Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Der Hirt

Kein anderes Bild aus der Predigt Jesu hat sich in der Geschichte so tief mit dem priesterlichen Dienst vermählt wie das Bild des Hirten, des Pastor bonus. Johannes entfaltet im 10. Kapitel seines Evangeliums die Aussage: „Ich bin der gute Hirt“ (vgl. Joh 10,11–18). Es ist alles eher als ein sentimentales, es ist ein provokatives Bild. Denn der Hirt, als welcher sich Jesus hier bezeichnet in diesem herrscherlichen „Ich-bin“, kann eigentlich nur Jahwe selbst sein. Gott ist in ihm, Gott nimmt in ihm sein Herrschertum wahr. Doch es ist eben Herrschertum der Liebe, der Hingabe ; und so steht es im Gegensatz zu jener prophetischen Schelte der Hirten, die Gott eingesetzt hat, die ihm aber, dem einzigen Hirten, seine Herde nicht hüten, sondern sich selber weiden (vgl. Ez 34,1–10; Jer 23,1–4; Sach 11,15–17). Wenn aber Jahwe selbst in Jesus sein Volk weidet, wenn Jesus der einzige wahre Hirt ist: wie ist es dann statthaft, dieses Hirtenbild für den Dienst in seinem Namen zu beanspruchen? Das Neue Testament selbst nimmt diese Übertragung vor (Apg 20,28; Joh 21,16; 1 Petr 5,2). Es ist dabei jedoch ganz klar: Menschlicher Hirtendienst verdankt sich der Sendung und dem Vertrauen des einzigen Hirten; die Herde, die Schafe sind sein. Und so wird für solchen Hirtendienst das Maß Jesu entscheidend. Es muß in der Weise, wie die Hirten Hirten sind, der einzige Hirt aufscheinen, zur Geltung kommen. Ziehen wir die Aussage des 10. Johanneskapitels mit der Aussage über [151] den Gotteshirten aus dem 15. Matthäuskapitel (Vers 24) zusammen, so ergeben sich die wesentlichen Kennzeichen des Handelns und Vorgehens des Hirten. Wir können sie, über die ursprüngliche Aussageabsicht hinaus, um der immanenten Aussagekraft des Bildes willen, aber zugleich durchaus in der Stoßrichtung der Texte wie folgt auf den Hirtendienst des Priesters hin formulieren: Der springende Punkt ist, daß der Hirt das Leben für die Schafe gibt. Er ist mit ihnen von innen her verbunden, es besteht eine Zusammengehörigkeit, die den ganzen Einsatz allererst ermöglicht, aber auch fordert. Dies ist das Kennzeichen dafür, daß in Jesus der Vater anwesend, daß in ihm Jahwe als der Hirt am Werk ist. Gottes Volk gehört nur Gott – und es gehört Jesus, dessen göttliche Sohnesherrschaft dadurch ans Licht tritt. Dies ist Verpflichtung für die Hirten, die seinen Hirtendienst ausüben und weitertragen. Sie selber gehören ihm, sie sind in ihm, er ist in ihnen – und daraus erwächst eine Zugehörigkeit der ihnen anvertrauten Menschen auch zu ihrer, der Hirten Existenz. Die uns Anvertrauten sind Gottes Eigentum, sie sind von Jesus in seinem Blut erworben, sie sind geheiligt wie eben das, was Gott zugehört. Aber da wir als Hirten selber Gott zugehörig sind, sind seine Schafe auch uns zugehörig, unsere eigene Sache. Das wesentliche Kennzeichen des Hirten ist dies: Es geht um ihn, wenn es um die anderen, wenn es um die Schafe geht. Nochmals ein Seitenblick zu Paulus: „Wer leidet unter seiner Schwachheit, ohne daß ich mit ihm leide? Wer kommt zu Fall, ohne daß ich von Sorge verzehrt werde?“ (2 Kor 11,29) Die anderen Züge des Hirtenbildes ergeben sich sozusagen als Entfaltung dieser Grundaussage. Der Hirt kennt die Seinen, und die Seinen kennen ihn. Ein Vertrautsein von innen her, eine Bereitschaft, auf den anderen einzugehen und sich dem anderen zu öffnen, klingt [152] hier an. Vielleicht wäre es indessen biblischer, hier noch auf etwas anderes hinzuweisen: Ist das Kennen nicht wiederum Vorrang dessen, der eben unser Wachen und Aufstehen kennt, der uns von innen her kennt (vgl. Ps 139)? Doch die Konsequenz für unseren Hirtendienst bleibt dieselbe: die Menschen ernst nehmen in ihrem Gekanntsein von Gott; sie von Gott her, im Lichte des Lammes also, kennen und sehen; über Urteile und Einschätzungen unsererseits hinauswachsen in die Verbundenheit, die aus der Zugehörigkeit der Erlösten zum Erlöser erwächst. Der Hirt ruft seine Herde, er weist ihr den Weg. Das heißt: nicht die Dinge und die Herde laufenlassen, sondern den Mut zur Wegweisung haben. Aber wiederum sind nicht wir jene, die sich auskennen, sondern es ist uns aufgegeben, den unbeliebigen und einzigen Weg der Wahrheit, den Weg zu weisen, den der Hirt selber uns voranging. Der Hirt kümmert sich um das Ganze, er sammelt und eint, er holt auch die Entfernten herbei. Die Sorge um das Ganze, um die Einheit ist Hirtensorge, die in Spannung, aber nicht im Gegensatz steht zu einem anderen Zug, zu jenem, den wir aus dem 15. Matthäuskapitel eintragen dürfen in dieses Bild: Der Hirt kümmert sich um den einzelnen, um das Versprengte, um das Gefährdete, geht ihm nach. Weil ihm am Ganzen liegt, weil er das Ganze zusammenhält, hat er die Leidenschaft für jene am Rand, für jene draußen. Wie von selbst tragen sich die Züge dieses Hirtenbildes vor in die Aufgaben des Priesters und zurück in das Bild dessen, der sich, ausgespannt ans Kreuz und hineingespannt in die äußerste Gottesfeme, gerade als der gute Hirt erweist. Erkennen – rufensammeln – nachgehen, und dies alles aus der Bereitschaft, das Leben zu geben, damit die anderen das Leben haben; das Leben zu geben, weil die anderen, weil alle zu mir gehören im Zugehören zum einzigen guten Hirten: dies ist die „pastorale Linie“ priesterlichen Dienstes.