Das Heilige und das Denken

Der neue Sinn von Gegenwart

Die vermittelnde Mitte des sich herleitenden zum hinweisenden Denken ist auf seiten des Denkens schweigendes Betroffensein im Übertroffensein jeder möglichen Antwort von der sich überfragenden Frage. Solche schweigende Betroffenheit läßt sich nicht in die Distanz des Beobachtens ablösen, in welcher der Aufgang des Heiligen präsentisch gefaßt oder doch aufgezeichnet werden könnte. Wo das Denken den Aufgang des Heiligen zur Sprache bringt, ist es bereits ein umgewendetes, ein „bekehrtes“ Denken, d. h. Denken, dem dieser Aufgang widerfuhr und dem in diesem Aufgang widerfuhr, schon eh und anfänglich im Geleit und in der Gewähr des Heiligen zu sein. Und die Sprache, zu der es ihn bringt, ist die des Bezeugens, Rühmens, Erzählens. Was bezeugt, gerühmt und erzählt wird, liegt über der Verfüglichkeit fürs Denken, über [48] dem Anwesen einer zu genießenden oder zu beschreibenden, jedenfalls: einer wie auch immer von der eigenen Macht des Denkens festzuhaltenden Gegenwart draußen. Und doch ist das Bezeugte, Gerühmte und Erzählte auf ausgezeichnete Weise dem im Bezeugen, Rühmen und Erzählen ekstatisch gewordenen, über sich hinausgewendeten Denken gegenwärtig.

Welcher Art nun ist solche Gegenwart?

Dem fassend verfügenden Denken und auch dem in der Gestalt bloßer Beobachtung sein lassenden Denken entgeht sie, entgeht mit und in ihr die Heiligkeit des Heiligen und also der Aufgang des Heiligen. Sie erschließt sich nur dem Denken, das seinen Weg zum Woher seiner selbst bis ins Verstummen aller Antwort in der letzten Rückfrage gegangen und so ins verdankende Verweisen übergegangen ist.

Es gilt, dieses Denken auf seine Weise von Gegenwart zu befragen. Gegenwart des Denkens ist immer Gegenwart des Denkens für sich. Und die Gegenwart des Denkens für sich, das in seinem umwendenden Übergang ins Verdanken sich als Denken durchhält, ja neu mit sich beschenkt ist, verlautet in der ihm aufsteigenden Frage: „Was ist mir geschehen? Auf einmal ist alles anders!“

Denken bewegt sich nicht mehr in einer ihre Schritte auseinander entwickelnden Geläufigkeit seines Fragens, es ist auch nicht mehr erstarrt in den Stoß, in welchem es diese Geläufigkeit losließ, weil keine Antwort mehr sinnvoll möglich ist – Denken findet sich vielmehr in einem neuen Weitergehen seines Umganges mit dem, was ist und was es selber ist; und darin eben, nicht als Gegensatz zum verweisenden Wegschauen des Denkens von sich selbst, sondern als ein selbes, als innere Helle dieser verweisenden Richtung erhebt sich die Frage des Denkens an sich selbst und zugleich über sich hinweg: Was ist mir geschehen?

Daß „auf einmal alles anders ist“, artikuliert sich in dieser Frage. Auf einmal, in einem Augenblick also, in einem Nu, das nicht vom Gang des Denkens zu sich selbst abgeleitet wurde, sondern in seinem Abbruch sich gewährte, geschah die Verwandlung des Den- [49] kens und des „Alles“, auf das hin Denken je nur Denken ist. Keine Veränderungen im Bestand dessen, was ist, keine formale Verschiebung der logischen Strukturen in sich meint dieses um- und durchgreifende Anderswerden, sondern eine andere Stimmung. Stimmung – das heißt hier nicht: Zutat zu einem Sein des Alles an sich oder zum Denken an sich, es heißt: Grundweise dessen, wie alles dem Denken und wie das Denken sich vorkommt, wie alles und es selbst sich ihm gibt, wie alles und es selber – ist. Der im Andenken gewahrte Augenblick der Verwandlung wendet aus sich dem Denken eine andere Weise von Gegenwärtigkeit zu, er zeitigt ihm einen neuen Sinn von Sein überhaupt. Sein: daß überhaupt etwas ist, und das darin entzogen Waltende und verborgen Bestimmende, dies ist anders geworden.

Die neue Gegenwärtigkeit, welche der dem Dahaben entzogene, aber im Andenken bewahrte Augenblick dem Denken eröffnet, macht das Denken allererst sich selbst gegenwärtig. Es fragt: Was ist mir geschehen? und nimmt sich darin aus der Betroffenheit jenes Augenblickes an sich. Sich selbst dasein, sich gegenwärtig sein bedeutet dem Denken jetzt aber gerade das Gegenteil von Subjektivität. Ihm ist etwas, oder nicht etwas, sondern das Eine, Große, Neue geschehen, und solches Geschehen ist ihm nicht mehr der Erklärungsgrund, den es in seiner eigenen Tiefe oder auch hinter ihr draußen findet, um sich so in seinem Selbst- und Allbesitz, und d. h.: in sich, zu beruhigen und zu schließen. Seine Gegenwart erschöpft sich nicht mehr in einer – allenfalls zu der ihr überlegenen causa prima hin verlängerten oder verlagerten – Einsamkeit mit sich selbst, in die es alles hineinbegreift und einordnet; es ist „gemeint“, indem ihm das Unsägliche geschah. Es ist Sich-Dürfen und Sich-Schulden, Andenken an ein gewährendes Zudenken, das nicht mehr vom Denken bewältigt, konstruiert oder einbegriffen, sondern nur mehr vernommen wird, indem es sich als Denken selbst vernimmt, selbst an sich nimmt. Seine Gegenwart ist nun Geschenk, Geleit und Gespräch von Gnaden der es an sich gewährenden Schranke seiner selbst.

[50] Denken und Alles, der Denken und alles in sich sammelnde neue Sinn von Sein, die gewährende Schranke selbst, sind gegenwärtig aus dem Augenblick der Zuwendung, den das Andenken bewahrt. Das Andenken bewahrt ihn nicht aus eigener Mächtigkeit, im Andenken geschieht das Weiterwähren der Gewähr ins Denken hinein. Ihr Augenblick ist nicht ein Vergangenes, Gewesenes, sein Zuvorkommen und das Je-schon-Zuvorkommen des Heiligen, das in diesem Augenblick ins Denken trat, sind keine abgeschlossenen Tatbestände, sondern weiterwirkende Mächtigkeit des Heiligen aus sich selbst im Denken, im Alles, im Sein. Das an-denkende Gewahren des Heiligen wird mit dem Heiligen nicht „fertig“ – dies gerade nicht. Sein Aufgang hat sich ereignet als Aufgang unerschöpfbaren Zukommens. Die Wende vom Woher zum Wohin, die sich dem Weg des Denkens begab, ist das Ereignis vorlaufender Zukünftigkeit und so gerade die Zeitigung neuer Gegenwart.

Sie unterscheidet sich von der verfügenden Gegenwart des Dahabens also nicht nur darin, daß sie Gegenwart im An-denken, im Rückverweis des Denkens auf eine ihm entzogene Gewähr ist, sie unterscheidet sich vom Dahaben auch darin, daß sie Gegenwart ist im verhoffenden Andenken, im Andenken, das sich beschenkt weiß aus Freiheit, die sich nicht in die Zeitigung einer Tatsache ablöst, sondern zeitigend, gewährend, somit unverfügbar und je neu des Zukommens mächtig bleibt. Nur das Zugleich von Andenken und Verhoffen konstituiert die neue Gegenwart und berührt die reine, als rein also nie nur gewesene Gewähr.

Denken hat nicht im Verdanken nun einmal, was es hat, es ist nicht mit einer noch so unerhörten Gabe „abgefunden“. Verstände es sich selbst, alles, das Sein als die Abfindung, als das in sein beziehungsloses Verfügen anheimgegebene Erbteil, so wäre es damit, wie der verlorene Sohn, in die Fremde der sich verzehrenden Einsamkeit gerufen; nur einer aus dem Andenken sich neu verhoffenden Hinwendung geschieht die neue Gegenwart. Bewahrte das Andenken nur, was sich begeben hat, wäre es das Konservieren gehabter Erfahrung des Heiligen, so wäre dieses ihm nicht mehr [51] heilig; denn das Bewahrte wäre mächtig aus der festhaltenden Kraft des Andenkens und nicht aus sich selbst, aus seinem im Andenken diesem zuvorkommenden Sich-Zudenken.

Eine Stätte ist „heilig“, weil an ihr Heiliges sich begeben hat; daß Heiliges sich begeben hat, heißt nicht, daß es ins Gewesene abgedrängt ist, sondern im Gegenteil, daß es hier um die Wege, daß es hier unterwegs ist, daß es sich hier zu erhoffen gibt. Ansonsten wird der Tempel zum Museum.

Das Denken selbst ist An-denken und Denk-Mal des Heiligen, weil es weiß: Alles ist anders geworden, es ist ihm etwas geschehen! Daß es dies weiß, heißt nicht, daß das Geschehene vorbei oder durch die Verwandlung vorbei wäre und von nun an, innerhalb dieses neu erreichten Standes, alles beim alten bliebe. Daß „auf einmal“ dem Denken das Umwendende widerfuhr, bezeichnet zwar einen unwiderruflichen Einschnitt im nicht umkehrbaren, eindeutigen Richtungssinn seines Geschehens, doch kann dieses von solcher Wende an gerade nicht mehr Bescheid wissend vorumgriffen werden, es gibt keine vorlaufende Geometrie seiner Kurve, sondern allein die offen bleibende Gewärtigkeit, in der das Denken auf das je Künftige aus gedenkender Hoffnung her sich ausspannt, unterwegs bleibt. So gerade bleibt es gegenwärtig und kommt das Heilige selbst ihm in seine rein gegenwärtigende Gegenwart.

Solche Gegenwart des Heiligen ist das aktive Gegenteil dessen, was Gegenwart gemeinhin bedeutet: nicht feststellbares und denkend aufarbeitbares, wenn auch faktisch nie erschöpftes Vorliegen, nicht Widerständigkeit, an der das Wahrnehmen sich bewährt und stillt und die es zugleich doch als seinen Bezugspunkt fordert, setzt und entwirft, sondern das im Augenblick offene und doch in seiner eigenen Offenheit gerade ausständige und vorenthaltene den Augenblick Zeitigende.

Nicht nur das Heilige, auch das als Denkmal und Verweis aufs Heilige hin von ihm neu geschenkte Seiende ist im umwendenden Augenblick auf verwandelte Weise gegenwärtig. Es ist nicht mehr vorliegend, verfüglich, widerständiger Gegenwurf denkender [52] Setzung, es wird vielmehr zum Jeweiligen, jetzt zu Bestehenden, jetzt Gewährten. Es tut sich nicht einem auskennendem Überblick, sondern nur einer selbst augenblicklichen Gewärtigkeit und Verfüglichkeit des Denkens an, bestimmt vom Heiligen her und auf es zu die „Situation“ des Denkens und seiner sich verdankenden Verantwortung.

Das Seiende ist nicht mehr in sich selbst unter Absehung seiner Gewähr in der ihm für immer und ewig vereigneten Gesetzlichkeit seiner selbst, seiner fraglosen Verwahrtheit im Sein zu verstehen; Denken nicht mehr als der überblickbare Besitz seiner selbst und darin des Seienden und des Seins; Sein selbst nicht mehr als die Beständigkeit seiner selbst und darin des Seienden und des Denkens, die ihren Sinn erfüllt im gesicherten Dahaben, in welchem das Denken alles in seine verweilende, im Grunde: zeitlose Gegenwart zwingt; Zeit nicht mehr als die Zubereitung des Seins des Seienden in seine „zeitlose“ Verfüglichkeit fürs Denken oder als die von der „zeitlosen“ Beständigkeit des Seins umspannte, das Seiende in sie einbegreifende Unbeständigkeit des Seienden; der Augenblick nicht mehr als ein Punkt auf der Linie verlaufender Zeit, mit einem aus ihr ableitbaren und in sie einbegreifbaren Stellenwert.

Auch der Augenblick selbst ist anders geworden in jenem Augenblick, in welchem alles anders geworden ist. Gewiß liegt in der Aussage, alles sei anders, ein Vergleich des Zuvor mit dem Hernach beschlossen, gewiß also eine sich durchhaltende Selbigkeit des Denkens mit sich und des Seins mit sich, in welcher die andere Verfaßtheit als eine andere zum Vorschein kommt. Ist so gerechnet der Augenblick nicht doch ein Punkt in der Folge der Zeit, die das Einzelne aus seinem Auseinander ins Innesein der einen Erfahrung und des einen Denkens sammelt und deren Gesetzen gefügig macht?

Nein. Denn: Wo das Denken in der zeitlos präsentischen Selbigkeit seiner selbst mit sich selbst und des Seins mit sich selbst verharrte, wo es die Zeit als eine bloße Funktion seiner selbst, sich als [53] Vorstellen und Sein als Vorliegen verstände, da käme ihm die Frage: Was ist geschehen?, der Ruf: Alles ist auf einmal anders! – da käme also der umwendende Augenblick überhaupt nicht vor, es bliebe alles in seinem vorliegenden Bestand, in seiner Stimmung und seinem Sinn: dasselbe und beim selben. Aus der währenden Selbigkeit des Seins und des Denkens je mit sich selbst, aus dem zeitlos präsentisch gewahrten Sinn von Sein heraus läßt sich der umwendende Augenblick nicht nur nicht ableiten, er ist darin wie nichts. Von innen her trägt die präsentische Identität des Denkens oder Seins nicht über sich hinaus, läßt keinen Vorblick aufs ihr Künftige, ganz Andere und so keine Identität über die Grenze des Anderswerdens von Sein und Denken im Ganzen hinweg zu.

Wohl aber läßt in der anderen Richtung der Aufgang dieses Anderswerdens, die Umkehr von Denken und Sein im betreffenden Augenblick das Andenken ans Früher und so auf eine neue Weise die Selbigkeit und Beständigkeit von Denken und Sein in der Verwandlung zu. Daß alles anders wurde, die Verwandlung, trägt die Selbigkeit, nicht umgekehrt; der Augenblick, in dem die Linie der verlaufenden Zeit abbricht, umspannt diese zugleich in seinem Neubeginn, nicht aber umspannt die Linie diesen Augenblick.

Doch welchen Sinn hat diese Selbigkeit, wie deutet sich das Zusammengehören von Jetzt und Zuvor, von verdankendem und verfügendem Denken, von Sein als je neuem Geschenkt- und Geschuldetsein und Sein als bleibendem Vorliegen? Im Augenblick, in welchem „alles anders“ geworden und dem Denken etwas geschehen ist, wird dem Denken doch allererst offenbar, daß es sich selbst geschehen, sich selbst also geschenkt, nicht Mächtigkeit aus sich selbst, sondern Ermächtigung ins Gespräch mit dem unsäglich es Ermächtigenden ist. Es begegnet ihm jetzt sein Sich-geschenkt-Sein von Wesen und Anbeginn. Die Frage, in die das Denken sich stellte und in die es sich über sich selbst hinaus losließ, zerstört nicht sein Sich-Gehören, sondern bezieht es auf sein ihm nicht mehr selbstmächtig erreichbares und gehörendes Woher. Haben, Besitz, zeitlose Präsenz, Vorstellen werden offen als die von sei- [54] nem Woher dem Denken gelassenen Weisen des Beschenktseins, in denen dieses da, aber nicht als ein solches da und offen, sondern verborgen oder vergessen war, sie gehören in die Geschichte, die dem Denken sein Sich-geschenkt-Sein schenkt. Diese Geschichte des Denkens mit sich als seinem Sich-geschenkt-Sein und Sich-Schulden ist das sich Durchhaltende, ist die Selbigkeit des Denkens und des Seins mit sich über den Augenblick hinweg – aber je nur aus dem Augenblick. Denn nicht von einem vorgängigen Außen, sondern von ihrem Sich-Begeben, von der Unablöslichkeit des Geschehens dieser Gabe her, auf daß sie Gabe sei, ist sie diese Geschichte.

Wenn gesagt wurde, die neue Weise der Gegenwart, nicht nur des Heiligen, sondern selbst dessen, was ist, sei nie abgeschlossene Jeweiligkeit, so heißt dies nicht, es gebe in solch neuer Zeitlichkeit kein Währen und Bestehen, es heißt vielmehr: auch das Währende und Bestehende steht nicht in sich oder in einem vom vorstellenden und verfügenden Denken besessenen Grund, sondern in der Gewähr einer je von sich her sich ereignenden und je neu zu gewärtigenden Zueignung.

Das „Ein-für-allemal“ der neuen Zeitlichkeit gemahnt an das „Ein-für-allemal“ der personalen Beziehung. Einem Du ein für allemal begegnet, mit ihm gar im Bunde zu sein, erübrigt nicht, sondern fordert und gewährt das je neue Aufeinander-Zugehen, beendet nicht, sondern eröffnet die Geschichte der gerade in der Stetigkeit der Treue unabsehbaren Augenblicke und Wendungen des Mitseins.