Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Der „göttliche“Akt Gottes: Sein bei der Möglichkeit des Anderen
Wenn der Begriff der Freiheit und Göttlichkeit Gottes von der „Möglichkeit“, von den „Potenzen“ her bzw. auf sie zu gewonnen wird, bleibt er indessen einer eigentümlichen Ambivalenz verhaftet.
Wie ernst es Schelling mit den Potenzen als Potenzen der Freiheit Gottes meint, erhellt nochmals an seinem Gedanken zum Motiv der Schöpfung1. Gott braucht die Wirklichkeit des Anderen nicht, braucht die Schöpfung also nicht, um er selbst, um Gott zu sein. Zugegeben selbst, daß Gott eine „vox relativa“2 ist, daß die Göttlichkeit Gottes Herrschaft über sein Anderes bedeutet, so ist er doch nicht erst angesichts einer verwirklichten Möglichkeit seines Anderen dessen Herr, sondern bereits angesichts dieser Möglichkeit selbst, an welcher er seine Freiheit zum und vom Anderen und somit seine Herrschaft ersieht, „er ist schon wirklich Gott als Herr der bloßen Potenzen, und würde als der eine Welt setzen könnende Gott sein, wenn auch nie ein Welt existierte, d. h. wenn er jene Potenzen auf immer als Möglichkeiten bei sich behielte“3.
So ist die Schöpfung für Gott keine Notwendigkeit, sie ist nur die „überflüssige“ Bestätigung seiner Herrschaft des Seins, ist – zumal in ihrer konkreten Geschichte, als freigegeben an ihren Fall und eingeholt in ihre Versöhnung – der Triumph der Freiheit Gottes von sich selbst, aber dieser Triumph selbst hat seinen Sinn nicht in ihm, sondern in dem, woran er sich und wofür er sich ereignet: am Sein und für das Sein seines Anderen selbst. „Das wahre Motiv des Herausgehens wäre also die Schöpfung.“4
[261] Indem Schelling den göttlichen Gott denken will, will er die Liebe Gottes denken, seine lautere Zukehr zum Geschöpf, will er den Gott der Gnade, der ungeschuldeten Huld denken5.
Das Mittel, dies zu denken, ist ihm indessen wiederum die erste Potenz, ist ihm die Möglichkeit des Anderen, welche sich unversehens in ihr, im An-sich seines Wesens einstellt.
Das An-sich Gottes ist seine, ist Gottes eigene Lichtung, die ihn jedoch sich selbst erst darin lichtet, daß sie ihm „unversehens“ das Andere als möglich ein- und zufallen läßt. Dieser Ein- und Zufall des Anderen ist im reinen An-sich Gottes verborgen, als welches die erste Potenz eben gerade nicht Potenz, sondern bloße Gestalt des actus purissimus selbst ist. Dieser actus purissimus, das verzehrende bloße Selbstsein, ist nun aber durch den Einfall des Anderen, durch die im An-sich geborgene Potentialität unterbrochen zur Freiheit, und so ist Gottes göttlicher Akt, seine ihn als Gott konstituierende Beschäftigung nicht die νόησις νοήσεως als bloßes Sich-Denken, sondern die Hinwendung zur ersten Potenz als Potenz, zu dem in ihr vorgestellten Anderen:
„Darum also ist ihm jene erste Möglichkeit, jene potentia prima, die der Anfang zu allen anderen Möglichkeiten ist, so willkommen; denn nicht nur setzt sie ihn gegen die Notwendigkeit seines alles verzehrenden, d. h. kein Außereinander und keine Unterscheidung zulassenden, Seins in Freiheit, sondern es kommt auch durch sie zuerst Erkenntnis in Gott, … ja, wenn die Frage entsteht, womit Gott von Ewigkeit sich beschäftigt, so kann man darauf nur antworten: eben jene potentia prima war von Ewigkeit der einzige Gegenstand seiner Beschäftigung, seiner Lust.“6