Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Der „Gottesbeweis“der positiven Philosophie
Schelling lehnt mit Kant, wenn auch nicht streng aus demselben Ansatz wie er, einen Gottesbeweis vom erfahrbaren Sein als Prius des Beweises her ab. Der kosmologische Beweis will für ihn Gott aus etwas herausrechnen, das nicht Gott ist, und dies geht nicht an. Zwar anerkennt Schelling, daß mit Notwendigkeit, wenn ein zufälliges Sein ist, auch ein notwendiges Sein existieren müsse, aber diese abstrakte notwendige Existenz ist gerade noch nicht Gott1.
Auch in der Ablehnung des ontologischen Argumentes ist Schelling mit Kant im Effekt einig, es folgt aus ihm nur, daß Gott, wenn er existiert, notwendig existiert2. Es geht Schelling indessen um eine Umkehrung des ontologischen Beweises, die nicht mehr vom [309] Begriff auf die Existenz schließt, sondern umgekehrt von der Existenz ausgehend zum Begriff kommt3.
Wir kennen die Gedankenoperationen, die ihm den Ausgang von Existenz als solcher und das Zugehen auf den Begriff ermöglichen. Schelling weist das Denken an zum Experiment, Existenz rein als solche zu denken, sich in diesen prädikatlosen Gedanken notwendigen Seins unmittelbar, in Umkehr der gewohnten Richtung des von sich, von seinem Inhalt ausgehenden und ihn setzenden Denkens, hineinzubegeben. Dieser Gedanke, d. h. sein Gedachtes erhält ihm durch sich selbst unzweifelhafte Gewißheit4.
Wir bemerkten, daß als „setzendes“ Experiment dieses denkende Erstellen der absoluten Voraussetzung des Denkens, das sie zum fixen Daß, zum einsinnigen Gedanken „Existenz“ macht, fragwürdig ist, es ist Hinweis, aber nicht Erfassen dessen, was als richtendes und gewährendes Maß das Denken erst zu sich selbst ermächtigt.
Doch auch Schelling selbst geht hinter diesen – konstruktiv Ausgangspunkt seiner Operation bleibenden – Gedanken der absoluten Vor-stellung des Daß durchs Denken zurück5. Er sieht im möglichen Zweifel an allem faktischen Sein und an der Ungesichertheit der Vernunft durch sich selbst, in dem hinter alles Gedachte und Erfahrene, also doch Gedachte, zurückfragenden „Warum?“ das leitende und gewährende Wissen um dem Denken vorgängige, will sagen: im Denken je schon bezeugte Ursprünglichkeit6.
Indem sie aber im Denken sich bezeugt, sich in der Differenz zu ihm doch eben: ihm gibt, legt sie sich in eine den Charakter des factum brutum lichtende, somit überwindende Wesentlichkeit aus. Weil, was immer ist, von sich her in seinem Was Vorverweis auf die Geistigkeit ist, bezeichnet Geistigkeit die „Gegend“, in welcher das Unvordenkliche, seine dem bloßen Denken gegenüber doch vorgängige und „andere“ Qualität aufgeht.
Schellings Weg der Auslegung des absoluten Daß zur absoluten Geistigkeit hat uns einläßlich beschäftigt7. Sowohl dem Rückver- [310] weis des erfahrbaren Seins und des Denkens als solchen auf ihre unerdenkliche Gewähr wie auch der Richtung dieses Verweises von aller bloßen Vorhandenheit und aller bloß abstrakten Allgemeinheit hinweg kann sich unser Mitdenken nicht entziehen.
Und wenn sich die genannte Richtung in ein ontologisches Prädikat faßt – was in der Etablierung des Unsäglichen im Sagen, des alles Was Übertreffenden im notwendig etwas sagenden Denken formal nicht zu vermeiden ist –: wie könnte dieses Prädikat gemäßer lauten als „Geistigkeit“?
Doch: ist ein ontologisches Prädikat, ist die zur Selbstgehörigkeit des Geistes konstruktiv emporgeführte omnitudo realitatis überhaupt auf die Weise dem unbedingten Geheimnis zuführbar, wie Schellings Gedanke solche Zuführung vornimmt? Dann durchaus, wenn das absolute Daß als fixes factum brutum neben das Denken und vor es gesetzt, ihm „vorgestellt“ ist, wie dies im konstruktiven Gang des Schellingschen Beweises geschieht. Und solches muß geschehen, wenn das Denken sich wesentlich als das Setzen der Möglichkeiten des Etwas abschließt.
Schelling hebt, wie wahrgenommen, die Iuxtaposition von notwendiger Existenz und allervollkommenstem Wesen, die Kant vorzeichnet, wieder auf in den die Vermittlung des einen durchs andere denkenden Gedanken der natura necessaria, die mit der absoluten Freiheit koinzidiert8.
Das Wohin der in den angeführten Gedankenoperationen bezeichneten Grunderfahrung Schellings auf die das Denken mit sich und allem beschenkende und in die Verantwortung rufende unbedingte Gewähr setzt sich in diesen Operationen durch, sie dienen zur Gewinnung des Begriffes eines freien, anfangen könnenden Gottes. Sofern diese Freiheit Gottes aber doch nur als Freiheit zum Entscheid ihm einerseits eigener, anderseits ihm zu-gefallener Möglichkeiten begriffen ist, trägt sich in den Begriff des freien, anfangen könnenden Gottes der Vorgriff des Etwas-Denkens wieder ein9.
Die Auslegung des absoluten Daß durch den Selbstbegriff des Denkens als Inbegriff aller Möglichkeit im geistigen Selbstbesitz [311] vollendet indessen nicht den Gottesbeweis der positiven Philosophie, sondern gibt der Hinwendung des Denkens auf die wirkliche Wirklichkeit der Erfahrung, zumal der Geschichte, nur die Vorzeichnung, die sich hier, in der Wirklichkeit zur wirklichen Erkenntnis des wirklichen Gottes artikuliert. Nicht weil das Denken Gott entwirft, ist Gott, sondern weil es von Gott aus die Wirklichkeit als möglich so zu entwerfen vermag, wie sie sich wirklich findet, weiß das Denken um die Wirklichkeit Gottes, wie es sie entwarf. Es weiß sie also aus sich, sofern sie den Begriff entwarf, es weiß sie entscheidend aber erst durch Gott selbst, weil er frei handelnd den hypothetischen Entwurf des Denkens zum wirklichen Begriff Gottes ermächtigt[^31].
Was also hat solcher Weg des Denkens zu Gott uns aus der Distanz seiner denkgeschichtlichen Situation zu sagen?
Am Anfang dieses Weges führt uns Schelling vor die Endlichkeit und Unsicherbarkeit des Denkens aus sich selbst. Indem sich das Denken angesichts dieser Situation doch durchhält als denken sollend und dürfend, geleitet er uns dorthin, wo das Denken über seine Denkbarkeiten hinauszukommen vermag, wo es in der Situation seiner Verantwortlichkeit zugleich in die der „Anredbarkeit“ gelangt, das heißt aber: in die Offenheit für den Aufgang des göttlichen Gottes.
In der Mitte des Weges hebt Schelling das absolute Daß, in welches er seine Grunderfahrung hinein artikuliert, aus seiner bloßen Faktizität auf und legt es auf Geistigkeit, diese aber auf Freiheit hin aus. Damit bezeichnet er – ontologisch einordnend – die Richtung, in welcher das Denken sein Hinsein aufs schlechthin Andere und Frühere seiner selbst allein artikulieren kann: als personales Hinsein, das in Anrede und Antwort, in Hören und Sprechen, in lebendiger Beziehung spielt. Die Weise, wie Schelling von absolutem Daß und universalem Was auf absoluten Geist und absolute Person zurückstößt, läßt diese Beziehentlichkeit indessen gerade aus der denkenden Bewältigung aus.
Am Ende seines Weges „hat“ Schelling gleichwohl Gott nicht als das Ergebnis seiner gedanklichen Ableitung, diese ist ihm Auslegung [312] und Erklärung des von Gott her Geschehenden, des Aufgangs Gottes in der Gewähr der Wirklichkeit. So hintergründig die positive Philosophie sich auch in zeitlos-erklärende Sicherstellung verstrickt, bleibt sie gleichwohl dessen bewußt, daß das Denken und irgendein Denken den göttlichen Gott nicht erstellen kann, sondern es nur zu erkennen und dieses Erkennen vor sich zu verantworten vermag, wenn er von sich her sich ihm antut. Gewißheit Gottes als Gewißheit der Gewärtigkeit und nicht des Besitzes – trotz der anders laufenden Bewegungen seines Gedankens weist Schelling doch auch auf solches.
Was vermag also das Denken vor dem göttlichen Gott? Es vermag sich zu bereiten für ihn, vermag von sich aus dorthin zu gehen, wo er von sich her es anrührt und es ruft.
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Vgl. XIII 159/60, 163/66, XIV 345; zum physikotheologischen Beweis XIII 249. ↩︎
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vgl. XIII 156/59, auch X 14/21; die Distanz zu Kant: XIII 45. ↩︎
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Vgl. XIII 167/68, XIV 345/46. ↩︎
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Vgl. XIII 165/66, 159/62. ↩︎
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Vgl. XII 172/73. ↩︎
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Vgl. XIII 242/43. ↩︎
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Vgl. XIII 240–261 im Ganzen. ↩︎
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Vgl. bes. XIII 269–271, XIV 237–356. ↩︎
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Vgl. XI 586/89, XIII 267/68, XIV 342. ↩︎