Politik und Ethik

Der gemeinsame Bezugspunkt von Politik und Ethik: die Freiheit

Indem Politik mit Macht zu tun hat, hat sie mit Freiheit zu tun; Freiheit drängt in sich selber zu gemeinsamer Freiheit und gemeinsam ihre Verhältnisse gestaltender Freiheit. Das Politische läßt sich also nur verstehen, wenn Freiheit verstanden wird; Freiheit verstehen führt umgekehrt dazu, daß sie auch in ihrem Zusammenhang mit Politik verstanden wird.

So viel der Ansätze sind, um das spezifisch Ethische zu fassen, so unzweifelhaft ist doch, daß auch Ethos und Ethik konstitutiv mit Freiheit zusammenhängen. Nur im Kontext der Freiheit kann es Ethos und Ethik geben, ja endliche Freiheit führt von sich selber her in den Kontext des Ethischen.1 Alles Wollen und Handeln – darauf weist im Anschluß an Thomas von Aquin Bernhard Welte in überzeugenden Analysen hin – verlaufen in der Struktur dessen, daß etwas als Gutes ergriffen wird. Selbst wenn bewußt das ethisch Nicht-Gute gewählt wird, steht diese Wahl unter der formalen Struktur, aber auch unter dem lebendigen Anspruch des Guten schlechthin, unter einem ethischen Anspruch. Wir können darauf verzichten, diesen Gedanken auszuführen. Es soll jedoch die strukturelle Entsprechung und sachliche Verbindung herausgestellt werden, die zwischen der Analyse des freien Aktes als eines ethischen und des freien Aktes als eines kommunikativen und – in letzter Konsequenz – „politischen“ walten.

In formaler Vereinfachung läßt sich sagen: Der Akt der Freiheit als ethischer Akt entspricht in seiner Struktur dem Akt der Freiheit als „politischem“ Akt, jedoch mit einer Drehung aus der Horizontalen in die Vertikale. Der Akt der Freiheit als „politischer“ Akt gründet darin, daß Tunkönnen, was ich will, und Durchsetzenkönnen, was ich will, sich vollenden, indem sie sich aufheben in die Gegenwendigkeit, in gegenseitige, perichoretische und somit partizipative, gemeinsame und gemeinsam mächtige Freiheit.

Wie sehen diese selben Verhältnisse nun, in ihrer entsprechenden Drehung, beim Akt der Freiheit als ethischem Akt aus? Ich bin frei, zu vollziehen (zumindest im Akt meiner Zustimmung), was ich will. Indem ich es aber will, will ich es als das Gute. Und darin liegt nun eine Gegenwendigkeit. So sehr ich wollen kann, was ich will, so sehr ist doch nicht gleichgültig, was ich will; denn sonst löste sich meine Freiheit in Zufall auf. Sie hat ihre ihr zukommende „ratio“, die „ratio boni“. Indem ich also einem Ziel zuspreche als meiner Bejahung, meines Wollens würdig, lasse ich es mir zusprechen als das, worin das Gute sich für mich hier und jetzt realisiert. Was ich will und tue, gebe ich dadurch als „mir gut“ aus. Ja meine Freiheit ist um so freier, je weniger es nur Laune, Probieren, ihrer selbst und damit ihrer Gründe nicht gewisse Wahl ist, daß ich dieses und nichts anderes mit meinem Willen ergreife. Das „bonum simpliciter“, das schlechterdings Gute, um das es mir geht, ist das Befreiende meiner Freiheit: Je mehr ich mit ihm eins bin, [76] bin ich eins mit mir. Es ist aber zugleich das Verpflichtende, in Verantwortung Rufende. In der Beziehung zu ihm ist nicht gleichgültig, was ich will, sondern das Gute ist für mein Handeln maßgebend – bis zum Opfer, bis zur Aufgabe meiner selbst. Denn ich bin nur ich selbst, wenn ich das Gute bejahe, seinem Zuspruch mich stelle, der mir meine wahre Identität, meine wahre Freiheit zuspricht. Ethisches Handeln ist ein wirklicher oder doch latenter, supponierter, indirekter Dialog mit dem Guten schlechthin, das Geschehen einer gegenseitigen Zustimmung und Übereinstimmung, ein wiederum „perichoretisches“ Geschehen. So löst sich unsere Formel von der Entsprechung des ethischen Aktes zum politischen in einer Drehung von der Horizontalen zur Vertikalen ein.

Diese Reflexion ist keine gedankliche Spielerei, sondern weist, in einem je notwendigen weiteren Schritt, in eine innere Verbundenheit des politischen und ethischen Aktes miteinander. Lenken wir das Augenmerk zunächst auf den ethischen Akt. Ich verantworte mein Wollen und Handeln vor dem Maßstab des Guten. So verhalte ich mich zum Guten und angesichts des Guten zu mir selbst, zu meinem Handeln. Und ich verantworte mich weiter auch gegenüber der Freiheit der anderen. Das Licht der Verantwortung vor dem Guten eröffnet den Lichtraum, der mein Handeln von sich her in den Bezug, in den Dialog, in den Horizont der Gemeinsamkeit rückt. Dies auch und gerade dann, wenn ich aus Verantwortung mich zum Widerspruch, zum Dissens genötigt sehe. Das Ziel freilich ist, von sich selber her, das mir Gute auch als das überhaupt, das den anderen Gute zu erweisen und dafür zu werben. Hiermit aber haben wir nicht nur den Punkt erreicht, an welchem sich grundsätzlich der ethische Akt in den politischen hinein öffnet; vielmehr haben wir ebenso den Punkt erreicht, an welchem politisches Verhalten und Handeln von sich aus sich mit dem ethischen verknüpft. Das Vermögen meiner Freiheit, freie Zustimmung zu erwirken, steht unter dem Stern der Verantwortung, unter dem Stern dessen, daß es gut sei, dem zuzustimmen, was ich will, weil es das Gute ist, was ich will.

Der Zusammenhang zwischen Politik und Ethos in ihrem gemeinsamen Bezug zur Freiheit erhellt freilich auch, was, beide unterscheidend, das Politische zum Politischen und das Ethische zum Ethischen macht. Der Horizont des Politischen ist Freiheit, angelegt auf Übereinstimmung aller und Gestaltung der Verhältnisse aus der Übereinstimmung aller. Im Horizont des Ethischen ist Freiheit angelegt auf die Übereinstimmung mit dem, was als das in sich Gute auch das die Freiheit Freimachende ist. Der Begriff „Freiheit“ ist politisch zu lesen auf Macht hin; der Begriff „Freiheit“ ist ethisch zu lesen auf Verantwortung hin. Die Spannung zwischen Politik und Ethik ist die Spannung zwischen Macht und Verantwortung, eine Spannung, die zur Versuchung werden oder zum Opfer drängen kann, die wesenhaft aber auf die Synthese von Macht und Verantwortung hin „gespannt“ ist. Und diese Synthese zwischen Macht und Verantwortung entspricht sowohl einer von Freiheit her verstandenen Macht wie einer aufs Ganze hin gelesenen, sich aber durch die Rücksicht aufs Ganze (auf die anderen) nicht korrumpieren lassenden Verantwortung.


  1. Vgl. hierzu die bereits genannten Untersuchungen von: Welte, Bernhard: Thomas von Aquin über das Böse; Thomas von Aquin über das Gute, ebd. ↩︎