Was heißt Glaubenssituation

Der Grund der Spannungen: Offenbarung*

Dies läßt sich im „Gegenbild“ des den Glauben tragenden und hervorrufenden Wortes göttlicher Offenbarung deutlich machen. Es ist schlechterdings unmöglich, das „Göttliche“ des Offenbarungswortes aus seiner menschlichen, geschichtlichen Gestalt herauszupräparieren und in sich vorzustellen; denn diese Vorstellung des „Göttlichen in sich“ wäre wiederum menschliche, geschichtliche Gestalt. Die Geschichtlichkeit, das, was auch anders hätte sein können und immer wieder anders gesagt werden kann, ist der Ort, ja der einzige Ort, an dem das Göttliche des Offenbarungswortes zur Gegebenheit kommt, ist seine von ihm unlösbare Situation. Unlösbar heißt aber nicht, daß die Differenzierung zwischen menschlicher Gestalt und göttlichem Wort nicht geschehen dürfte und müßte. Sie kann aber nur als Vollzug geschehen, der durch die endliche Gestalt hindurch und in ihr den unbedingten Zuspruch und Anspruch göttlichen Sich-Gebens vernimmt. Wenn die Kirche „Fixierungen“ vornimmt, um rechte und falsche Interpretation zu scheiden, so kann sie dabei diesen Sachverhalt nicht überspringen; sie braucht es aber auch nicht, denn Sinn der Fixierung ist die Orientierung, die „Situationsbestimmung“ des gemeinsamen Glaubens und Bekennens angesichts des einmal für immer gegebenen göttlichen Wortes, das als dasselbe im gemeinsamen Glauben und Bekennen gewahrt werden und so gerade je neu die Situation der Glaubenden bestimmen soll. Die Notwendigkeit der Ordnung gemeinsamen Bekennens, der Scheidung zwischen Gestalten, welche die Offenbarung Gottes verfehlen, und solchen, die ihr entsprechen, steht nicht im Widerspruch zur anderen Notwendigkeit des je neuen Sagens desselben. Gottes Wort ergeht nicht anders als eben in endlicher Aussage, die als das Sakrament der unbedingten Zusage selbst an deren Rang teilhat. Weil Gottes Wort Wort seines Sich-Gebens ist, reicht es als solches bis in die menschliche Endlichkeit hinein und partizipiert an ihr. Das gibt seiner endlichen Gestalt unbedingte Geltung und macht sie zugleich der je neuen Übersetzung fähig und bedürftig. Weil Gott sich gibt, bleibt sein Wort dasselbe; weil Gott sich gibt, begibt sein Wort sich hinein in die Geschichtlichkeit der menschlichen Rezeption. Diese rezipiert es als das eine und selbe Wort, was in der ekklesialen „Fixierung“ der Interpretation zum Ausdruck kommt, und rezipiert es in der Vielfalt der geschichtlichen Situationen, was in der Geschichte auch der ekklesialen Fixierungen, was in Dogmen- und Theologiegeschichte und in der Geschichte gelebten und sich objektivierenden Glaubens der Christenheit zum Ausdruck kommt. Dieser Situation des göttlichen Wortes im menschlichen Wort und seiner Geschichte entspricht nun die Situation des Glaubens, die, in menschlich-geschichtlichen Situationen sich nie erschöpfend, doch gerade in sie eingebunden ist, an ihnen partizipiert. Die Weise der Partizipation des zwischen Gottes und des Menschen Freiheit situierten Glaubens an der Situation des Menschen in Welt, Gesellschaft und Geschichte hat den theologischen Sinn der Selbstauslieferung Gottes an den Menschen. Es hängt in der Tat davon, ob und wie menschliche Verhältnisse sich dem Anspruch und Angebot Gottes öffnen und verweigern, etwas ab für das [32] „Geschick“ des Glaubens in der Welt. Wenn Glaube vom Hören kommt, so ist er angewiesen auf Verkündigung und Sendung – und eben darauf, daß Menschen sich senden lassen und daß sie verkünden. Wäre z. B. Paulus in Kleinasien geblieben und nicht nach Europa gegangen (vgl. Apg 16,9f.), wäre die Auslegung des Evangeliums nicht in der Alexandriner-Schule des 3. Jahrhunderts in einen fundamentalen Bezug zur griechischen Philosophie getreten, hätte in den Anfängen der fernöstlichen Mission der sogenannte Ritenstreit einen anderen Ausgang genommen, so wäre die Geschichte des Glaubens in der Welt wohl erheblich anders verlaufen. Diese Selbstauslieferung Gottes an menschliche Geschichte, an die Vielfalt von Situationen menschlicher Freiheit und menschlicher Erfahrungen hebt nichts auf von der eingangs theologisch aufgestellten Totalität des göttlichen Wirkens; die Selbstauslieferung Gottes an den Menschen, seine „Relativierung“ durch die geschichtlichen Situationen, in die er sich begibt, haben von ihm her den Sinn der totalen Kommunion mit dem Menschen. Sie sind Extrapolationen seiner Allmacht, die als Allmacht der Liebe sich gerade in ihrem schlechthin Anderen, in ihrer Auslieferung und Ohnmacht, neue Weisen und Dimensionen erschließt: „Geschichte“ Gottes selbst, die nichts anderes ist als seine unveränderliche Identität mit sich; denn er ist als die Liebe an sich selbst Sich-Geben. Liebe als Sich-Geben, Liebe als das Apriori göttlichen Wesens schließt das Aposteriori dessen, was sich nicht apriorisch aus ihr ableiten läßt, ihr je neues und freies Ereignis der Zueignung, gerade ein und auf.