Das Verständnis vom Menschen aus dem Anspruch des Evangeliums
Der Mensch – das Wesen der Frage
Gewiß, es wäre nicht alles, wenn ich nur diese negativen Bemerkungen vom Menschen machen würde. Der Mensch hat zugleich die Chance und die Fähigkeit, in einem neuen Kontext auch neue positive Erfahrungen von sich selber zu machen, und gerade diese neuen und positiven Erfahrungen sollten keineswegs übersehen werden. Aber bleiben wir nun einmal einen Augenblick lang bei dieser negativen Ausgangssituation stehen, um von hier aus ins Positive dessen vorzustoßen, was denn darüber zu sagen sei, wer der Mensch ist. Eines jedenfalls scheint sich zu bestätigen: der Mensch ist [4] – und damit konvergiert der heutige Tatbestand mit dem, was eh und je vom Menschen galt und gilt – jenes Wesen, einzig jenes Wesen, dem es ansteht und zusteht, zu fragen, wer er ist. Das Tier fragt nicht, wer es sei, und Gott braucht nicht zu fragen, wer er sei, und um die Angelologie noch zu berühren, auch beim Engel hat der Sinn der Frage, wer er ist, wohl einen anderen als beim Menschen. Der Mensch aber ist vom Wesen her offenbar doch eben jenes, dem es zusteht, dem es gemäß ist zu fragen, wer er sei. Und wenn der Mensch sagt, diese Frage sei müßig in einem totalitären Bescheidwissen, oder wenn er deswegen die Frage ablehnt, weil er daran zweifelt, daß sie beantwortbar sei und er deswegen, weil ihm die Trauben zu hoch hängen, sagt, er brauche nicht zu wissen, wer er ist, dann ist beides gleichermaßen Zeichen verkürzter Menschlichkeit. Es gehört zum Menschen also, zu fragen, wer er sei. So viel ist die naturale Ausgangssituation: er ist das Wesen der Frage nach sich selbst, und diese Frage nach sich selbst lohnt offenbar.
Lassen Sie mich nun diese Frage in einem dreifachen Gang entfalten:
Ich möchte zuerst – ganz absehend vom Evangelium – einmal den Grundbestand herkömmlicher klassischer, gerade im Christentum bemühter Anthropologie ein wenig ganz banal ausfalten und aus einigen Formeln erheben. Ich möchte sodann das, was sich in diesen Formeln zeigt, in einem kurzen geschichtlichen Durchgang durchkonjugieren, um von der Ursprungszeit dieser Anthropologie im Griechentum bis zur heutigen Situation vorzustoßen und jene dreifache Krise, von der ich eben sprach, einzuholen. Ich möchte dann in einem Rückstoß, aus einem genuinen Verständnis des Evangeliums her noch einmal die Grundbestimmungen dessen rekapitulieren, als was sich der Mensch in einer klassischen Anthropologie zeigte, um Bestätigung und Umdrehung dieses Verständnisses des Menschen deutlich zu machen, und so eine christliche Antwort anzubahnen, die hineinstößt in die eingangs genannte dreifache Krise.