Theologie als Nachfolge

Der innere Überschuß von Produktivität: Interesse

Gott „will“ unableitbar das Andere, das er in seiner „Mitte“, in seinem Sohn erschaut. Dieses Wollen ist ebenso auslösende Bedingung schöpferischer Produktivität wie Überstieg über eine bloße Logik der Produktivität, sofern diese von ihrem Woher, vom Ursprung und seiner Konstitution als Ursprung her gelesen wird. Die Grundfrage, die gestellt werden muß, um das Ganze der Produktivität, das Mehr der wirklichen Schöpfung gegenüber der bloßen Mächtigkeit und Möglichkeit zur Schöpfung einzuholen, lautet: Was bewegt den Ursprung zur Konkretion der Möglichkeit, was bewegt ihn zum Seinlassen von Anderem und darüber hinaus gar zum Sicheinlassen auf Anderes, zur „Geschichte“ seines Anderen und mit seinem Anderen? Ehe Bonaventuras Antwort auf diese Frage erhoben wird, muß nochmals auf die Logik der Produktivität zurückgeblickt, muß sie um einen weiteren Schritt ergänzt werden. Bislang war die ars aeterna, war der Sohn als Idee und je schon wirkliche Möglichkeit des Anderen aus der Aktivität des Ursprungs her in den Blick gekommen, er hat sich als Mitte vom Ursprung her gezeigt, wenn dieses Mittesein auch das Hineinreichen des möglichen Anderen in den Eigenraum der göttlichen Ursprünglichkeit mitumschließt. Bonaventura meint es mit der Mitte, die Christus ist, jedoch philosophisch bereits so ernst, daß er das Phänomenfeld erweitert, um Mitte als Mitte zweier sich begegnender Produktivitäten, um Mitte [77] als Mitte aus doppeltem Aufgang denken zu können, und dies so, daß durch solche Gegenseitigkeit die Einzigkeit des unbedingten Ursprungs gerade nicht geschmälert, sondern gesteigert wird. Die Logik der Produktivität läuft auf diesem Niveau in zwei Richtungen. Die Möglichkeit des Anderen wird nicht mehr nur von der sich in sie auslegenden Ursprünglichkeit, sondern auch vom ermöglichten Anderen selbst her gelesen. Diese Erweiterung des Phänomenfeldes hat in ihrem theologischen Kontext freilich den Einstieg in die Positivität geschehender Schöpfung, ja mehr noch: geschehender Heilsgeschichte zur Folge. Wie darin insgeheim doch bereits die Logik der Liebe am Werk ist, wird sich im nachhinein zeigen. Doch sehen wir einmal zunächst vom theologischen Kontext ab und auf ein – den Grundverhalt beispielhaft veranschaulichendes – Phänomen hin, an welchem Bonaventura sodann die theologische, näherhin heilsgeschichtliche Exemplarität der Mitte Christus aufdeckt:1 Wie kommt Sinnenerkenntnis zustande? Bonaventuras Antwort: Der Gegenstand erzeugt, indem er ist, zugleich sein Wahrnehmungsbild. Sein und In-Erscheinung-Treten sind eines und dasselbe, eines und dasselbe aber in einer genetischen Bewegung, welche die Pole „Sein“ und „Erscheinung“ unterscheidbar und gerade solchermaßen den Gegenstand, der zugleich ist und erscheint, unterscheidbar macht. Das Erscheinen aber – und in ihm das Sein – ist ein Hinsein auf Anderes, ein Drängen nach außen, um im Außen sich zu sich einzuholen, will sagen: um im Außen sich zu bewähren: Was erscheint, „will“ als es selbst erscheinen, als es selbst aufgehen; die Momente des Aus-sich (als Ursprung), Sich-gemäß (im Wahrnehmungsbild) und Um-seiner-selbst-willen (Aufgehenwollen als es selbst) sind auch hier gewahrt. Doch damit Erscheinen gelingt, bedarf es eines Weiteren: des wahrnehmenden Organs, das von außen und im Außen das Erscheinungsbild empfängt und dieses Erscheinungsbild auf seinen Ursprung zurückführt, ihn als diesen Ursprung erkennt und bestätigt. Um es aus der Logik des Gegenstandes und nicht aus der immanenten des Erkenntnisorgans zu sagen, die sich jedoch mit der ersten im Sinne Bonaventuras mühelos verschränken läßt: [78] Damit dies geschehen kann, muß das Wahrnehmungsbild in die Sinnlichkeit des Wahrnehmenden eintreten, sich mit seinem Organ verbinden, sich in ihm als die eigene Leistung dieses Erkenntnisorgans inkarnieren, aber gerade so inkarnieren, daß diese Leistung nicht als bloßer Entwurf, als bloße Fantasie, sondern als Empfangen des vom zu erkennenden Ursprung Ausgesandten erkannt wird.

Solche „Inkarnation“ des Wahrnehmungsbildes im wahrnehmenden Sinn bewirkt nun die Rückkunft des Ursprungs aus dem wahrnehmenden Außerhalb zu sich selbst. Der Ursprung wird sich selber aus anderem Ursprung zurückgegeben, er gibt zugleich sich selbst zurück, und er führt sein Anderes zu sich hin. Dies alles aber geschieht kraft der Selbigkeit des Wahrnehmungsbildes in seiner vielfältigen Herkunft: als ausgehend vom erscheinenden Ursprung und als ausgehend vom erkennenden Ursprung, als „Leistung“ des erscheinenden Ursprungs, als dessen Geschenk, als Leistung des erkennenden Ursprungs und sogar in letzter Konsequenz als dessen Geschenk an den erscheinenden Ursprung, der so gerade identifiziert, verifiziert wird. Dieses Wahrnehmungsbild ist die Mitte des ganzen Geschehens, der Knotenpunkt der doppelten Ursprungsbewegung, ihre Vermittlung – zugleich aber damit ihr Anfang; denn nur im erscheinenden Ausgang des Ursprungs in diese Mitte kommt das ganze Geschehen überhaupt in Gang. Die „Paradoxität“ oder – bonaventuranischer – das Wunderbare, die Kunst, daß das eine und selbe Bild der Selbstvollzug des Erscheinenden und des Erkennenden ist, dies ist die Achse der Logik auch des Erkennens, wie hier am Modell des sinnenhaften Erkennens dargetan wurde. Und nun Bonaventuras Sprung ins christologische Urbild: „Auf diese Weise erkenne, daß vom höchsten Geiste, der den inneren Sinnen unseres Geistes erkennbar ist, ewig das Ebenbild ausgeht, das Bild ist und Sohn; und daß jener hernach, als die Fülle der Zeit kam (Gal 4, 4), sich einte dem Geist und Fleisch und Menschengestalt annahm, was vorher niemals geschehen war, und daß durch ihn der Geist eines jeden, der jenes Ebenbild des Vaters durch den Glauben im Herzen aufnimmt, zurückgeführt wird zu [79] Gott.“2 Derselbe Sohn, der vom Vater ausgeht, kehrt von uns aus, von seiten der Menschheit aus, ja aus dem Herzen des Glaubenden, der im Glauben Jesus Christus „mitvollbringt“, zum Vater zurück. Wir dürfen uns hier zurückerinnern an die Position, die das Wort Gottes als Lobpreis einnimmt: aufgehend und zurückgegeben aus der Ursprünglichkeit der sich und das Wort verdankenden Gemeinschaft der Kirche3. In solcher Zweiursprünglichkeit, im Interesse des Ursprungs, sich aus seinem Anderen zu empfangen und mehr noch: dieses Andere zu sich selbst zurückzuführen, klingt Interesse überhaupt, somit aber jene Dimension an, in welcher Liebe als Liebe verstehbar wird.


  1. Zum folgenden De reductione 8. ↩︎

  2. Ebd. ↩︎

  3. Vgl. dazu die eher noch schärfere Fassung der doppelten Ursprünglichkeit bei Meister Eckart in seiner Predigt: Intravit Jesus in quoddam castellum, in: Meister Eckharts Predigten, hrsg. u. übers. von Josef Quint, 1. Bd.: Predigt 2 (Stuttgart 1958) 24–45. ↩︎