Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Der Ort der Analyse: die Selbstreflexion des Denkens
Die Bedingung, unter der das Denken sich als das Zugleich von Insichbleiben und Aussichgehen, das Aussichgehen aber gerade als Vollzug des Insichbleibens entdeckt, liegt darin, daß das Denken die Vernunft“, „sich auf sich selbst richtet“. Der Ort der gegebenen Analyse ist also die Selbstreflexion des Denkens.
Die Selbstreflexion setzt als Ausgangspunkt eine Unmittelbarkeit des Denkens voraus, in welcher das Denken nicht sich, sondern jenem zu gewandt ist, was ist. Das, was ist, weist sich hernach in der Reflexion, aber als vom Denken gesetzt aus. Diese Setzung des Seienden durchs Denken ist, für den Blick der Reflexion, objektiv früher“ als die Unmittelbarkeit des Denkens, die sich auf das, was ist, bereits eingelassen findet. Die Unmittelbarkeit zu dem, was als schon seiend vorgefunden wird, ist also nicht die der Vernunft an sich selbst, sondern die der Vernunft in uns1.
Die Vernunft in uns ist in solcher Unmittelbarkeit Vernunft denn sie ist das Aussein auf das, was ist, ist die Frage nachdem was ist, und ist die Setzung dessen, was ist, als seiend, und darin ist sie die Suche nach dem unmittelbar sich nicht gewährenden Sinn in dem, was ist, nach dem alles, was ist, unter sich begreifenden und somit alles, was ist, und das Denken selbst zusammengreifenden Zusammenhang.
Dieses Bemühen um die Einheit in dem, was ist, und dessen, was ist, mit dem Denken, treibt die Vernunft, wie wir sie in uns finden, bzw. wie sie sich in uns findet, hinter sich, will sagen: hinter uns zurück in die Reflexion auf Vernunft überhaupt, in welcher die unserer anfänglichen Analyse gefunden Verhältnisse und in ihnen eine tiefere Unmittelbarkeit der Vernunft aufgehen.
[46] Der Weg „zurück“ in die eigentliche Unmittelbarkeit der Vernunft, der Vernunft an sich selbst, beschäftigt Schelling am ausdrücklichsten in der Philosophie der Weltalter2. Er nimmt darin aber, wenn auch in gewandelter Gestalt, weil mit anderer Spitze desselben Problems, ein frühes Anliegen auf, das wiederum im System des transzendentalen Idealismus auf grundlegende Weise erörtert ist3. Die schon herangezogene Erlanger Vorlesung „über die Natur der Philosophie als Wissenschaft“ knüpft nach der Epoche der „Weltalter“ an derselben Aufgabe wieder an. Die Lösung ist uns schon begegnet: das Lassen des wissenden Denkens und die Ekstase in den Grund des Denkens, das rein denkende Denken als Vollzug der Freiheit. Von hier aus verstehen wir auch das mit der „intellektuellen Anschauung“ im System des transzendentalen Idealismus und in der Identitätsphilosophie Gemeinte besser, ohne der „Ekstase der Vernunft“ und der mit ihr sachlich identischen „intellektuellen Anschauung“ damit erschöpfend gerecht geworden zu sein: Es geht in ihnen um den Akt, in welchem das Denken als unser Denken sich läßt in das Denken, in die Vernunft an sich selbst, in das Sich-Erbilden des Seienden aus der Alleinigkeit und Ursprünglichkeit des sich suchenden und setzenden und darin in sich zurücknehmenden Denkens.
Dem sich durch Erinnerung in die ursprüngliche Vernunft kehrenden und zur Stätte ihres Selbstgeschehens depotenzierenden Ich erwächst als äußerstes die „kontemplative Wissenschaft“4, in welcher die Vernunft sich und darin alles vollbringt.
Indessen bleibt bei ihr Schellings letzte Philosophie gerade nicht stehen; sie gewahrt vielmehr, wie der Zwiespalt zwischen der allumgreifenden Ursprünglichkeit der Vernunft an sich und der unmittelbar ans erfahrbare Außen gebundenen, sich entfremdeten Vernunft in uns in der theoretischen Reflexion je nur theoretisch aufgehoben wird und wie in solcher Aufhebung das wirkliche Ich unversöhnt zurückbleibt. In der wichtigen 24. Vorlesung der Philo- [47] sophie der Mythologie wird dieser Befund zum Anlaß des Umschlags in die positive Philosophie5.
Der Denkweg der negativen Philosophie, der aus der objektiv betrachteten, in sich gekehrten Vernunft die Möglichkeit dieses Außen, dieser Entfremdung, dieser Ichwerdung der Vernunft ableitet, die Durchführung der Selbstkonstruktion der Vernunft bis zu dem Punkt also, an dem die wirkliche Erfahrung sich findet und die Vernunft ihre eigene Ohnmacht erfährt: dies muß jetzt noch außer Betracht bleiben.
Wir versuchen im folgenden zunächst, unmittelbar in jenen Gang des Denkens hineinzukommen, in welchem die Vernunft das Ganze ihrer bisherigen Bewegung nochmals überfragt und so in ihre eigene Abgründigkeit gerät. Dieser Gang ist Rückgang der Vernunft in sich, nicht geringere, sondern schärfere Selbstthematisierung der Vernunft als der versuchte erste Gang und wird in diesem Sinne auch von Schelling selbst zur Eröffnung der Philosophie der Offenbarung6 ausgeführt.
-
Wie es, in Schellings Verständnis, zu der in viele denkende Subjekte geteilten und mit einer Welt außer sich befaßten Vernunft genetisch komme, muß hier noch außer Betracht bleiben. ↩︎
-
Die Fragmente im Ganzen, bes. WA (I 29 30) 16, WA (II 5–8) 112/13. ↩︎
-
Prinzipiell III 395–399, die Ausführung in der Folge; vgl. betr. Rückweg und Erinnerung auf transzendentale Vergangenheit hin auch I 383, X 93 ff. ↩︎
-
XI 556/58. ↩︎
-
XI 559/60, 566/69. ↩︎
-
Bes. 8. und 12. Vorlesung. ↩︎