Unser Lebensraum – der dreifaltige Gott

Der ganz und gar neue Gott

Als Theologe könnte man fragen: „Ist das wirklich der Höhepunkt des Leidens Jesu?“ Mit dieser Frage habe ich mich oft auseinandergesetzt und bin zu dem Schluß gekommen, sie leidenschaftlich mit Ja zu beantworten. Ich will den Grund nur andeuten. Daß Gott in Jesus dort hingeht, wo Gott gerade nicht mehr ist, daß Gott sich in Jesus die Abwesenheit Gottes bei den Menschen zu eigen macht, daß seine Liebe bis dahin geht, daß er, um mit Paulus zu sprechen, für uns zur „Sünde“ und zum „Fluch“ wird (Gal 3,13; 2 Kor 5,21) – dies ist die Neuigkeit schlechthin der Gotteserfahrung Chiaras. Es ist tatsächlich keine größere Verrücktheit der Liebe denkbar, als die Ferne von Gott zu teilen und mitzuleben aus Liebe zu denen, die ihm fern sind – und wenn es aus eigener Schuld wäre. Das geht weit hinaus [23] über eine Theologie, die nur von Wahrheiten und Geboten handelt. Davon will ich nichts wegnehmen. Aber hier ist etwas anderes: Es ist der ganz und gar neue Gott. Deshalb gibt es für Chiara und die Ihren nach dieser Entdeckung nichts Wichtigeres, als das beständige Suchen dieses schmerzerfüllten Antlitzes.

In jedem Schmerz in uns und außer uns, jeder Gottesdunkelheit in uns und außer uns, jedem Nichtverstehen Gottes, jedem Fremdsein diesem Gott gegenüber begegnen wir deshalb dem, der uns in seiner Verlassenheit ganz und gar angenommen hat. Wenn wir uns darauf mit unserem ganzen Leben einlassen, dann haben wir die größtmögliche und abgründigste Gotteserfahrung überhaupt. Sie ist nicht steigerbar. Das ist keine Gedankenkonstruktion. Das erfahre ich nur, wenn ich mich andauernd in diese Realität hineinziehen lasse. So entdecke ich den „Deus semper maior“, den Gott, der immer größer ist. Nur, wenn ich Jesus in seiner Gottverlassenheit erfahre und erkenne, kann ich mich auch radikal an diesen Gott ausliefern und seine Zuneigung zu den Menschen und zur Welt teilen. Wenn ich in diesen Abgrund der Gottverlassenheit hinein das „Abba, Vater“ nachspreche, habe ich das Letzte erreicht. Wenn ich in diese Abwesenheit Gottes hineingehe, sie aushalte ohne jede Absicherung, mich Gott restlos ausliefere, dann ist die Herrschaft Gottes da. An diesem Punkt haben wir, glaube ich, all die Realitäten eingeholt, die uns als Seligkeit, Geschenk, Wunder begegnet sind. Zugleich werden wir zu jenen, die in den Abgrund Gottes und der Menschheit und in die Seligkeit Gottes und der Menschheit hineingegeben sind, die mit Jesus zu jedem Menschen sagen können: „Ich stehe zu dir und trage deine Last.“

Ich sehe in dieser Entdeckung Chiara Lubichs ein Geschenk nicht nur für alle, die als Christen leben wollen, sondern auch für die Theologie. Meines Wissens hat nirgendwo die Einheit aller Glaubenden, die in den johanneischen Abschiedsreden zum Ausdruck kommt, und gleichsam die Zusammenfassung all dessen ist, was Gott von uns will, eine solche Tiefe und Radikalität erreicht wie bei ihr. Aber diese Einheit enthält in sich sowohl das Leben der Dreifaltigkeit als auch die Gottverlassenheit Jesu. Damit ist ein Horizont aufgerissen, den wir auch in der Theologie so nicht gekannt haben, obwohl selbstverständlich auch früher schon Theologen über den einen oder anderen Aspekt dieses Zusammenhangs nachgedacht haben.

Das ist das Interessante: Chiara Lubich hat uns in eine Schule des Lebens genommen, aber diese Lebensschule ist zugleich auch eine Schule für die Theologie. Das Ergebnis ist nicht eine Verbesserung der Theologie, sondern gelebte Theologie aus dem Ursprung der Offenbarung.