Vorspiel zur Theologie

Der Motor: das Interesse

Warum mag einer zu diesem Buch greifen? Es wäre müßig, alle möglichen Anlässe zu erwähnen. Sie lassen sich indessen insgesamt auf ein Stichwort bringen: Interesse. Das Interesse, meine Freizeit sinnvoll auszufüllen, das Interesse, was hinter diesem Einband steckt, das Interesse an der Sache des Glaubens und der Theologie – um willkürlich einiges herauszugreifen.

Wir können die Beobachtung verallgemeinern: Hinter allem, was wir tun, hinter jeder Bewegung, ja hinter jedem Atemzug steht ein Interesse. Wenn es uns nicht – bewußt oder ganz unmittelbar, vital – stets um etwas ginge, sänke unsere Aktivität, sänke unser Dasein in sich selbst zusammen. Dasein heißt angezogen, herausgerufen sein von etwas, um das es geht. Zumindest darum geht es, daß Dasein sich durchhalte, sich selbst erhalte.

Aber werden wir nicht sofort zu allgemein. Wir entdecken mehr vom Ganzen, vom Grundsätzlichen, wenn wir zunächst beim Einzelnen, beim Konkreten bleiben. [12] Fragen wir uns einmal vordergründig danach, was uns persönlich interessiert. Es ist ein bißchen zu pathetisch, zu weit über unseren Alltag hinausgegriffen, wenn wir sofort sagen: Gott, der Mitmensch, die Gerechtigkeit in der Welt. Ist es nicht ehrlicher, wenn wir zunächst die andere Dimension zur Sprache bringen: wir interessieren uns für Briefmarken, fürs Reisen, für klassische Musik, für Fußball? Wir nennen entweder Gegenstände oder Handlungen oder Werte. Doch genauer besehen, sind es jeweils nicht diese isolierten Dinge oder Akte oder Ziele, sondern ist es immer ein Zusammenhang. Die einzelne Briefmarke steht in einer ganzen Welt von Briefmarken, und diese Welt von Briefmarken ist wirklich Welt, weil der Mensch sich in ihr bewegen, etwas in ihr entdecken, im nicht ungefährlichen Extremfall gar in ihr aufgehen kann.

Oder nehmen wir den Fußball. Da sieht man deutlich, wie es im Grunde überall geht: Etwas lockt mich, etwas wird zum Reizwort für mich. Und wenn dieses Reizwort aufklingt, trete ich selber heraus aus meiner Müdigkeit, aus meiner Reserve. Ich bin plötzlich ganz anders da, ich bin in meinem Element. Doch was bringt mich in mein Element? Dieses runde Leder? Es wäre in sich selber nichts ohne das, was mit ihm passiert und passieren kann. Dieses Leder ist sozusagen der Knotenpunkt, in dem sich ein vielfältiges Geflecht verdichtet; das Geflecht des Spiels, das Geflecht der Spieler, das Geflecht derer, die am Spiel teilnehmen, sich fürs Spiel interessieren, weiter entfernt das Geflecht des Prestiges, des Erfolgs, der Freundschaften, des Reiseverkehrs, des Vereins, der Nation, kurzum all dessen, was sich um Fußball und Fußballfans konzentriert.

Das Stichwort für ein Interesse – zum Beispiel Fuß-[13]ball, Musik, Politik – trifft das Zentrum vieler konzentrischer Kreise, die ihm eine immer weitere Peripherie erbilden: das Interesse ist nie etwas Isoliertes, sondern stets ein ganzes Interessenfeld.

In diesem Feld liegt vieles, vielleicht gar alles. In diesem Feld stehe, gehe, bin auch ich. Wenn ich das tue, wenn ich bei dem bin, was mich interessiert, dann habe ich die Ebene gefunden, den Boden, der mich trägt, auf dem ich mich bewegen kann. Wir nannten es schon: Ich bin in meinem Element, ich gehe auf in dem, was mich interessiert. Dann aber stimmt zwar das Bild vom Mittelpunkt vieler konzentrischer Kreise – ich selbst drehe mich ja um mein Interesse –, aber es bedarf der Ergänzung. Denn daß ich mich um mein Interesse drehe, läßt mich nicht untergehen in meinem Interessenfeld, sondern läßt mich gerade aufgehen. Ich selbst werde Mitte. Nicht nur es interessiert mich, ich interessiere mich. Wie sehr es stimmt, daß ich Mitte werde, erweist die Gegenprobe. Wenn mich schlechterdings nichts interessiert, findet mein Dasein nicht die Achse, um die es schwingen kann, zerfließt und versinkt alles in einer dumpfen Gleichgültigkeit.

So tauchen im Interessenfeld immer zwei Mittelpunkte auf: das, was mich interessiert, und ich, der ich mich interessiere. Die Mitten werden zu Polen, zu aktiven Ursprüngen eines spannungsvollen Geschehens. Einerseits bin ich ergriffen, gepackt, mitgerissen von dem, was geschieht, ich gerate sozusagen in den Strudel meines Interesses. Aber andererseits bin auch ich der aktive Part: Ich engagiere mich, in mir werden Kräfte entbunden, die man vorher bei mir nicht kannte, ich komme selbst, komme ganz ins Spiel.

Prüft man näher nach, was im Spiel ist, wenn mein In-[14]teresse sich entfaltet, so zeigt sich dasselbe Geschehen in vierfacher Gestalt. Zunächst kann man sagen: Nur eines ist im Spiel, eben das, was interessiert. Alles verschwindet vor dem einen, auf das hin sich das Ganze konzentriert, etwa den Fußball. In einer weiteren Hinsicht, die nicht weniger ihr Recht hat, stellt sich das Interessenfeld als zweipoliges Spielfeld dar: die Sache und ich selbst. Und nochmals nicht weniger recht hat eine dritte Betrachtungsweise: die Vielen, vieles kommt ins Spiel. Die eine Sache und auch ich, wir sind hineingenommen in ein vielfältiges Geflecht von Beziehungen. Um beim Fußball zu bleiben: die Mitspieler, die Zuschauer, das Fernsehen, das Wetter. Qualitativ – und davon war bisher noch nicht die Rede – hebt sich von dieser Ebene des Vielen die vierte ab, die Ebene des Alles. Es ist nicht nur so, daß vielerlei und immer mehr bei einem einzelnen Interesse eine Rolle spielen, bis schließlich nichts mehr draußen ist. In dem Ausmaß, in welchem Interesse wirklich Interesse ist, wird es, wenigstens für den Augenblick, mein Alles, nimmt es mich ganz in Beschlag. Das ist nicht nur bildliche Redeweise; denn in der Tat: alles gewinnt seinen Stellenwert von dem her, was mich interessiert. Entweder es paßt, fügt sich ein in mein Interesse, oder es wird unbedeutend, fällt weg, verschwindet, wird zu nichts hinter meinem Interesse, oder es tritt in eine es gefährdende, meine Entscheidung herausfordernde Konkurrenz: Beruf oder Fußball, Familie oder Fußball?

Sonderbar, daß etwas für andere vielleicht Harmloses und Zufälliges, für mich ein solches Gewicht, eine solche Bedeutung gewinnen kann. Die Schlüsselfrage heißt doch wohl: Warum interessiert mich, was mich interessiert? Konkret: Warum spiele ich gerne [15] Fußball? Darauf lassen sich viele Antworten geben. Sie können immer wieder zu Weiterfragen und Gegenfragen anstoßen. Wenn man bloß grundsätzlich denkt, gibt es gewiß manche Möglichkeiten, sich ähnlich gut zu entspannen, Kameraden zu finden, seine Kräfte zu messen, sich zu ertüchtigen. Warum also gerade so und nicht anders?

In letzter Instanz weist ein Interesse nicht mehr über sich hinaus. Es ist einfach da, es trägt sich selbst, es gründet in sich selbst. Ich spiele Fußball, weil es eben Fußball ist, fishing is fishing (Ramsey). Löse ich solche Sätze wie „Fußball ist Fußball, Fischen ist Fischen“ aus der lebendigen Gesprächssituation heraus, dann werden sie zu nichtssagenden Tautologien, zu formalen, leeren Selbstverständlichkeiten. Daß eine Sache sie selbst ist und nichts anderes, ist der primitivste Grundsatz von Logik. In der konkreten Situation des Interessierten sagt solches Nichtssagende indessen alles: Was mich interessiert, geht aus sich selber auf, genügt sich selbst, erbringt aus eigenem Ursprung seine überzeugende, mich und alles neu erschließende Positivität.

Wird so aber das Interesse nicht zu dem, was Menschen trennt, was die Welt in ein beziehungsloses Nebeneinander vieler Welten auflöst? Des einen Welt ist Fußball, des anderen Musik, des anderen Politik. Aber was hat schon der Fußball der Politik, der Musik zu sagen? Fußballbegeisterte oder musikinteressierte Politiker sind kein ernsthaftes Gegenargument. Aber gibt es in meiner Welt wirklich nichts, was mich aus ihr hinaus- und in andere Welten hineinführt? Vielleicht finden wir die Brücke, den Überstieg gerade im innersten Punkt der je eigenen Welt, des je eigenen Interesses. Wer sich für nichts interessiert, der hat auch kein Verständnis dafür, [16] daß andere sich interessieren, ja sich begeistern können. Umgekehrt, wenn ich mich für etwas interessiere, dann entdecke ich: Zum Leben gehört Interessiertsein, das macht gerade den Menschen aus, daß er sich interessieren, hinreißen, über sich hinaustragen lassen kann. Und wo mir nun einer begegnet, der zwar an anderem interessiert ist, aber eben interessiert ist, da wird er mir zur Einladung, auch einzutreten in seine Welt. Mein Interesse wird Zugang zum Interesse überhaupt und so Zugang zu anderen Interessen, zu anderen Menschen, zum Ganzen.

Die Explosivität der einzelnen Interessen und der Welten, die sie erbilden, versperrt mitunter Seitenzugänge zu den anderen Interessen und Welten. Aber sie eröffnet einen Tiefenzugang: Im einzelnen Interesse tritt Interesse überhaupt, Interesse als der Motor des Daseins ans Licht. Die Exklusivität wird zur Inklusivität, der Einstieg ins Eine eröffnet den Überstieg zum Anderen, zum Ganzen.