Unterscheidungen

Der Grund der Offenheit: der geschichtliche Gott*

Ziehen wir das Fazit aus unseren Überlegungen.

Vom Pluralismus des Nebeneinander und vom Pluralismus des Nacheinander aus gelesen, zeigt das Christliche in unserem Zeitalter sein eines und selbes Profil. Das Christliche steht nicht jenseits der vielen Stimmen, die in dieser Geschichte hinfragen und hinsprechen auf den Sinn des Daseins und auf die Wahrheit, es bleibt nicht draußen aus den Schüben und Umbrüchen eines je neu zu gewinnenden Verständnisses des Menschen und der Welt. Und doch geht das Christliche von sich her nicht darin auf, „Gesprächsbeitrag“, [110] „Perspektive“, „scheiternder Versuch“ zur Sinndeutung und Wahrheitsfindung zu sein; es bedeutet aber ebensowenig die Absolutsetzung einer geschichtlichen Gestalt menschlichen Selbst- und Weltverständnisses. Das Christliche ist Gottes eine, verbindliche, endgültige Geschichte mit dem Menschen und der Welt in Jesus Christus. In ihm hat er ja zum Menschen und zur Welt gesagt. Er hat sich selbst in dieses Ja unlöslich und vorbehaltlos hineingegeben. Er hat aber ebenso die Menschheit mit ihrer Vielfalt und ihrer Geschichtlichkeit in diese Geschichte hineingenommen. Sie ist endgültige Geschichte: Gott tritt nicht mehr von ihr zurück, er relativiert und überholt das in Jesus Zugesagte und Ereignete nie mehr. Sie ist aber gleichwohl offene Geschichte: denn in diese Geschichte ist der Mensch, in seiner Freiheit, in seiner Geschichtlichkeit und Unabgeschlossenheit, hineingerufen als Partner.

Diese Partnerschaft bedeutet keine gleichgültige Koexistenz menschlicher „Wahrheiten“ mit der Wahrheit des Evangeliums, sondern Situation der Entscheidung. Menschliche Worte, die sich absolut setzen, Worte, die vermeinen, aus sich selbst Heil zu vermögen, und Worte, die sagen, Heil könne nicht sein, vielmehr könne nur das sein, was der Mensch kann: solche Worte sind durch das Zeugnis des Evangeliums in ihre Krisis geführt. Alle Sicht des Menschen und alle Frage des Menschen über die eigenen Grenzen hinaus vermögen aber Sicht und Frage auf das hin zu sein, was Gott in Jesus offenbar gemacht hat. Daher ist die Geschichte der Hermeneutik des Christlichen also unabgeschlossene Geschichte.

Die Zukunft dieser Geschichte scheint heute besonders im Dunkel zu liegen. Die Hektik sich kurzatmig ablösender hermeneutischer Wellen und die innere Endlichkeit, ja Pervertierbarkeit neuer hermeneutischer Ansätze zeichnet unsere Situation. Doch fragen wir einmal nach dem „Ort“, an dem sich die Zusage Gottes in Jesus begeben hat. Welches ist die „hermeneutische Grundsituation“, in die Gottes alles entscheidendes Handeln in Jesus hineintrifft? Gott erweckt den gekreuzigten Jesus von den Toten, Gott bestätigt darin den Tod Jesu als seine alles umfassende und erlösende, göttliche communio mit dem Menschen. Das Ende, der Abbruch, das Schei- [111] tern, das Verstummen, der Warum-Schrei des 22. Psalms, die Gottverlassenheit sind die Stelle, an der Gott unsere Geschichte zu sich einholt. Das offenbare, in seiner Offenbarkeit aber anheimgegebene Ende ist die Stelle des göttlichen Anfangs. Sollte das nicht ein Zeichen sein für den Weg und für das Verstehen des Christlichen im „nachchristlichen“ Zeitalter?