Wahrheit und Zeugnis

Der Mensch als Zeuge der Wahrheit

So ausnahmsweise die Situation des großen und eigentlichen Zeugnisses fürs alltägliche Leben des Menschen erscheint, so transzendental bestimmt sie doch den Menschen im Verborgenen. Das Zeugnis ist unter Menschen das Seltene und doch so sehr das Wesentliche, daß es im Verborgenen alles Menschliche bestimmt und menschlich macht. Die entscheidenden Grundzüge des Zeugnisses begeben sich nämlich im Wort, in Sprache und Gespräch allenthalben. Durch das Wort, durch Sprache und Gespräch aber ist der Mensch er selbst: noch immer gilt jene alte Definition des Aristoteles, nach welcher der Mensch das Wesen ist, welches das Wort hat.

Und was begibt sich im Wort? So wenig dies das Wort erschöpft, so sehr geschieht im Wort doch immer auch: Aussage. Im Wort wird gesagt, wie es ist. Indem aber der Mensch sagt, wie es ist, sagt er selbst es: dieses zu sagen, freilich nicht nur im Wort, es zu sagen in der Gebärde, im Schrei, im Lied, im Tun, im Werk, im Schweigen, in der Liebe, im Tod, es zu sagen, Gestalt, Bestand werden zu lassen, es wie immer auch aufgehen zu lassen, es hervorzubringen, daß es ist, wie es ist, dies ist der durchgängige und alles einbegreifende Grundzug menschlichen Daseins. Der Mensch spricht aus, was ist, und vollbringt es damit, setzt es damit, gibt sich selbst dem mit und in das hinein, was ist, läßt es seine eigene Sache sein.

[67] Daß ist, was ist, ist die Sache des Menschen, es ist aber zugleich mehr als die seine. So sehr er es gestaltet, in seiner Aktivität und Produktivität, so sehr, ja noch mehr ist er zuvor der Vernehmende, ist er in all dem der Verantwortliche, Antwortende. Es ist so, das heißt, ich stehe dazu! Es heißt aber nur deshalb: ich stehe dazu, weil es auch heißt: dazu steht die Wahrheit. Mein Sagen sagt sich selbst als das Sagen der Wahrheit. Überall, wo Menschen sprechen, handelt es sich um sie; verborgen bestimmt sie je den Horizont. Überall wo Menschen sprechen, ist sie im Spiel. Überall aber ist sie so im Spiel, daß sie die Größere bleibt, im menschlichen Wort also je nur auf bestimmte Weise gezeitigt und sich zeitigend anwest. Indem die Wahrheit den Menschen angeht, geht sie ein in seine Zeitlichkeit, ja die Zeit des Menschen überhaupt ist Zeit, die er mit der Wahrheit hat, Zeitlichkeit der Wahrheit also. Und als der Zeuge dieser Wahrheit zeitigt er wiederum sie den andern, den Partnern des Gesprächs zu, verzeitigt er sie zugleich, indem er sie zeitigt.

Beides läßt sich nie voneinander trennen. Im Zeugnis wird die Wahrheit in die Zeit und so auf zeitliche Weise weiter- und wiedergegeben, im Zeugnis aber wird die Zeit auch je drangegeben an die Wahrheit, das Zeugnis ist Behauptung der Wahrheit in der Hingabe seiner selbst, in der Hingabe des Behauptens an die Wahrheit. Sie ist je größer als das Wort des Menschen, gerade dies wird aber im vergehenden Wort offenbar.

In Irrtum und Lüge geht diese Drangabe der menschlichen Zeit an die Wahrheit fehl. Doch ohne den Anspruch, ihr Sagen und seine Zeit der Wahrheit zu überantworten, wären Lüge und Irrtum nicht Lüge und Irrtum. Es gilt also ohne Grenze und Ausnahme: Es ist Wesen des Menschen: Zeuge der Wahrheit zu sein.

Diese transzendentale Bestimmung des Menschen ist freilich wesentlich anderer Art als die apriorisch selbige Strukturierung transzendentalen Subjekts. Daß der Mensch als der je Vernehmende zugleich der je Sprechende, im Sprechen aber der je Aussagende und in der Aussage der über die Aussage selbst Hinausweisende ist: solches [68] wird zwar im Menschenwesen seine gemeinsamen Strukturen erkennen lassen, die Wahrheit als das Bestimmende des Menschen aber ist nicht eine verfügbare Konstante, von der her sein Wesen auszumessen wäre, vielmehr ist sie das je neu Auf- und Angehende, das nie verrechenbare Ereignis, der stets neu sich zeitigende Ursprung, der Mensch aber ist so der ebenfalls je neu Gerufene, nicht Planbare und Manipulierbare von einer Idee her, sondern von sich her nur der je leer in die Gewärtigkeit für den Aufgang der Wahrheit Gerufene. Jeder Mensch ist Zeuge der Wahrheit, doch gerade deshalb kann ich von keinem Menschen aussagen und vorausberechnen, wie sich ihm und durch ihn die Wahrheit begeben wird. Daß aber Wahrheit sich begibt, daß sie zum Dialog, will sagen zum Vernehmen, zur Antwort, zur Verantwortung, zum Einsatz, zur Produktivität des Zeugnisses ruft, dies ist der Mensch. Dann aber ist das Gespräch des Denkens unter Menschen, dann ist die Philosophie als die Erhellung dieses Gespräches in sich selbst nie am Ende, und doch ist solches Denken die unverfügbare Offenheit für den Aufgang und Eingang der Wahrheit im Zeugnis eines Zeugen. Die Endgültigkeit und Letztgültigkeit von Zeugnis wird freilich nur in einem solchen Zeugnis zu erwarten sein, in welchem dem Aufgang der Wahrheit in der Zeit die restlose Hingabe der Selbstbehauptung des Zeugen und seiner Zeit entspricht. Nicht die Aussage als Gestalt kann das Endgültige des Zeugnisses sein, sondern die Ansage und Zusage, die in dieser Aussage geschieht. Diese Ansage und Zusage ist je größer als die Gestalt des Zeugnisses, und doch erhält von dieser An- und Zusage her auch diese Gestalt ihre bleibende und unüberholbare Kostbarkeit. Die Gestalt des Zeugnisses ist Steigerung ihrer Endlichkeit über sich hinaus und ist zugleich das Zerbrechen ihrer Endlichkeit. Der Einspruch der Philosophie gegen die endliche Habbarkeit der endgültigen Wahrheit trifft, so verstanden, den Anspruch der Endgültigkeit der Wahrheit im Zeugnis nicht.

Der Mensch als Zeuge der Wahrheit, dies sagt zugleich das Bleibende und Einende des Menschenwesens und der Anwesenheit der Wahrheit beim Menschen aus, zugleich aber auch die unabsehbare [69] Geschichtlichkeit des Menschen und der Wahrheit im Menschen. Weil im Zeugnis die Wahrheit selbst und die Zeit zusammengehören, gehören beide auch im Menschen und unter Menschen zusammen.