Unterscheidungen
Der Pluralismus des Nacheinander*
Zur Identität des Christlichen gehört, wie bereits gesehen, auch seine Geschichte, sein Eintreten in die Wandlungen menschlichen Welt- und Selbstverständnisses. Auch in Epochen christlicher „Stabilität“ herrscht die Dynamik der „Übersetzung“ desselben in je neue Verstehens- und Lebenshorizonte.
Wenn wir heute von einem Pluralismus des Nacheinander als einem Zeichen des Zeitalters sprechen, meinen wir indessen etwas Radikaleres, Tieferreichendes. Wir erwähnten es schon: die Welt, das Ganze, ist auf die Spitze unserer Poiesis gestellt. Wir sind zwar eingespannt in die Unbeliebigkeit der geschichtlichen Vorentscheide, die zur machbaren Welt, zur Welt der Technik geführt haben, wir sind hineingewiesen in den Funktionszusammenhang der Aktivitäten, ohne die diese Welt nicht besteht. Doch indem sich unser Freiheitsraum so durch die funktionale Angewiesenheit aller auf alle einerseits verengt, sprengt er sich andererseits immer neu, immer weiter auf. Was aus der Welt, was aus dem Menschen wird, hängt ab von dem, was wir jetzt tun. Unsere Poiesis stellt Weichen, entwirft Zukunft. Die Sinnfrage, die sich der Eindeutigkeit selbstverständlich geltender Antwort entzieht, die Sinnfrage, die eine verbindend-verbindliche Auskunft, was es mit allem auf sich habe, [100] zu versagen scheint, die Sinnfrage, die sich aufsplittert in den Luxus zum Funktionieren zusätzlicher, es allenfalls fördernder pluraler Weltanschauungen, diese Sinnfrage feiert ihr eigentümliches Comeback in der Not des Menschen um seine Zukunft, die er – so oder so – entwirft und für die er sich daher zur Verantwortung gezogen weiß.
Was hat das mit dem Pluralismus des Nacheinander zu tun? Warum ergibt sich aus dem Gesagten die Abfolge verschiedener, sich ablösender Deutungen des Menschen und der Welt, die eindringen in die horizontale Pluralität der Meinungen und Weltanschauungen?
Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik und die Geschichte als immer dichterer Verbund der einen Welt verändern in ihrem Verlauf die Basis der Fakten, die das Dasein bestimmen. Das praktische Verhalten, aber auch die wissenschaftlichen Theorien und nicht zuletzt die Gesamtentwürfe von Welt und Dasein sind genötigt, dem Rechnung zu tragen, Kurskorrekturen anzubringen, sich in Frage zu stellen, sich neu zu interpretieren. Dabei ist die jeweils maßgebende Frage eben die, wie es weitergeht, worauf es hinausläuft.
Genau das betrifft aber auch und gerade das Christliche. Es beruht seinem Selbstverständnis gemäß auf der ein für allemal in Jesus Christus gegebenen Zusage Gottes, in der alles und alle angegangen und angenommen sind. Dies ist das unterscheidend und verbindend Christliche, sein Fundament, auf dem es ruht – in den Dimensionen der Zeit ausgedrückt: seine konstitutive Vergangenheit. Zusage hat aber ihr Woraufhin, sie richtet ihren Blick auf die Zukunft. Auf welche Zukunft? Was ändert sich durch Gottes Zusage in Jesus für die Zukunft des Menschen? Dies ist die andere Seite desselben.
Und diese Zukunft, die in der Zusage Gottes mitgemeint und mitenthalten ist, bezieht sich eben notwendigerweise auf den Menschen, auf seine Welt, auf sein Selbst- und Weltverständnis. Dorthinein muß sich Gottes Zusage verfassen, um Verheißung für den Menschen zu sein.
Nun liegt es aber auf der Hand: Das Selbst- und Weltverständnis [101] des Menschen, in das hinein die Botschaft Jesu und der ersten christlichen Gemeinde sprach, war ein anderes als das heutige. Verschiebungen in der nur dann und gerade heute nur menschlichen, wenn auf Zukunft hin konzipierten Sicht des Ganzen haben Rückwirkungen auf das Verständnis des Christlichen. Dieses Christliche kann nicht einmal seine konstitutive Vergangenheit artikulieren, ohne zugleich die Sicht der Zukunft des Menschen und der Welt mitzuartikulieren. Beides hängt von Anfang an zusammen.
Es genügt nun aber nicht, einzelne weltbildlich bedingte Vorstellungen der Bibel oder der kirchlichen Lehre als zeitgeschichtlich zu relativieren und in katechetischen Bemühungen verständlich zu machen. In einer Zeit, in der dem Menschen seine Zukunft einerseits zur Disposition gestellt ist und in der sich zugleich ihm andererseits die Voraussetzungen dieser Zukunft unter der Hand verändern, wird auch die überkommene Deutung des Christlichen, das, was es für Mensch und Welt im ganzen sagt, mitbetroffen. Und so können wir denn im Verlauf der letzten Jahrzehnte mehrere große Wellen von Deutungsansätzen des Christlichen feststellen, die das inner- und außertheologische Bewußtsein – im Kontakt mit allgemeinen geistigen Bewegungen der Zeit – jeweils überfluteten und mit gewissen Phasenverschiebungen und in verschiedener Dichte das Gesamt der Äußerungen des Christlichen und zum Christlichen mindestens in Mitteleuropa bestimmten.
Die Vergröberung und Verkürzung, die der Darstellung dieser „Interpretationswellen“ in unserem Rahmen notwendig unterläuft, mag ein wenig aufgewogen werden durch den Umstand, daß in einer so „veröffentlichten“ Zeit des Sagens und Denkens weniger die feinen Konturen einzelner differenzierter Gedanken als die groben des Ungefähren und Schlagwortartigen das Bewußtsein bestimmen.1
Machen wir uns dieses Geschehen in schematischer Schärfe klar:
Das Weltbild der Bibel, das Weltbild auch der mittelalterlichen Theologie ist ein anderes als das der neuzeitlichen Wissenschaft. Erst lange nachdem sich dieses neue Weltbild im allgemeinen Bewußtsein durchgesetzt hatte, verloren indessen die alltäglichen [102] Wirkungen und Abschattungen des alten Weltbilds ihre sinnbildhaft-ordnende Kraft fürs allgemeine Bewußtsein: oben und unten, Himmel und Erde. Vielleicht vollzog sich der Wegfall alter Orientierungen gar erst, nachdem auch eine überkommene gesellschaftliche Ordnung im ganzen so brüchig geworden war, daß dies vor aller Augen und in aller Leben offenbar wurde. Das Schlagwort hieß „Entmythologisierung“. Sie beschränkte sich freilich nicht auf den Ersatz alter weltbildhafter Vorstellungen durch neue. Vielmehr wurde die Identifikation biblischer oder dogmatischer Aussagen mit kosmischen Vorstellungsmustern insgesamt fraglich. Mehr noch: Der Bezug der Heilszusage auf Fakten und Daten der „Außenwelt“ und auch die Identifikation christlichen Vollzuges mit institutionellen und sozialen Ordnungen, etwa in der Kirche, wurde suspekt. Das Zerbrechen alter weltbildlicher und gesellschaftlicher Ordnungen entzog dem Verständnis des Christlichen den Boden der Realisierung und der Vorstellung, in dem es sich lange kaum angefochten eingewurzelt hatte.
Die angedeutete Bewegung geschah nicht etwa durchwegs in einem Nein zu den betreffenden Lehraussagen der Kirche. Solches war der radikale Fall – doch es gab und gibt auch durchaus „kirchliche“ Spielarten dieses Trends, der sich dann in einem Zurücktreten der entsprechenden Vorstellungen, in einer Verlagerung des Schwerpunktes in Aussage und Verständnis des Christlichen manifestierte. Zur immer breiteren Rezeption moderner Wissenschaft traten die geschichtlichen Erschütterungen hinzu, die das Vertrauen in alles Vorgegebene, in alle in sich stehende und geltende „Ordnung“ schwinden ließen.
Doch wohin wandte sich die Interpretation des Christlichen, wohin siedelte die Deutung der alten Aussagen und in ihnen des göttlichen Anspruchs und Zuspruchs um? Das neue Stichwort, das die Zeit bis gut zum Ende der fünfziger Jahre bestimmte, hieß: Existenz.
Die eigene Innerlichkeit, die Grenzerfahrung, der personale Entscheid in der jeweiligen Situation, das Selbst im Ernst der Übernahme seiner Endlichkeit, das Paradox des Glaubens, der keine [103] Vorstellung, kein Außen, nichts anderes sucht als die im Glauben als solchem ergriffene und geschenkte Begegnung – derlei Worte und Gehalte steckten das Feld ab, in dem nun christlicher Glaube sich aussprach.
Die Bewegung der Infragestellung machte indessen hier nicht halt. Der Rückzug auf den personalen Entscheid war nicht zuletzt deshalb angetreten worden, weil nur die Redlichkeit der Verantwortung des je Einzelnen Hoffnung für ein Bestehen der Geschichte bot, in der das Vertrauen auf vorgegebene Ordnungen so schwer enttäuscht hatte. Doch drohte jetzt die auf den je Einzelnen gestellte Christlichkeit nicht gerade geschichtslos, weltlos, kommunikationslos zu werden? Gewiß, der Dialog, die Kommunikation vom Einzelnen zum Einzelnen, der Protest gegen Gewalt und Unfreiheit: solches ließ sich einfügen in die existentielle Deutung des Christlichen. Fielen die schwerstwiegenden Entscheide indessen nicht anderswo? Im Gestalten gesellschaftlicher Entwicklungen und Strukturen? Und zum anderen: die ideologiekritische Anfrage ans Christliche machte nicht halt, nachdem bzw. sofern es den Bereich des Äußeren und Objektiven der säkularen Wissenschaft überlassen hatte. Was sich als Existenz, als Grenzerfahrung, als Transzendieren des Selbst ausgab, mußte sich die Versuche einer psychologischen und soziologischen Erklärung und Entlarvung seiner Motive gefallen lassen.
Darum folgte aber der Welle existentieller Deutung des Christlichen eine weitere. Ihre Stichworte heißen: Evolution, Gesellschaft, Mitmenschlichkeit. Die Anlässe: Geschichte ist nur miteinander zu bewältigen; der funktionale Verbund aller mit allen erfordert eine ungeheuerliche gemeinsame Anstrengung. Die Zukunft scheint machbar, sie ist aber nur dann Zukunft, die den totalen Einsatz lohnt, wenn sie Züge des „Heils“ trägt, im Sinn einer totalen, freien Kommunikation. Der Einsturz des Himmels über uns, die kritischen Fragen an die Weltlosigkeit des Gottes in uns lassen den neuen Ruf ertönen: Gott vor uns.
Auf dieser Linie entwickelten sich im letzten Jahrzehnt Theologien in Fülle und mit großer Bandbreite, wiederum solche, die nur [104] andere Akzente setzen im überkommenen Glaubensgut und andere, die dieses radikal umdeuten in die Horizontale, in innergeschichtliche Vorgänge menschlicher Machbarkeit.
Wenn die Anzeichen nicht trügen, so kündigt sich indessen bereits wieder eine Relativierung der gängigen soziologisch-horizontalen Deutung des Christlichen an. Der „Einzelne“, der nur noch Helfer der Evolution und Planer oder Objekt gesellschaftlicher Strukturen wäre, entdeckt – und sei es auf die Weise des Ausbruchs in seelische Krankheit – den vom Planbaren unerreichbaren Rest seines Selbst. Und – noch deutlicher – der Zugriff ideologiekritischen Denkens läßt auch gesellschaftliche und evolutive Zielbilder nicht tabu. Gesellschaftliche Strukturen als solche und allein können die Spannung der Freiheit zu sich selbst nicht aufheben, da Freiheit sich durch keinen bloßen Automatismus vor sich selbst, vor ihrer Perversion zu Egoismus und Gewalt, zu schützen vermag. „Neue Innerlichkeit“ ist ein – freilich recht ungefähres, Widersprüchliches vereinendes – Stichwort für jüngste Tendenzen. Auch die Entwürfe einer Gesellschaft der Zukunft bieten so dem Absoluten keine unangefochtene Herberge auf seiner Wanderschaft durch die Bezirke menschlicher Vorstellungskraft.
-
Weil die folgende Übersicht ausdrücklich die „allgemeinen“ Grundzüge der einander ablösenden Deutungen des Christlichen im Auge hat, wird auf literarische Einzelbelege verzichtet. ↩︎