Das Haus des barmherzigen Vaters

Der Erlöser

Doch die Spannung zwischen Ich und Du und Wir hat noch eine andere, schier noch bedrängendere Seite: Ich komme nicht mehr über mich hinaus, finde die anderen nicht mehr. Ich kann den Weg zu den anderen nicht mehr gehen und komme bei den anderen nicht mehr an. Ich bleibe, auch wenn ich andauernd und massenhaft in „Kommunikation“ bin, in mir selber als einsames Ich eingesperrt. Die Welt ist voller Worte, aber alle Worte und manchmal am meisten leider die Dialoge sind nur synchronisierte Monologe. Wie mich finden? Wie dich finden? Wie das Wir und das Du finden? Das ist die Not.

Und hier sagt nun in einem scheinbar sehr theoretischen Gedanken der Philosoph Wojtyla, es müsse das gemeinsame Gute geben, in dem ich mich ganz finden kann mit meiner Würde, mit meinem Anspruch, mit meiner Sehnsucht nach unbedingter Erfüllung – aber ich müßte in dem-[32]selben Guten dich finden, den anderen und alle finden. Oder umgekehrt: Ich müßte jenes Gute finden, jenen Wert, jene Ordnung, die allen gemeinsam sind, aber nicht so, daß der eine den anderen überflügelt und zurückdrängt und der eine auf Kosten des anderen sich verliert. Vielmehr müßte es jenes Gut sein, das zugleich mich ganz aufhebt und aufnimmt und alle anderen dazu. Selbstverwirklichung in der reinen Offenheit, die anderen zu verwirklichen, und umgekehrt. Wo ist dieses Gut?

Gehen wir dem zunächst nach und lösen erst im Rückstoß alsdann die andere Frage wieder ein, die Frage nach der Erlösung von der Sünde.

Wo lebt dieses Gut, wo ist dieser vereinende Punkt? Von ihm spricht Papst Johannes Paul II., indem er vom Redemptor Hominis, vom Erlöser des Menschen, spricht. Ich darf die Grundstruktur dieser Enzyklika auf das Einfachste verkürzen, auf nur ganz weniges hinweisen. Mir scheint, daß diese Enzyklika mit ihren Grundaussagen ins Herz der Fragen unserer Situation trifft wie kaum ein anderes Dokument unserer Epoche. Versuchen wir, sie auf unsere Fragestellung hin zu lesen. Es gibt einen, der mich, wirklich mich, mein persönliches Schicksal, angenommen hat und mich trägt. Wenn ich in sein Antlitz schaue, [33] dann finde ich mein Antlitz wieder. Aber indem ich mein Antlitz finde, finde ich auch das deine. Ich kann nicht ihm ins Antlitz geschaut haben und dann dein Antlitz wegschieben. Das geht nicht! Du bist drinnen, drinnen in ihm. Er ist für dich Mensch geworden; er nimmt gewissermaßen das Schicksal und das Antlitz eines jeden Menschen in sich selbst hinein. Irgendwo bin ich ganz da: im Spiegel seines Antlitzes. Und du bist irgendwo ganz da, an derselben Stelle wie ich: im Spiegel seines Antlitzes. Alle, auch die Fremden und die Fernen und die ganz anderen, sind hier als sie selbst angenommen und gegenwärtig: in seinem Antlitz. Der Weg Gottes, der Weg der Erlösung ist der Mensch. Jener Mensch, der in seinem einzelnen und einzigen Menschsein sozusagen die ganze, die ganz und gar angenommene Menschheit „ist“ und doch – deswegen ist ja die Menschheit angenommen – ein Mensch mit einem Menschenschicksal: Jesus Christus.

Wie geht das? Wie kann einer so Mensch sein, daß wir wirklich in ihm sind und in ihm wirklich herausgerissen aus unserer Entfremdung?

Es geht nur, indem dieser Eine eben nicht nur Mensch ist, sondern zugleich der Schöpfer des Menschen, der gleichwesentliche ewige Sohn Gottes. Gott selbst hat sich in ihm geöffnet und [34] gegeben und „ausgeschüttet“ in unser Mensch-sein. Wenn Jesus Christus nur ein edler Mensch ist, dann bleibt er ein Vorbild und läßt uns allein. Dann öffnet er uns eine Straße für etwas, das wir aus uns selber zu tun und zu erreichen haben, dann bleiben wir mit unserer Misere letztlich allein. Der Spiegel, in den ich hineinschaue, hätte mich trotzdem aufgeschluckt. Nur dann bin ich wirklich da, wenn ich da bin in seinem Menschsein, welches das Menschsein des sich verschenkenden Gottes ist. Ginge es uns doch auf, daß das nicht die Engstirnigkeit von ein paar konservativen Theologen ist und von ein paar Kirchenmännern, die sich auf eine theologische Formel fixieren! Wir müssen um des Menschen willen festhalten an diesem Bekenntnis zu Jesus Christus, der ungetrennt und unvermischt göttliche und menschliche Natur in seiner einen Person zusammenhält. Daß wir es doch erkennten, daß nur hier wirklich der Mensch da ist. Gott ist der in Jesus verschenkte Gott, der im Menschen auf uns zukommt/und der Mensch ist der angenommene Mensch, der im Sohn Gottes in alle Ewigkeit lebt. Das ist Erlösung: Ich finde Gott, ich finde dich, ich finde alle, ich finde mich, ich finde die Welt.

Meine Schuld brauche ich nicht mehr zu verdrängen. Jetzt sehen wir es: sie ist angenommen, [35] und ich brauche nicht mehr selbstmächtig den neuen Anfang zu machen. Gott ist es, in dem ich lebe. Er, der mich vom Nullpunkt an geschaffen hat, schenkt mir den neuen Anfang vom Nullpunkt aus. Hier sind wir erlöst. Und wenn wir wirklich in ihm uns finden, dann können wir den Mut haben, uns wieder als Sünder anzuerkennen. Dann sind wir auch entkrampft vom Wahn des bloßen Ich und der bloßen Determination, befreit dazu, wahrhaft weinen zu können über unsere Schuld, uns beugen zu können unter seine Vergebung, demütig seine Ordnung annehmen zu können und gerade darin uns selbst zu entdecken als zur Freiheit befreite Menschen. Dann ist auch Kommunikation möglich. Ich kann wirklich ganz ja zu dir sagen; denn einer hat mit seinem Blut zu dir ja gesagt. Wir gehören zusammen. Wir gehören zusammen mit der ganzen Welt, wir sind erlöst zum Kosmos und zur Geschichte. Der erste Satz der Enzyklika lautet: „Jesus Christus, der Erlöser des Menschen, ist die Mitte des Weltalls und der Geschichte.“

Wo, an welchem Punkt begibt sich dies? Nicht irgendwo in einem triumphalen Schauspiel, in dem alles wunderbar stimmt – aber wir, bei denen es nicht stimmt, bleiben draußen. Nicht irgendwo in einem spekulativen Gedankenge-[36]bäude, das fasziniert und alles integriert – aber man kann nicht damit leben. Es begibt sich vielmehr in jenem Leiden bis zum Äußersten, in dem jedes einzelnen Menschen Gottverlassenheit angenommen und ausgelitten und hineingeschrien ist vom Sohn Gottes ins Herz des Vaters.