Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Der doppelte Aspekt der Potenzen in Gottes Beziehung aufs Andere

Die Urmöglichkeit, welche die erste Potenz Gott darstellt, ist in Schellings Gedanke die „Mitte“, welche Gott der Schöpfung, des willentlichen Setzens seines Anderen, mächtig und dieses Andere [272] nicht Produkt eines unvermeidlichen und somit bloß emanativen Prozesses sein läßt1. In der ersten Potenz, als dem „Verstand“2, der Voraussicht, der alles eröffnenden und lichtenden „Weisheit“3, ersieht er zugleich „alle möglichen Stellungen der Potenzen gegeneinander, und daher die ganze Folge der einst möglichen Bildungen, das Vorspiel der ganzen künftigen Welt“4.

In diesem Sehen sieht er aber ein Doppeltes, die sehenlassende Mitte hat und erleuchtet zwei Seiten ihrer selbst, und in ihrer Unterscheidung ist eben die Freiheit Gottes ihm offenbar und sind die sie durchführenden und bewährenden Prozesse verknotet.

Gott sieht sich als die unaufhebbare Voraussetzung, als das unzerstörbare Woher und Wohin des Prozesses der Potenzen, er sieht seine Selbstbewährung als Prinzip in ihrem möglichen Ursachewerden und sogar in ihrer Umkehrung durchs seingelassene Andere gegen ihn. Er bleibt ihrer Herr, bleibt derselbe und ist durch sie als seine über ihnen bleibende Selbigkeit mit sich selbst und somit als der bleibende Angelpunkt ihres Zusammengehörens gelichtet. Er sieht aber nicht nur sich als „diesseits“ des möglichen Prozesses der Potenzen bleibend, als seine eigene Einheit mit sich und ihre in ihm bleibende Einheit miteinander, sondern sieht auch ihre Spannung unmittelbar gegeneinander aufgrund der Erregung der Urmöglichkeit zu sich selbst, ihrer Erhebung ins Sein, die sie insgesamt potentialisiert5.

Gott selbst bleibt also „draußen“ aus dem Prozeß der Schöpfung, wenn er sich zu ihm entschließt, er geht nicht unmittelbar ins Spiel der Ursachen ein, sondern bleibt die dieses Spiel veranlassende „causa causarum“6. „Gott existiert in der Spannung und Zertrennung der Potenzen nicht weniger als in der Einheit.

Die Potenzen haben so selbst eine doppelte Wirklichkeit in dem das Andere verwirklichenden Prozeß ihrer selbst:

  1. Sie bleiben Gottes, in der Hand Gottes, bleiben das, was Gott ist, er selbst ist über ihnen und in ihnen: der, der sie ist, und das heißt: mit ihnen eins als von ihnen verschieden ist.

  2. [273] Sie werden zugleich von Gott aus sich heraus- und von ihm weggewandt. Als die wirkenden Mächte des Anderen gewinnen sie eine „Außenseite“, eine eigene Kontur Gott gegenüber 7 – wir kennen bereits ihre je eigene Physiognomie verschiedener Ursächlichkeit aus der Darstellung ihres Prozesses in der negativen Philosophie.

Sie werden so das Verbergende Gottes, seine Verstellung, werden es freilich so, daß sie in dieser ihrer eigenen Aktivität doch nur „dasselbe“ erzeugen, was sie sind, was also Gott ist, sie restituieren Gott im Anderen, setzen im Endeffekt den Menschen als den „wiederhergestellten vollkommenen Geist“ und treten in ihm wieder in die Einheit ihres Innen und Außen zurück, nehmen ihr Außen wieder hinein in das, was sie von Gott her und für Gott sind, was Gott selbst ist8. Sie sind so der „Vollzug“ seines Selbstseins als Seins von sich her und von sich weg: sie sind das „Wegsein“ Gottes, seine Verfremdung, Äußerlichkeit, Ent-Äußerung, und sind gerade so seine Offenbarung und Offenbarkeit.


  1. Vgl. XIII 292. ↩︎

  2. S. XIII 296/98. ↩︎

  3. Vgl. XIII 293–303 im Ganzen. ↩︎

  4. XIII 293. ↩︎

  5. Vgl. bes. XIII 280/81. ↩︎

  6. Vgl. XIII 292. ↩︎

  7. Vgl. XIII 283. ↩︎

  8. Vgl. XIII 383/84; zum Ganzen auch XIII 304/5. ↩︎