Krise des Hörens
Der Grund des Mißtrauens: das verführte Wort*
Mißtrauen gegen das Wort und gegen sich selbst vor dem Wort – rührt es allein von der unausweichlichen Massenhaftigkeit des Gehörten? Gründet die Krise des Hörens allein im Quantitativen, Zahlhaften? Vielleicht haben Quantum und Zahl in einer tieferen Schicht Entscheidendes mit ihr zu tun. Doch muß zunächst ein anderer Umstand beachtet werden, der nicht minder ernstlich als der erzwungenerweise unmäßige Hörkonsum für den Unterton des Mißtrauens im Hören heute verantwortlich ist.
Mißtrauen schiebt sich nicht nur zwischen das Hören und jenes Wort, das sich jetzt ihm zusagt, es schneidet dieses Jetzt selbst ab von der Vergangenheit: Mißtrauen waltet zwischen dem [52] gegenwärtigen Hören und der Geschichte. Es gibt keine selbstverständliche Überlieferung, kein fragloses Weitergelten dessen, was früher groß und mächtig war. Wiederum muß an den Unterschied solchen Mißtrauens zu einer Kritik erinnert werden, die immer beim Anbruch eines neuen Zeitalters das Gewesene nur in der verwandelnden Rückfrage übernimmt und neu gewinnt. Doch diese Rückfrage scheint uns gerade verwehrt, denn zwischen uns und die Geschichte schiebt sich dieser ihr jüngster und ungeheuerlicher Abschnitt, an dem wir beteiligt waren, vielleicht sogar mit Leidenschaft beteiligt, und den wir gleichwohl nicht, ja in dem wir uns selbst nicht mehr verstehen können. Wie war so Furchtbares möglich, solche Blindheit, solche Verführung, solche unheilvolle Gläubigkeit an ein betrügerisches Wort? Erscheint das Mißtrauen nicht wie die bittere Lehre, die uns unausweichlich von der eigenen Schuld erteilt wird? Wir trauen uns nicht mehr zu hören, weil wir uns so gründlich verhört haben, und dieses Verhören war beileibe nicht so harmlos, wie die biederen Unternehmungen es sind, mit denen wir jetzt allenfalls aufzuholen und wiedergutzumachen versuchen.
Das Verhältnis zwischen Hören und Wort ist noch vergiftet von der Schrecklichkeit des verführenden Wortes. Man kann nicht sagen, daß diesem Wort zu wenig Gehör geschenkt worden sei. Im Gegenteil, begeistert hat man gehört, zu lange hat man gehört, und aus der gefügigen Führbarkeit des Hörens erwuchs die entsetzliche Gefolgschaft. Die Krise des Hörens heute scheint nicht allein in einem Verfall hörender Aufmerksamkeit und Offenheit, sondern in einem Verfall des Wortes zu Hause zu sein. Ist die Krise des Hörens also ursprünglich Krise des Wortes? Es scheint, so betrachtet, sogar gefährlich, [53] den Adel des Hörens wegen seiner wartenden Empfänglichkeit zu preisen: Sie inspiriert das Wort, indem sie Widerhall verheißt, und verführt das Wort dazu, auf das Hören hörend sich an sich selbst zu berauschen und nach Gefallen auszufallen. Muß das Wort nicht um seinen Vorrang dem Hören gegenüber streiten, seine Unabhängigkeit behaupten, die es nicht erst im Dialog mit dem Hören zu Würden kommen, sondern mit sich selbst beginnen läßt, nach eigenem Gesetz und unbeirrt vom gefundenen oder versagten Gehör? Fängt die Krise des Hörens also bei dem Wort an, welches das Hören sucht, um mächtig zu werden – das politisch verführende wie das die Kultur zur Ware erniedrigende Wort des großen Angebots wären hier betroffen –, statt daß das Wort sich vom Gehör frei machte, um so allein ihm unbestechliches Gesetz zu geben?
Ja – und damit verfolgen wir den Zug dieser Fragen bis zum Ende – stammt das Wort überhaupt aus der dialogischen Grundsituation, aus dem Zueinander von Sprechen und Hören, Hören und Sprechen, oder gibt es nicht auch oder gar zuerst das andere Wort, das nur in sich selber schwingt, das gesagt wird, um gesagt zu sein, nicht, um gehört zu werden? Manches gewichtige Wort des Denkens und der Kunst und auch die Worte der Kinder, die einfach in den Tag hinein und munter vor sich hin reden, in köstlichem Alleinsein mit ihrer Welt, scheinen dafür zu sprechen.
Doch hören wir diesen Worten ein wenig genauer zu!
Warum sagt der Künstler sein Wort, sein Wort, von dem er weiß, von dem er vielleicht sogar will, daß es nicht gehört wird?
Wenn dies „tragisch“ geschieht oder aus Trotz, Verbitterung oder bewußt erwähltem Selbstgenuß, dann ist ohnehin – auf die Weise des Verzichtes oder der Ausschließung – der [54] Zirkel des Hörens geheim um dieses Wort geschlagen. Es ragt in seiner ungehörten Einsamkeit gerade auf als das, was sich dessen wert weiß, gehört zu werden – wenn nur die anderen hören wollten oder könnten oder doch vom Sprechenden auch ihrerseits des Hörens wert befunden würden.
Doch daneben findet sich dieses schlichte Unbekümmertsein um andere, die hören könnten, und um sich selbst, ein geradlinig gestaltendes „Müssen“. Auch das Kind „muß“ wohl auf solche Weise sprechen. Und warum müssen Kind und Künstler dies? Weil sie im Dialog mit ihrer Welt stehen, die ihnen nicht taub ist, sondern beredt, mit der sie sprechen und die ihnen spricht. Das ist kein künstliches „Als-Ob“; man wird erinnert an Martin Bubers Ausführungen über die Ich-Du-Beziehung mit dem, was er „geistige Wesenheiten“ nennt. Gerade das im schweigenden Umgang mit der Welt gewonnene Wort ist ein hörendes Wort.
In einer verwandten, aber etwas anderen Stellung betrachtet, wird der Künstler sein „Müssen“ als Verpflichtung erfahren, als Auftrag, dem er gehorcht. Es ist ihm etwas „eingefallen“, „Einfall“ aber ist nicht Gemächte, sondern ist verdankt und vernommen. Das zugefallene, inspirierte Wort ist gehorsam, es ist gehörtes Wort.
Es muß noch weiter gefragt werden: Gibt es nicht auch die Lust des „Machens“, die aus der Fülle des Vermochten heraus in spielender Wahl gestaltet? Doch auch dieses er-spielte Wort hat seinen Gehorsam und also sein Hören bei sich. Denn es hat die Freude des Gelingens bei sich, in welcher der Künstler aus dem Werk sich selbst, sein ihm geschenktes Können und Wesen – und mehr noch, die geheime Wesenheit des aus ihm Gewordenen – vernimmt. Ohne dieses wäre das Geschaffene [55] ein bloßes Machwerk, nicht wahrhaft ein Wort. Doch gerade das Machwerk spielt sich auf als Werk, als ein Wort, das Gehör beansprucht.
Freilich verhält sich das Hören in einigen der angeführten Beispiele zum Wort zunächst in einer anderen Stellung als der des mitmenschlich-partnerschaftlichen Gegenüber. Hören ist beim Wort, aber es ist, vom Sprechenden aus, ein Hören diesseits seines Wortes. Und kein Wort – als ein verantwortliches, als eines, das nicht gewissenlos weggegeben und ausgesetzt wird – darf auf solches Hören diesseits eines Gesagtwerdens verzichten. Dies ist sein Anspruch, der nicht äußerlich vom Sprechenden zu ihm hinzugefügt oder betont zu werden braucht, sondern den es als gesagtes Wort von allein erhebt: zu gelten, zu währen, auf welche Weise auch immer, wahr zu sein. Solcher Anspruch übersteigt den Sprechenden, sein selbstherrliches Verfügen und Herstellen, er trägt das Zeichen unbedingter Gewähr und Autorität an seiner Stirn. Es ist sein Wort, gewiß, er steht zu ihm und in ihm, aber er steht darin zu diesem Größeren, Gewähr und Geltung Gebenden, als sein Organ. Sein Wort ist – oder gebärdet sich doch – als befugtes, bevollmächtigtes, und das heißt: als gehörtes, gehorsames Wort.
Damit ist Entscheidendes für unsere Frage ausgemacht: Hören überhaupt, Verhältnis überhaupt, Beziehung überhaupt wölbt sich als gewährender, ermöglichender Raum um das Wort überhaupt. Wort kommt immer im Hören an beim Menschen, wird immer – seinem Wesen und Anspruch nach – aus dem Hören von ihm gesagt und ist gerade deshalb auch wesenhaft offen und hingeordnet auf das Hören „jenseits“, auf die Welt der mitmenschlichen Gemeinschaft. Denn auch als ums Gehör unbekümmertes, im ernsten Gehorsam oder im demütigen [56] Spiel vollbrachtes Wort erhebt es, bewußt oder unbewußt, den Anspruch, nicht nur überhaupt zu sein und zu gelten, sondern zu sein und zu gelten für den, der ihm begegnet. Es ruft, aus sich selbst, ihn an, so ernst und so tief, daß er, wenn er aus der Begegnung bloß achtlos weiterginge, sich schuldig machte. Und indem das Wort dem anderen, der ihm begegnet, etwas hinwirft, was nun unabdingbar zum Raum auch seines Lebens, seiner Erfahrung, seiner Welt gehört, wirft es ihm zugleich den Schlüssel hin zu einem Herzen, das sich in diesem Wort erschlossen, mitgeteilt und bekannt hat. Denn dieses Wort wäre nicht ohne den vollbrachten oder in seiner Unbedachtheit gleichwohl verantwortlichen Entscheid eines Ich, mögliches Du eines Anderen zu werden.
Das Wort verdankt sich also dem Hören. Ehe es gesprochenes ist, ist es bereits gehörtes Wort. Der eine Griff, den der Sprechende zugleich in seine eigenen Möglichkeiten, die in ihm sind, und in die Fülle der Welt hinein tut, die sich ihm zueignet, dieser eine Griff seines Sagens steht immer schon antwortend unter dem zeugenden Anruf der Wahrheit und gebiert ihn, in diesen ergriffenen Möglichkeiten, aus, formt ihm die leuchtende Gestalt seines Gedichtes oder die geltende seines urteilenden Spruches zu. Darin aber erwacht im Sprechenden die Macht, selbst Ursprung zu sein, mit dem Anspruch der Wahrheit selbst wieder andere anzurufen und ihnen sich selbst, dieses einmalige sich gehörende Ich und untrennbar davon zugleich das Allgemeine, alle verbindend Gültige zuzusagen. Und dies ist die entbindende Macht partnerschaftlichen Hörens: Es erwartet hörend die Wahrheit vom Sprechenden und zugleich ihn selbst, seine Wahrheit, die niemand anders als er selbst ihm erschließen kann, und es erwartet schließlich vom Wort das [57] Ich des Hörenden, das der Anrede vom Du bedarf, um als lebendiges Ich dazusein. Das Wort erhebt zwar immer den Anspruch auf Gehör, aber es antwortet zugleich schon dem ihm zum Verlauten helfenden, es hervor und ans Licht rufenden Anspruch des Hörens, ihm nicht nur eine Sache, sondern den Sprechenden selbst und die Wahrheit selbst und das hörende Ich selbst zu schenken.
Daraus erhellt die Forderung, die das Wort dem Hören gegenüber, aber auch die Forderung, die das Hören gegenüber dem Wort zu erfüllen hat, damit das Reden gutes Reden und das Hören gutes Hören seien. Das Wort muß gehorsam sein der Wahrheit, die es behauptet, ob es dies bedenkt oder nicht; und es muß zugleich aufs Hören hören, dem es die Wahrheit und das sprechende Ich als das Du des Hörenden und darin des Hörenden eigenes Ich verheißt, wiederum ob es dies bedenkt oder nicht. Das Hören aber muß, indem es auf das sprechende Du hört, auf die Wahrheit selber hören, von der doch es selbst unmittelbar und anfänglich gerufen ist; und es muß, auf die Wahrheit hörend, zugleich in solcher Offenheit auf das sprechende Du und auf sein Wort hören, daß dieses Du darin befähigt wird, sich selbst und die Wahrheit ihm zu eröffnen. Beide aber müssen auf ihr Zusammengehören achten, das nicht in ihr Belieben oder Verfügen gestellt ist, sondern in die Hoheit der Wahrheit, der beide gleichermaßen und unmittelbar verpflichtet sind. Der Wahrheit vertraut, sind sie, das männliche Wort und das weibliche Hören, einander vertraut. Nur so dürfen sie ihr Vertrauen einander schenken.
Wenn das Vertrauen heute verdorben ist im Verhältnis zwischen Hören und Wort auf Grund der furchtbaren Verführung des Wortes, welcher das Hören erlag, so geht das zu Lasten des [58] verführenden Wortes wie des verführten Hörens. Sich nur miteinander einrichtend, haben beide sich verfehlt am hörenden Gehorsam gegen die Wahrheit, an der wachen Nüchternheit, an der Verantwortung füreinander. Es soll hier nicht die Schuld der einen und der anderen Seite gegeneinander aufgerechnet werden. Die Wurzel der Schuld aber wird offenbar als ein beiderseitiges Versagen des Hörens: Die Stimme der Wahrheit wurde überhört oder übertönt. Es ist eine lebensgefährliche Verkürzung des Hörens, wenn der Sprechende nur auf die lauschend wartende Empfänglichkeit der Partner und wenn der Hörende nur auf die Bezauberung durch das seinen Sehnsüchten entsprechende Wort hört. Wachend bereit für das Gericht der Wahrheit, werden sie allein unbetrogen bleiben in der Ehe des Vertrauens. Die Wahrhaftigkeit ist freilich kein Nachschlagebuch, anhand dessen man mit allen begegnenden Worten schnell fertig werden kann. Im Gegenteil, sie läßt uns nicht los, bis wir uns ganz und mit letztem Eingehen um jedes Wort bemüht haben, ohne vorgefaßte Festlegung. Doch nur wenn wir weiter hören als bloß bis zum begegnenden Wort, werden wir dieses ganz hören und ihm auch ganz gerecht.
Eines aber ist gewiß: Die Lehre des Mißtrauens ist eine falsche Lehre aus der schlechten Erfahrung, die wir im großen Betrug mit dem Wort und mit dem Hören gemacht haben. Denn im Mißtrauen versagen wir es nicht nur dem Wort des anderen, sondern auch dem eigenen Hören, das Wort der Wahrheit zu vernehmen, und so fallen wir erst recht unbemerkt heimlichen Versuchungen und Verführungen zum Opfer, die um uns sind. Wir liefern uns nicht mehr aus, aber wir sind ausgeliefert. Die Entscheidung kann nicht umgangen werden, der umgangene Entscheid ist getroffener Entscheid.