Unser Lebensraum – der dreifaltige Gott
Der Gekreuzigte als die Ikone Gottes
Nach dem, was ich bisher geschildert habe, mag sich der Einwand melden: Geht in dieser Gotteserfahrung Chiaras alles glatt, krisenlos, problemlos auf? Ohne etwas von der Faszination ihrer Entdeckung zurückzunehmen, muß ich nun eine Realität nennen, die für sie gewissermaßen die Kehrseite der grundlosen und grenzenlosen Liebe Gottes ist: der am Kreuz in Gottverlassenheit sterbende Jesus. Hier liegt der Schlüssel zur Mitte ihrer Spiritualität. Ja, man muß sagen, die Geschichte der Fokolar-Bewegung ist nichts anderes als die Geschichte einer immer neuen Entdeckung und immer tieferen Durchdringung dieses Geheimnisses, das sich in dem Begriff „Jesus, der Verlassene“ verdichtet.
Bereits in den ersten Wochen des neuen Lebens zeigte sich der verlassene Jesus Chiara und ihren ersten Gefährtinnen als das unerfindliche Ereignis, an dem sich alles entscheidet. Die Gewißheit „Gott liebt mich unendlich“ drängte sie zu der Frage: Wo ist denn diese Liebe am radikalsten offenbar geworden? Wie durch einen Zufall wurde ihnen die Antwort zuteil. Ein Pfarrer, der einer kranken Fokolarin die Kommunion brachte, stellte ihnen die Frage: „Wo hat Jesus am meisten gelitten?“ Ihre Antwort: „Vielleicht am Ölberg, wo er nicht mehr konnte und nicht mehr wollte und trotzdem sein Ja sagen mußte.“ Aber der Pfarrer entgegnete ganz entschieden: „Nein, dort, wo er die Verlassenheit vom Vater am Kreuz erfahren hat und schrie: ‚Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?'“ (Mk 15,34). Da war ihnen klar: Hier und nirgends sonst hat Gott uns am meisten geliebt.