Anfang bei der Zukunft: Anfang beim Vater

Der Glaube Israels

Unser Hinblick auf die Religion als menschlichen Grundvollzug und unser Seitenblick auf die philosophischen Wege der Gotteserkenntnis umschreiben nicht einen allgemeinen Horizont, innerhalb dessen es dann auch so etwas wie die Offenbarung Gottes an Israel gäbe. Die Sache ist umgekehrt. Zukunft ist konkret, oder sie ist nicht. Der Gott der Zukunft ist der konkret handelnde und sprechende, und wo er konkret handelt und spricht: dorthin ruft er uns, dort ist Ort der Begegnung. Aber wo er ruft und handelt, da reißt er den Horizont auf, da tritt in den Blick, daß alles, was zum menschlichen Dasein gehört, mit ihm zu tun hat. Bei allem, was nicht nur von außen her zusammengeklebt ist, fängt es nicht mit dem Rand an, sondern mit der Mitte. Auch wo wir uns vom Rand her in die Mitte vortasten, hat die Mitte den Rand gemacht und nicht umgekehrt der Rand die Mitte.

Noch einmal müssen wir hin zu Abraham, zu Mose am brennenden Dornbusch, zu den Propheten. Es geht bei ihnen um das eine: Gott ist der Gott der Zukunft. Das Leben des Volkes hat nur Zukunft aus der radikalen Weggabe der [158] selbstgemachten Zukunft an jene, die aus Gott und seinem Ruf und Spruch allein erwächst.

„Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Da zog Abram weg, wie der Herr ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot. Abram war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran fortzog. Abram nahm seine Frau Sarai mit, seinen Neffen Lot und alle ihre Habe, die sie erworben hatten, und die Knechte und Mägde, die sie in Haran gewonnen hatten. Sie wanderten nach Kanaan aus und kamen dort an“ (Gen 12,1–5).

Das ist die Urgeschichte des Glaubens, so und nur so geht Glaube. Einziger Grund: Gottes Ruf, Gottes Verheißung. Ziel und Land: unbekannt. Wegroute: je der nächste Schritt. Mitgebrachte Chancen: gleich Null (Abraham ist 75 Jahre alt!). Einsatz: alles (Abraham nimmt alle und alles aus seinem Besitz und Erwerb und aus seiner Familie mit). Radius: die Menschheit (alle Geschlechter der Erde sollen durch Abraham Segen erlangen).

Glaube heißt Abbruch der Geschichte, die ich mache, um allein aus Gottes Zukunft zu leben. Darin aber erreiche ich die höchste Freiheit; wo Gott ganz Gott ist, wird der Mensch ganz Mensch.

Abraham ist der Vater des Glaubens, heilsgeschichtlich trägt kein Mensch so sehr wie er spiegelbildlich den Namen, den wir zu Gott sagen dürfen: Vater. So reicht die Glaubensfamilie Abrahams über das spätere Volk Israel hinaus, ein hernach für Paulus entscheidender Gedanke (vgl. bes. Röm 4). Abraham: in diesem Einen und in seinem Glauben ist das Volk und sind Völker begründet. Der Rhythmus geht weiter in unzähligen Beispielen: Vaterschaft und Mutter- [159] schaft, welche die kommende Volksgeschichte tragen, erwachsen aus dem glaubenden Verschenken der eigenen Unfruchtbarkeit an Gottes Zukunft eröffnendes Wort.

Mose, nicht so sehr Vater als vielmehr Führer, Werkzeug Gottes für eine Glaubensgeschichte, die dieser Mose persönlich trägt und mitvollzieht, die aber zugleich und vor allem Volksgeschichte ist. In ihm wird Israel zum Volk, das nicht in einem vorgegebenen biologischen Zusammenhang, sondern in Gottes Handeln den Grund seiner Einheit und seines Bestandes hat. Sicher, nirgendwo gewinnt Gott als der Gott der Zukunft so sehr Kontur wie in der Geschichte, da er dem Mose am Horeb im brennenden Dornbusch seinen Namen eröffnet: Jahwe, Ich bin der Ich-bin-da, Ich werde sein, der ich sein werde (vgl. Ex 3,14).

Gott ruft [...] in eine menschlich aussichtslose Situation hinein: Exodus durch das Meer (vgl. Ex 13,17 – 15,21). Wo liegt die Sicherheit dafür, daß dies wirklich der Weg in die Zukunft Gottes ist? Die Zukunft des Glaubens besteht nicht in einem Proviant abgepackter Sicherheiten, sondern allein im Glauben daran, daß Er da sein wird, daß Er die Quelle ist, die nie versiegt.

Das Prägemal, welches der Gott der Zukunft der Geschichte des Glaubens in Mose aufdrückt bis hin zu unserem Glauben, heißt: Bund. Glaubensgeschichte ist Bundesgeschichte. Im Bundesgesetz, in den Zehn Geboten können wir es wie in einem Brennpunkt anschauen. Gott ist der Gott seines Volkes: das Volk hat in ihm seine einzige Zukunft. Das Volk ist Gottes Volk: Gott hat seine Zukunft in der Geschichte in diesem Volk. Dies geht aber nur, wenn in diesem Volk einer die Zukunft des anderen ist, wenn sie die Treue, die sie Gott schulden, einander erweisen. Nur so kann Gott im Volk als Volk seine Geschichte machen und dem Volk als Volk seine Geschichte schenken. Keinen anderen Gott haben (1. Gebot) – so in der Gegenwart dieses Gottes leben, daß sein Name als der Name eines Anwesenden ge- [160] ehrt wird (2. Gebot) – das eigene Wirken nicht als die entscheidende Quelle der Zukunft sehen, sondern Zeit haben, die es wahrmacht, daß wir von ihm als dem wahren Herrn unserer Zeit und Geschichte die Zukunft erwarten (3. Gebot): dies ist vom Bund her der Sinn der ersten Gesetzestafel. Im Miteinander der Geschlechter die von Gott gewirkte Bundesgeschichte wahren und durchtragen (4. Gebot) – das Leben, das Gott dir und mir schenkt, in dir heilig halten (5. Gebot) – die Treue, die Gott dem Volk hält, auch zwischen den Ehegatten leben (6. Gebot) – nicht im Griff der Gier sich nehmen, was man mag, sondern auf die Gabe Gottes für die Zukunft trauen (7. Gebot) – sich gegenseitig auf das Wort verlassen können, wie wir uns auf Gottes Zusage verlassen dürfen (8. Gebot) – und dies nicht nur im äußeren Tun, sondern in der Einstellung des Herzens, in der Lauterkeit der gegenseitigen Gesinnung (9. und 10. Gebot): so wenden die Gebote der zweiten Tafel das Verhältnis des Volkes zu Gott um in seine Konsequenz, ins Verhältnis der Volksgenossen zueinander. Einander Zukunft sein, weil Gott unsere gemeinsame Zukunft ist und damit er seine Zukunft mit uns lebe, darum geht es (vgl. Ex 20,1–21).

Zu Abraham als dem Vater des Glaubens und Mose als dem Zeugen des Bundes treten hinzu die Propheten als Sachwalter und Wegweiser der Zukunft Gottes. Prophetischer Dienst besteht darin, die anfängliche Lauterkeit des Bundes zu wahren und zu erneuern. Dies können Texte wie jener Dialog zwischen Gott und seinem Volk verdeutlichen, den uns Micha überliefert (Mi 6,1–8). Wie die Schuld abwaschen, wie den Bund erneuern? Die zusammenfassende Antwort lautet: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott“ (Mi 6,8).

Können wir indessen einen inneren „Zuwachs“ der Glaubensgeschichte als Geschichte mit dem Gott der Zukunft [161] auch in der Sendung und Verkündigung der Propheten verzeichnen? In grober Vereinfachung dürfen wir auf zwei Züge hinweisen, die in mannigfacher Variation die Botschaft und das Auftreten der Propheten kennzeichnen.

Einmal ist es die Situation Israels inmitten anderer Völker und Kulturen. Diese sind mit einem anderen Verhältnis zur Zukunft verbunden. Inbegriff dieses anderen Verhältnisses ist der Götze, den der Mensch sich selber macht, weil er sich seine Zukunft selber machen will. Doch der selbstfabrizierte Herr der Zukunft ist eben gerade keiner und führt in den Abgrund. Magische Überlistung des Herrn der Zukunft oder selbstherrliches Auswählen oder gar Herstellen des Herrn der Zukunft nach eigenem Belieben sind die beständige Gefährdung des Glaubens Israels, gegen welche die Propheten antreten. Zitieren wir einen späten, aber prägnanten Text:

„So spricht der Herr, Israels König, sein Erlöser, der Herr der Heere: Ich bin der Erste, ich bin der Letzte, außer mir gibt es keinen Gott. Wer ist mir gleich? Er soll sich melden, er tue es mir kund und beweise es mir. Wer hat von Anfang an die Zukunft verkündet? Sie sollen uns sagen, was alles noch kommt. Erschreckt nicht, und fürchtet euch nicht! Habe ich es euch nicht schon längst zu Gehör gebracht und verkündet? Ihr seid meine Zeugen: Gibt es einen Gott außer mir? Es gibt keinen Fels außer mir, ich kenne keinen. Ein Nichts sind alle, die ein Götterbild formen, ihre geliebten Götzen nützen nichts. Wer sich zu seinen Göttern bekennt, sieht nichts, ihm fehlt es an Einsicht; darum wird er beschämt“ (Jes 44,6–9).

Im selben Atemzug müßte man auf eine nur scheinbar ganz andere Thematik eingehen: die Kritik der Propheten gegen eine bloß formalistische und äußerliche Gottesverehrung, die sich nur absichert und Gott zwingen zu können wähnt, statt ihm das zu schenken, was allein uns seiner Zukunft fähig macht: das bereite, gehorsame Herz (vgl. z. B. Jer 7,21–28).

[162] Wider die Götzen und wider einen veräußerlichten Gotteskult: dies ist die eine Stoßrichtung der prophetischen Verkündigung. Die andere könnte man auf die Formel bringen: Gottes Zukunft ist je kleiner – Gottes Zukunft ist je größer. Gottes Zukunft ist je kleiner: Fallt nicht herein auf großtönende Worte, laßt euch nicht abbringen vom kleinen Weg der Treue, nehmt nicht in Ungeduld Gottes Gericht oder Gottes gnädiges Handeln vorweg! Einen exemplarischen Text hierzu finden wir im Brief des Propheten Jeremia an die Verbannten in Babel (vgl. Jer 29,1–23).

Gottes Zukunft ist aber auch je größer. Die Propheten schauen über den konkreten Anlaß hinaus auf das Ganze einer das Volk, ja die Menschheit umgreifenden Geschichte des Heils und Unheils. Prophetische Verheißung hat einen Überschuß über die unmittelbare Einlösung. Es geht Gott nicht nur darum, hier und jetzt einzugreifen, zu korrigieren, Unheil abzuwenden, es geht ihm darum, sein Volk auf dem Weg zu erhalten zum alles umfassenden und erfüllenden Heil. Gottes Zukunft ist ganze Zukunft. Wir dürfen erinnern an die Texte zumal aus dem Jesajabuch, die über ihre unmittelbaren Anlässe hinaus in die messianische Endzeit hinein vorstoßen (vgl. z. B. Jes 2,1–5; 9,1–6; 11 und 12 insg.).

Wir müssen nochmals auf unser Bild zurückkommen: Erschaffung des Adam. Dieses Bild stellt eine Szene aus dem Bundesbuch Israels dar. Ja, dieses Bundesbuch beginnt mit dem Bericht von der Schöpfung. Und doch muß dieses Buch von der Mitte her, vom Bundesschluß her gelesen werden. Das erste Interesse der Thora, wie die fünf Bücher Mose heißen – Rosenzweig/Buber übersetzt: Bücher der Weisung, was eben Wegweisung des Bundesweges meint –, geht auf den Gott, der uns seinen Namen nennt und das Volk in seinen Bund ruft. Dieser Gott aber ist nicht nur die Quelle der Zukunft für ein Volk, sondern in dieser Volksgeschichte entscheidet sich Geschichte insgesamt. Er ist nicht nur Volks- [163] gott, sondern der Gott, der Himmel und Erde gemacht hat. Es geht im Glauben an ihn ums Ganze. Die Hand Gottes, die sich seinem Volk hinhält zum Einschlag in den Bund, ist die Hand des Vaters, aus welcher das Leben in die Hand des Adam überspringt. Oder umgekehrt gelesen: Der Finger des Vaters, der den Finger Adams berührt und belebt, das ist die Spitze der Hand, die sich der unseren hinhält und öffnet zum Bundesschluß.