Wandlungen des Gottesbildes seit dem II. Vatikanum
Der geistesgeschichtliche Hintergrund nachkonziliarer Gottesbilder
Zwar wirkt in jeder Epoche der zeitgeschichtliche Kontext der Gesellschaft, der Kultur und der Philosophie in Glaube und Theologie hinein; die das Abendland bestimmende Symbiose zwischen Kultur und Christentum hatte sich jedoch in der Zeit nach der Aufklärung und vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts weithin gelöst.1 Gerade die letzten Jahrzehnte und ganz eindeutig die Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil sind hingegen in der Theologie und im allgemeinen Bewußtsein der Gläubigen geprägt von dem neuen Bemühen, die geistigen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die neben Christentum und Kirche herliefen, wieder einzuholen. Der Blick auf die nachkonziliaren Gottesbilder muß so zugleich ein Blick in die säkulare Geistesgeschichte der Neuzeit und ihres gegenwärtigen Erbes sein.
Der Ansatz neuzeitlichen Denkens, am schärfsten markiert durch R. Descartes, ist der Ansatz beim Subjekt. Zunächst heißt das: beim Menschen als Subjekt, der zur Sicherung seiner selbst, seiner Welt und seines Bezuges zur Welt noch Gottes bedurfte, eines Gottes freilich, der zusehends seiner unmittelbar aktiven Rolle enträt und zum von der Geschichte entfernten Garanten der Welt- und Geschichtsabläufe, der sittlichen Normen und [436] Weltordnungen wird. Je radikaler das Denken jedoch seinen Ausgang vom denkenden Ich thematisierte, desto „funktionsloser“ wurde dieser Gott, desto weniger schien er theoretisch sicherbar, desto mehr rückte die unbedingte Subjektivität Gottes und die endliche Subjektivität des Menschen ineins – Gott wurde entweder zur bloßen Projektion des sich selbst vollziehenden Menschen oder der Mensch zum Moment des sich selbst vollziehenden absoluten Geistes.
In die beschriebenen Grundfiguren trugen die großen Gedanken der Geschichte zwar differenzierende Merkmale ein; diese konnten jedoch die gezeichnete Dynamik des Verschwindens Gottes im Menschen oder des Verschwindens beider in einer allgemeinen Subjektivität nicht aufhalten.
Der Gang neuzeitlichen Geistes blieb kein leeres Gedankenspiel. Er materialisierte sich sozusagen in einer Gesellschaft, die zum universalen und totalen Subjekt ihres Lebens und allen Lebens wurde, die in Technik und Wirtschaft die Welt nicht nur gestaltete, sondern mehr und mehr „produzierte“. Machbarkeit von Welt und Zukunft sind, wenn auch vielfältig vermittelt, Endprodukte des neuzeitlichen Ansatzes bei der Subjektivität.2
Die Situation, in welcher sich heute die Frage nach Gott und das Sprechen von Gott aufgrund der geschichtlichen Voraussetzungen befinden, zeigt drei scheinbar gegensätzliche Ausprägungen: a) Die Frage nach Gott verschwindet, tritt im allgemeinen Bewußtsein zurück. b) Das Sprechen von Gott formuliert sich neu angesichts der es in Frage stellenden Tendenzen, greift sie auf und versucht sie zu integrieren. c) Im Gegenstoß gegen die herrschenden Tendenzen bricht ein neues Interesse an der Gottesfrage, ein neuer Hunger nach Unmittelbarkeit zu Gott auf.
Daß die Gottesfrage gegenstandslos und uninteressant sei, daß wir in einem nachtheistischen Zeitalter leben, ist eine immer breitere Meinung. Sie kann umso leichter um sich greifen, als die innere Struktur der pluralistischen Gesellschaft Gott als soziale Prämisse oder Hypothese verzichtbar macht: Das Prinzip der Gesellschaft, das sie in Gang hält, organisiert und normiert, ist das der Funktion, Gott aber ist zum Funktionieren der Gesellschaft und zur Funktionstüchtigkeit der einzelnen in ihr nicht unentbehrlich; die Fixierung des Funktionierens als Leitwert läßt es offen, ob und wie der einzelne sein Bedürfnis nach Sinngebung des Ganzen befriedigt – Gottesglaube wird eine der duldbaren Möglichkeiten, wie der Mensch sich und seine Welt interpretiert.
Es ist kennzeichnend, daß – im Gegensatz zu früheren Epochen – die Reaktion innerhalb der Theologie, aber auch innerhalb der Glaubensverkündigung auf die Fakten und Gedanken, die den Gottesglauben in Frage stellen, weniger antithetisch und polemisch ausfallen; vielmehr bemüht man sich entweder [438] darum, den Kern des Gottesglaubens als nicht betroffen von der Kritik zu erklären oder dieser Kritik positive Möglichkeiten für die Interpretation der Gottesfrage und des Gottesglaubens abzugewinnen. Im Grundsatz entspricht dies gewiß den Impulsen des II. Vatikanums; das entbindet freilich nicht von der Pflicht, das Eigene und Ärgerliche des Gottesglaubens dort zu wahren und zur Sprache zu bringen, wo dies gefordert ist, und das gerade auch um des Dialogs willen, in dem der Partner ernst genommen sein will und der die Position des anderen Partners ernst nehmen will.
Das Vordringen der Wissenschaftlichkeit und ihres immanent positivistischen Ansatzes, der nicht notwendig eine positivistische Philosophie impliziert, hat im Sprechen von Gott seitens der Christen verschiedene Reaktionen gefunden. Eine davon ist die dringend notwendige Scheidung der Ordnungen – Gott läßt sich nicht naturwissenschaftlich, sein Handeln nicht einfachhin historisch beweisen, die Ursächlichkeit Gottes ist anderer Art als das Wirken der causae secundae und kein Ersatz für sie. Andere, nicht unproblematische Versuche sind das Comeback eines „deistischen“ Gottesbildes, das Gott seiner konkreten Geschichts- und Handlungsmacht entkleidet und einen über allgemeine Normen hinausgehenden Willen Gottes nicht mehr zuläßt, oder aber die Zerreißung der Ordnungen, die einer in sich geschlossenen, ja verschlossenen Welt die Dimension des Glaubens als das beziehungslose Andere gegenübersetzt und Gottes Relevanz auf den Binnenraum existentiellen Selbstvollzugs beschränkt. Damit berühren wir bereits die Reaktion auf eine andere Grundströmung des Denkens: auf das Existenzdenken. Auch hier steht die notwendige Restitution einer fides qua, die sich nicht im Fürwahrhalten erschöpft, gegen ein Hineinziehen Gottes in die Selbstanalyse des Daseins, gegen das Streichen aller Inhaltlichkeit des Glaubens. Am stärksten freilich prägte in den letzten Jahren die Konfrontation mit dem Marxismus das theologische Reden über Gott. Dies trifft wenigstens in dem Sinn zu, daß Gesellschaftlichkeit und Zukunft als die Grundbestimmungen menschlicher Existenz erschienen, in deren Horizont auch der Gottesgedanke seinen Ort im Selbstverständnis und Selbstvollzug des Menschen findet. Auch hier bieten sich ebenso Bereicherung und Vertiefung [439] wie Verflüchtigung und Verkennung des unterscheidend Christlichen und somit auch des unterscheidend Göttlichen dar.
Die Situation der Gottesfrage ist indessen heute keineswegs nur „außenbestimmt“, das Interesse an Gott und das Sprechen über Gott sind nicht nur in der Reaktion gegen ursprünglich anders laufende Tendenzen angesiedelt, vielmehr zeigt sich etwas wie eine spontane Zukehr zu dem, was weithin als verschüttet und überholt galt. Freilich steht auch solch neuer Aufbruch nicht jenseits der geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, er ist seinerseits Reaktion gegen einen das Menschsein verkürzenden Gesamtansatz. Einerseits trägt die Bewegung, die das technische Sichselbervermögen in Frage stellt, die Züge des Protests gegen das „System“, gegen die Machbarkeit und Vollendbarkeit des Menschseins aus sich selbst, gegen den Zwang der technologischen Perfektion und des konstruierbaren Fortschritts. Dieser Protest lebt freilich selbst nicht selten aus utopischen Entwürfen einer Zukunft, die wenn nicht in Evolution, so doch im Sprung von unten und innen erreichbar erscheint, einer Zukunft, die zwar im Universalen, Menschheitlichen gesucht wird, ohne daß sie jedoch den Charakter der Leistung und des einsamen Subjekts, diesmal nur der Gesellschaft als solcher, überwindet. Die Apotheose der Zukunft droht das Menschsein hier und jetzt außer sich zu lassen, droht den Sinn, auf den sie sich hinspannt, der Gegenwart je vorzuenthalten, und so kommt es andererseits zu einer neuen Innerlichkeit, zu einem Versuch, den Sinn weltlos im Innen zu erreichen, den das Außen, den die Zukunft doch nicht gewährt. Beides, weltselige, gesellschaftsoptimistische Zukunftserwartung und weltlose, ichversunkene Innerlichkeit umkreisen dasselbe, die Frage nach dem Sinn des Ganzen – und im Sog dieser Sinnfrage kommt auch die Gottesfrage wieder in den Blick. Beides freilich holt sie nicht ohne weiteres ein, da beides in der Analyse und Projektion des eigenen Innen des Menschen stecken zu bleiben droht, ohne die Beziehung zu stiften, in welcher der göttliche Gott zugleich transzendent bleibt und von sich her handelnd und sprechend den Menschen angehen kann. Ein neuer Hunger nach Erfahrung meint diesen handelnden und sprechenden Gott; daß er sich gewährt, kann solcher Hunger freilich nicht bewerkstelligen, und wo er es will, betrügt er sich um sich selbst. So geht es gerade darum, nicht [440] nur dem positivistischen, sondern auch dem enthusiastischen oder immanent-mystischen Erfahrungsbegriff einen anderen gegenüberzusetzen, der die Begegnung mit dem artikuliert, was anders ist als dinghafte Objekterfahrung und immanente Selbsterfahrung.3
-
Vgl. hierzu Welte, Bernhard: Auf der Spur des Ewigen. Philosophische Abhandlungen über verschiedene Gegenstände der Religion und der Theologie, Freiburg i. Br. u. a. 1965, bes. 297–314, 380–409. ↩︎
-
Vgl. Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 13–44.
Als freilich, zumal im Denken Hegels, die Philosophie ihren Ansatz total eingeholt zu haben, ihr Programm geleistet zu haben schien, ereignete sich ein folgenreicher und vielgestaltiger Umbruch. Sozusagen dem Ansatz beim Subjekt verhaftet, aber ihn transponierend, übernahmen sein Erbe auf der einen Seite ein Denken, das die jeweilige Einzelexistenz thematisierte, auf der anderen Seite ein Denken, in dessen Mitte die gesellschaftliche Praxis stand; die Namen Kierkegaard und Marx geben hierfür das Stichwort. Eine ganz anders geartete Folge war die Absage gegen jeden Totalentwurf und Sinnentwurf im Positivismus. Die neuzeitliche Wissenschaft emanzipierte sich von ihren sie philosophisch bedingenden Prämissen, das von ihr aufzuarbeitende Faktum wurde zur beherrschenden Macht; von ihm aus wurde jedes Denken in Frage gestellt, das mehr zu leisten vorgibt oder versucht als die endliche Bewältigung endlicher Tatsachen.
[437] In den vergröbert gezeichneten Tendenzen erschöpft sich nicht alles, was für den Stand gegenwärtigen Bewußtseins in Sachen der Gottesfrage von Belang ist – auf die Wirkungen und Wandlungen des Historismus, auf den Aufbruch eines personalistischen und dialogischen Denkens, auf die Folgen der Lebensphilosophie, vor allem im französischen Raum, müßte reflektiert werden, und die Vermittlung mit den gezeichneten Tendenzen wäre möglich und interessant. Das Interesse des allgemeinen Bewußtseins und der Theologie im letzten Jahrzehnt knüpft indessen vornehmlich bei den oben gezeichneten Entwicklungsschritten und Entwicklungssträngen an. ↩︎
-
Vgl. Spaemann, Robert: Gesichtspunkte der Philosophie, in: Schultz, Hans-Jürgen (Hg.): Wer ist das eigentlich - Gott?, 56–65. ↩︎