Wandern mit deinem Gott

Der Mensch als Wesen der Implikationen

In Mi 6,8 sind, schematisch herauspräpariert, fünf Implikationsvorgänge enthalten.

[247] Zunächst gibt die Anrede zu denken: „Man hat dir (bereits) verkündet, o Mensch …“ In den Versen zuvor richtete sich die Anrede an das Volk. Wechselt das Subjekt? Unabhängig von literarkritischen Problemen ist das eine doch klar: Vers 8 bezieht sich hier auf die Haltung des Volkes als ganzes und auf den einzelnen im Volk. Als Persönlichkeit ist er im Volk impliziert, und in der Persönlichkeit des einzelnen tritt das hervor, was Jahwe an seinem Volk als ganzem sucht. Mensch sein und Volk sein, Persönlichkeit sein und Kollektiv sein liegen nicht auseinander, sondern stehen in einer Zuordnung zueinander. Der einzelne ist er selbst und sein Geschlecht, er selbst und das Ganze.1 Im Ganzen als Ich angeredet sein, in mir das Ganze angesprochen sein lassen: erste Implikation.

Die zweite Implikation ist in der ersten mitgegeben und doch von ihr abzuheben, untrennbar von der ersten und doch als eigene Komponente in ihr präsent: die Implikation von Ich und Du ineinander. Gerechtigkeit üben und Brudersinn lieben, dies sind Haltungen, die das Volk als ganzes qualifizieren, aber von jedem einzelnen aus auf jeden einzelnen hin. In der Bundespartnerschaft mit Gott ist der Nächste mit der Würde der Unantastbarkeit versiegelt. Der Bezug zum Ganzen wird gelegt als Bezug zum Nächsten und umgekehrt.

Indem Ich und Du und in ihnen das Volk als Ganzes angeredet sind von Gott, indem er es ist, der am einzelnen, am Volk und am Verhältnis der einzelnen zueinander im Volk Brudersinn und Gerechtigkeit „sucht“, erfolgt die dritte Implikation, welche der Grund und die Spitze der beiden ersten ist: Gott selber impliziert sich in das menschliche Mitsein und so gerade in das menschliche Selbstsein. Das Mitsein ist der Punkt, an welchem die Bundespartnerschaft Gottes greift. Der einzelne hat im Volk Anteil an der Bundespartnerschaft mit Gott – oder, von der anderen Seite gesagt: Im Volk hat der einzelne Bundespartnerschaft mit Gott; so aber ist der Ernstfall dieser Bundespartnerschaft mit Gott die Bundespartnerschaft miteinander. Mitsein als Raum des Wohnens und Handelns Gottes, somit aber ein nicht bloß additives, konklusives, sondern wesenhaftes Einssein von Gottbezug und Mitsein des Menschen sind das Kennzeichen, der Knotenpunkt der hier sich erschließenden Anthropologie.

Diese erhält ihre Fülle indessen erst in einer vierten und fünften Implikation.

Um die vierte zu verstehen, müssen wir auf die doppelte Überraschung achten, die uns in Mi 6,8 erwartet. Statt der naheliegenden Forderung einer den Abfall wiedergutmachenden, direkt auf Gott bezogenen Lei- [248] stung wird bundesgemäßes Mitsein mit dem Nächsten, Gerechtigkeit und Brudersinn, verlangt. Und die in solcher Gerechtigkeit und solchem Brudersinn enthaltene und nach ihrer Ausdrücklichkeit drängende Gottesbeziehung ist nicht die der Leistung, sondern des Weges, eine Haltung, deren Kennzeichen die Innerlichkeit des dienmütigen Herzens und der Vollzug, der das Selbstsein direkt und ganz ins Spiel bringt, das Gehen, das Wandern mit Gott ist.

Gerechtigkeit und Brudersinn ersetzen also nicht das ausdrückliche Gottesverhältnis, sondern fordern es und qualifizieren es. Gerechtigkeit und Brudersinn (in der Einheitsübersetzung mit „Recht“, „Güte und Treue“ übersetzt) sind Tugenden der Wegpartnerschaft mit denen, die in derselben Situation der Bundespartnerschaft mit Gott leben. Das darin implizierte, daraus bewußt werdende, darin sich vermittelnde Gottesverhältnis kann dann aber nicht jenes einer sachhaften Äußerlichkeit von opfernder Leistung sein, sondern es ist selber weghaft, ist Wanderschaft mit diesem Gott, der als „dein“ Gott den Partner, als „dein Gott“ aber den Dienmut, das Ernstnehmen seiner Göttlichkeit heischt. Selbstsein als Mitsein, Selbergehen als Mitgehen qualifiziert den Menschen als einen, der unterwegs ist nicht nur von Gott und zu Gott, sondern unter Gott (Dienmut) und mit Gott (wandern). Innerlichkeit und Vollzug, Anderssein und Entsprechung zu Gott qualifizieren die wesenhafte Religiosität des Menschen.

Im weghaften und dienwilligen Gottverhältnis aber ist eine fünfte Implikation gegeben: die Welt- und Geschichtshaftigkeit des Menschen, und zwar des Menschen, gerade weil und sofern er sich zu Gott verhält. Wanderschaft impliziert ihr Wo, ihre Landschaft, sie ist eine zeithafte Bestimmung, eine Bewegung, die ihren Raum durchmißt. Zeit und Raum lassen sich beim Wandern nicht trennen, sie fügen sich ineinander. Geschichtshaftigkeit und Welthaftigkeit eignen dem Menschen. Sie eignen ihm aber, sofern er im doppelten Mit geht, im Mit der anderen, der Mitmenschen, von denen her, auf die zu und mit denen er sein Geschick hat, und im Mit, das ihn auf jene gewährende und rufende Macht bezieht, von der her die Schritte, die er setzt, nicht gleichgültig und beliebig sind und von der sich Sinn und Unsinn, Heil und Unheil seinem Weg zuschicken. Nicht als nichtssagende Figuren und Ornamente, sondern als Entscheid über die Sinnhaftigkeit des Ganzen und in Verantwortung angesichts dieses Ganzen geschieht Geschichte und ist Welt mehr als leere Matrize, ist sie Raum des Ganzen. Mitsein als Mitsein mit Gott hat Welt nicht nur als Bühne und Geschichte nicht nur als Rahmen, sondern Welt und Geschichte zeitigen sich aus solchem zweieinen Mitsein.

[249] So handelt der knappe Vers, den wir bedenken, vom Menschen, der die Menschheit und den anderen, der Gott und Welt und Geschichte umfängt und von ihnen umfangen ist.


  1. Vgl. Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst (Philosophische Bibliothek 340), Hamburg 1984, §1. ↩︎