Das Haus des barmherzigen Vaters

Der Dom

Nicht nur die Kinder, die ihn malten, sondern auch jeder von uns hat sein Bild vom Kölner Dom. In vielen Begegnungen wächst dieses Bild, und vielleicht wären wir betroffen, wenn wir es plötzlich aufzeichnen oder benennen sollten.

Ich habe mich nach meinem Dombild gefragt und ich habe mich dafür entschieden, daß mein Dombild jenes vom anderen Ufer her sei. Wenn man vom anderen Ufer diesen Dom sieht mit seinen Türmen und mit seinem Chor, dann kommt man gerne über die Brücke.

Das habe ich ungezählte Male so erfahren, als ich in Bochum Professor war und nach Bonn, wo ich damals wohnte, heimkehrte. Ich bin immer gerne über den Strom gefahren auf diesen Dom zu. Es ist nicht nur ein äußerlich einladendes Bild, sondern mir birgt sich darin eine menschliche Grunderfahrung.

Wir alle stehen an Strömen, die man nicht einfach überqueren kann. Wir alle stehen an Grenzen und wollen uns diesseits der Grenzen einrichten, aber wir müssen über die Grenzen, über die Ströme, wir müssen den Mut haben, auf die andere Seite zu gehen. Aber die andere Seite lädt nur ein, wenn dort ein Haus steht, das mehr ist, grö-[14]ßer und erhabener als bloß „mein“ Haus, und wenn dieses Haus zugleich doch meines ist. Haus eines Anderen – und mein Haus: So kann man über den Strom.

Ja, vielleicht ist das ein Bild für Erlösung: Über jedem Strom steht ein Haus, sein Haus, mein Haus. Und eigentlich kann ich auch nur diesseits des Stroms leben, wenn ich drüben ein Haus habe. Ich kann nicht leben, wenn die Aussicht nur ins Leere und Wesenlose geht, wenn ich auf eine Grenze treffe, hinter der nichts ist. Vielleicht schaffe und werke ich dann viel und tue alles mögliche, um es mir da diesseits annehmlich zu machen, aber ich versperre mich dabei, ziehe mich zurück in mich selbst. Ich kann nicht heraus aus dem Getto, wenn nicht Aussicht ist nach drüben auf das, was größer ist und mich doch trägt und auffängt. Ich kann nur über den Strom und ich kann nur diesseits des Stroms leben, wenn auf der anderen Seite ein Haus steht: sein Haus, mein Haus.

Das gilt zumal für die letzte Grenze, für jene Grenze des Todes, über die jeder von uns hinweg muß und bei der wir es uns oft so scheinbar leicht machen, indem wir sie hinwegdiskutieren und sagen, sie mache uns nichts aus. Wir sind ratlos vor ihr, aber vielleicht gerade deshalb ratlos, weil wir [15] eben die Aussicht zugebaut haben, auf jenen Dom, der auf der anderen Seite uns erwartet.

Doch der Tod ist nicht die einzige Grenze. Wir müssen uns einmal konkret angesichts aller Grenzen, an die wir stoßen, diesen Satz ins Gedächtnis rufen: Auf der anderen Seite lädt sein Haus und mein Haus mich ein. Auch an der Grenze der Schuld; ich kann mit dieser Schuld nicht so weiterleben wollen, ich kann nicht schuldig sein wollen, ich kann nicht in Widerspruch leben wollen zu mir selber. Aber ich kann meine Schuld annehmen; auf der anderen Seite dieser Grenze wartet sein Haus, das mich aufnimmt und mir neuen Anfang schenkt.

Vielleicht ist es sehr oft auch einfach der andere, der nebendran, der wie jenseits einer Grenze steht, ja der mir eine Grenze ist. Ich kann es ganz gut mit ihm, ich stehe in vielen Bezügen zu ihm, und es scheint da keine Probleme zu geben; aber ich bin dennoch einsam, ich komme nicht an ihn selbst heran und bleibe so schrecklich allein. Bis mir der Glaube die Augen öffnet: Auf der anderen Seite steht ein Haus, das Haus Gottes und deswegen Haus für mich. Weil du mein Bruder bist, weil du meine Schwester bist, weil Gott in dir wohnen kann und wohnen will, kann auch ich bei dir wohnen und bei dir ankommen.

[16] Manchmal treffe ich auf einen anderen sehr tiefen Grenzfluß, der kaum zu überschreiten ist: Es ist der Spiegel, in dem ich mein eigenes Antlitz sehe. „In welchem Spiegel bin ich verlorengegangen?“, fragt ein Dichter. In der Tat, wir gehen verloren in den Spiegeln dieser Welt. Uns aushalten müssen, uns entschließen müssen zu uns selbst, uns annehmen müssen: wie schwer ist das! Aber wenn ich über diesen Strom des unsichtbaren Spiegelglases hinweg hineinschaue in mich, dann gilt wiederum: In mir wartet sein Haus auf mich, und ich darf darin wohnen, ich bin adoptiert und angenommen von ihm, dem großen Anderen. Und deswegen kann auch ich ja sagen zu mir, kann ich ich selber sein wollen.

So geht Erlösung, daß Gott mich auf der anderen Seite des Todes erwartet, auf der anderen Seite der hundert und tausend Grenzen von Schuld, von Du und Ich und Gesellschaft, von Leben und Aufgaben und allem, wovor ich Angst habe. Wir sind erlöst, weil jener Dom uns am anderen Ufer erwartet, der sein und mein Haus ist.