Einleitung zum Dokument: Der priesterliche Dienst

Der gute Hirt und der priesterliche Dienst

Die Spannung von missio und communio erscheint im Bild vom guten Hirten als die Spannung des Daseins Christi selbst. Das Bild des Hirten ist Ausdruck der Hoheit. Im Johannes- [20] evangelium wird durch die Aussage des Christus, daß er der gute (das heißt: wahre) Hirt sei (Joh 10,11.14), nicht oder zumindest nicht nur ein Bezug zu anderen Gestalten der Menschheitsgeschichte, sondern primär ein Bezug zu Jahwe als dem Hirten seines Volkes hergestellt. Jesus ist damit beauftragt, das richtende und rettende Handeln Gottes in seiner Sendung wahrzunehmen (vgl. Joh 5,21–30). Die Weise aber, wie Jesus das tut, ist die Hingabe, die Selbstaufgabe ins Dasein für die Herde, in die radikale Gemeinschaft mit ihr. In der Selbsthingabe erweist er sich als der Hirt jener, der die Zersprengten und Verlorenen sammelt und alle in ihr Leben und ihre Einheit hinein rettet (vgl. Joh 10,15–16). Es ist Sache seiner missio, die umfassende communio zu stiften.

Indem der synodale Text das priesterliche Tun Jesu von seiner Selbstexplikation als der gute Hirt her begreift, erhält der Blick auf das „Priesterliche“ eine entscheidende Ausweitung. Das Spezifische des Priesterlichen, die Hingabe als Opfer, die Funktion der Stellvertretung und Vermittlung, wird der Möglichkeit entkleidet, nur punktuell betrachtet oder in einem verengten Sinn kultisch verstanden zu werden. Dieses „Priesterliche“ wird Ausdruck genau jener Spannung von missio und communio, die das Ganze der Existenz Christi kennzeichnet. Er ist in seinem ganzen Sein und Wirken jener, der vom Vater aus und auf den Vater zu und darum gerade für alle, ja mit allen da ist als der Diener aller, als das Brot für die Welt. Das sammelnde, suchende und leitende Wirken des Hirten oder Königs, seine diakonia wird zum Interpretament für das Zeugnis und für das Opfer, für das Prophetische und für das Priesterliche (vgl. 9.4). Das Wort hört auf, bloße Belehrung zu sein, es ist das Sich-Hineingeben Gottes durch Jesus in die communio mit dem Menschen, und diese communio hat ihren Höhepunkt, ihre sie begründende und zusammenfassende Spitze in der Selbsthingabe Jesu, in welcher die Fleischwerdung des Wortes in ihr Äußerstes gelangt. Das „Sakrament“ führt so aber gerade nicht zum isolierten Ritualismus, sondern zur totalen Kommunikation; es wird, mehr als bloßes Wort, gerade ganz Wort. Dieses Verhältnis beschäftigt die Synode ausdrücklich im ersten Punkt, den sie im Zusammenhang mit den praktischen Fragen über Leben und Dienst des Priesters behan- [21] delt: In der gegenseitigen Integration von Verkündigung und Sakrament sieht sie ein Kennzeichen der Sendung des Priesters (vgl. 17).

Eine weitere Spannung ist im Hirtenbild impliziert. Hirt und Herde kennen einesteils keine „fließenden Übergänge“. Das Einswerden des Hirten mit der Herde setzt gerade das Gegenübersein voraus. In ihrer spezifischen „Funktionalität“ sind Hirt und Herde einander strikt entgegengesetzte Momente derselben Beziehung. Andererseits kennt auch der Nachtrag des Johannesevangeliums in der Perikope von der nachösterlichen Begegnung des Auferstandenen mit Petrus die Weitergabe der Hirtenvollmacht an den Apostel (Joh 21,15–18); noch andere Stellen des Neuen Testamentes, auf die der synodale Text zum Teil selbst hinweist (vgl. 12.2 und 4; Apg 20,28; Eph 4,11; 1 Petr 5,1–4), übertragen das Bild vom Hirten auf die Inhaber eines besonderen Dienstes in der Gemeinde. Diese Spannung steigert sich noch, wenn die absolute Einzigkeit des guten Hirten, der an Jahwes Statt seine Herde sammelt, in Betracht gezogen wird. Es muß jedoch als ein christologisches Grundmoment betrachtet werden, daß Einzigkeit und Kommunikation bei Jesus durchweg einander einschließen, ohne daß Teilgabe die Einzigkeit aufhebt. Teilgabe, die die Einzigkeit nicht aufhebt, sondern wahrt und sichtbar macht, stiftet aber Repräsentation.

Was erbringt diese Bemerkung für die Priesterfrage? Als Sinn des Gegenüber von Hirten und Gemeinde, das oben bereits als konstitutives Strukturmoment der Kirche begegnete, trat die Offenheit der Gemeinde über sich hinaus auf Jesus zu in den Blick. Gerade dadurch, daß die Gemeinde den Dienst von solchen, die zu ihr gehören, über persönliche Leistung und Fähigkeit hinaus auf Jesus hin zu lesen hat, werden die, die in seinem Namen verkündend, leitend und sammelnd, den Leib und die Vergebung des Herrn gewährend, in ihrer Mitte sind, radikal relativiert. Es geht nicht um sie, sondern um den Herrn in ihnen, mit dem sie in doppelter Beziehung stehen: Einmal ist es das Wort, das Sakrament und die Liebe des Herrn, die sie als Verkündiger, Liturgen und „Hirten“ in der Gemeinde lebendig und wirksam zu halten haben. Zum anderen aber ist ihr konkreter geschichtlicher Dienst durch eine ihrerseits ge- [22] schichtliche Kontinuität mit dem einmaligen Ursprung in Jesus Christus verbunden; dieser Dienst garantiert die konkrete Herkunft der Gemeinde aus dem von Gott in Jesus in die Geschichte hinein gesetzten und darum geschichtlich zu vermittelnden Anfang (vgl. 12. bes. 2–5 und 8).