und zuvor und darin im Hören auf das eine Wort wird seine Gabe für die Kirche vollendet.
Die Konsequenz ist deutlich: Es gibt um des Wortes willen, um „meines“ Wortes willen, das nur dann das meine ist, wenn es das eine, das Wort für alle ist, die Pflicht des Gehorsams in der Kirche. Dieser Gehorsam aber ist kein Ersatz fürs Selber-Hören und Selber-Reden, sondern das Maßnehmen an der Einheit und auf die Einheit hin. Gewiß bringt das Spannungen mit sich, die Spannung zwischen meiner Gabe und der Gabe der anderen, zwischen meiner Gabe und dem Maß für alle und also auch für mich. Doch jede Gabe steht unter dem Gesetz des Wortes, will sagen, unter dem Gesetz der „Tradition“, das heißt des Sich-Drangebens. Wer in seine eigene Gabe verliebt ist, der verliert sich an sie und nicht an das Wort, das in ihr sprechen will. Auch die Kirche von morgen wird das Amt und die Einheit und den Gehorsam brauchen. Sie braucht aber auch meine Freiheit, meinen Mut, mein Hören und meine Sprache. Sie wird also die Spannung kennen, doch die ausgehaltene Spannung ist die Spannung dessen, der uns am Kreuz ausgehalten hat. In dieser Spannung lebt gerade er, lebt das Wort.
Als Jesus am Kreuz den 21. Psalm, den Psalm der „Gottverlassenheit“ betete, war das mehr als ein „Zitat“. Er übernahm die Fremde [15] und Ferne des schuldigen Menschen vor Gott, und er übernahm zugleich den heiligen und unbedingten Willen des Vaters. Zwischen beiden war er ausgespannt, beides lebte zugleich in ihm und gerade so wurde er der „Friede“ (vgl. Eph 2,11–18). Indem Jesus aber die Spannung zwischen dem Vater und der vom Vater getrennten Menschheit übernahm, übernahm er zugleich die Spannung zwischen allem Menschlichen, zwischen allen Gegensätzen, die unter Menschen sind. Juden und Heiden, Schwache und Starke, Ferne und Nahe, alle sind geliebt in derselben Liebe, die sich für alle dahingegeben hat. So verweist das Neue Testament immer wieder auf den alle in die Liebe Gottes hineinziehenden, allen sich schenkenden Tod Jesu am Kreuz, wo es dazu ermahnt, aus den vielfältigen Spannungen der ersten Gemeinden die Einheit in Liebe aufzuerbauen (vgl. z. B. Röm 14,1–15,13; 1 Kor 1,10–17; 1 Kor 8; Eph 5,1–2; Phil 2,1–11). Gerade in der heutigen Pluralität der Meinungen, der Traditionen, aber auch der Gaben Gottes in der Kirche tut dieses Aushalten der Spannungen not, ist es der Weg zur inneren Einheit im Glauben.