Unterscheidungen
Der Pluralismus des Nebeneinander*
Wenden wir uns zunächst dem Pluralismus des Nebeneinander zu.
Ist das Nebeneinander vieler Meinungen, ist der simultane Pluralismus der Standpunkte überhaupt eine Besonderheit unserer Zeit? Gehört es nicht im Grunde immer zum Menschenwesen, daß die Unendlichkeit seines fragenden Ausgriffs zur Wahrheit und die Endlichkeit der Bedingungen, unter denen dieser Ausgriff konkret Gestalt wird, zu einer Vielfalt von Lösungen und Deutungen dessen führen, was „die Wahrheit“ ist? Gewiß ist dem so. Und wer auch nur ein wenig etwa in die Geistesgeschichte des angeblich so „geschlossenen“ Mittelalters hineinhört, wird erregt von der Fülle und Schärfe des „Pluralismus“, der dort allenthalben zum Austrag kommt.
Doch hat jeder geschichtliche Meinungspluralismus etwas wie [93] eine jeweils gemeinsame Basis oder besser: einen umgreifenden Horizont, innerhalb dessen die Opposition der Meinungen stattfindet.
Hier aber hat sich seit dem Anfang der Neuzeit die Situation fundamental verändert. Es ist nicht mehr der Raum des Christlichen, innerhalb dessen die Gegensätze der verschiedenen Meinungen spielen. Das Christliche ist selbst nur mehr eine Spielart unter verschiedenen Grundansätzen, die Frage nach dem Sinn des Ganzen von Welt und Dasein zu beantworten.
Zwar wird mit Recht darauf verwiesen, daß die Basis zu dieser Entwicklung durch das Christentum selbst mitgelegt worden sei,1 durch die in seinem Schöpfungsglauben frei gewordene „Unbefangenheit“ des Menschen gegenüber den Dingen, durch die Lösung aus den Vorurteilen einer magischen Weltdeutung. Grundsätzlich ist es jetzt Sache des Menschen, die Welt zu interpretieren und zu gestalten. Doch gerade diese „Emanzipation“ des Menschen, aus christlichen Motiven ermöglicht, aber faktisch weithin gegen sich christlich begründende oder gerierende Autoritäten durchgesetzt, führte zum Pluralismus der Neuzeit, in dem das Christentum eine Sinndeutung der Welt neben anderen ist.
Auch diese Aussage ist indessen noch zu wenig radikal. Der gegenwärtige Pluralismus des Nebeneinander wird nicht eigentlich dadurch gekennzeichnet, daß der eine ein Christ ist, der andere ein Marxist und der dritte ein Anhänger fernöstlicher Lebensweisheit. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen wäre dann – vielleicht noch – der gemeinsame Nenner, der das Gespräch ermöglichte. Doch es gibt zumindest Anzeichen dafür, daß die Sinnfrage selbst aufgehört hat, das Leitende und Verbindende im Miteinander der Gesellschaft zu sein. Unbestritten: latent ist diese Sinnfrage natürlich allgegenwärtig. Aber mit ihr ist nicht mehr die allgemeine Hoffnung verbunden, daß sie eine eindeutige und endgültige Antwort finden könne.2
Gewiß gibt es auch heute noch eine „Selbstverständlichkeit“, die, in der Gesellschaft allgemein akzeptiert, ihr die Grundlage bietet, als Gesellschaft zu leben, einen in aller Differenz des Sich-Ver- [94] stehens gemeinsamen Daseinsraum zu gestalten. Die Gemeinsamkeit aller mit allen ist in unserer Zeit sogar in vielem noch dichter gewoben und weiter gespannt als je zuvor: alle sind auf alle verwiesen in das gemeinsame Geschick der „einen Welt“. Wodurch ist sie diese „eine Welt“? Was ist die diese Welt verbindende und somit konstituierende „Selbstverständlichkeit“? Es ist die „Selbstverständlichkeit“ der Wissenschaft und der Technik: sie bestimmen die Lebensbedingungen für alle, und diese Lebensbedingungen sind wesenhaft gemeinsame. Alle können nur mit-, von- und füreinander leben. Die Klammer, die uns zusammenbindet, ist die funktionale Angewiesenheit aufeinander. Die Ordnung, in der wir uns vorfinden, ist zwar unbeliebig, aber in solcher Unbeliebigkeit ist sie doch auf unser produktives und darin sie reproduzierendes, entwickelndes oder verfestigendes Tun, auf unsere ποíησις angewiesen. Wir müssen das Ganze „tun“ – sonst sind wir nicht und ist es nicht. Damit ist aber die Deutung des Ganzen, was es soll, wie ich damit zurechtkomme, hinter die Funktion als solche zurückgetreten. Deutungen, Antworten auf die Sinnfrage sind privatisiert, während das Tun, die Funktion als „sozialisiert“ erscheinen. Man kann seine „Deutung“, seine Meinung ablösen von der funktionalen Verklammerung mit dem Ganzen – wenn sie nur tauglich ist, das Funktionieren nicht zu stören, sondern ihm zu dienen. Der Raum ihrer Duldbarkeit ist sozusagen „technisch“ abgesichert.
Als „Zugabe“ zur Funktion, die unbedingt zu übernehmen ist, büßt die eigene Deutung des Sinnes des Ganzen aber die Totalität ihres Anspruchs ein. Einerseits ist diese Deutung jedem einzelnen „freigestellt“, andererseits ist sie für den einzelnen selbst relativiert, da man auch mit anderen Deutungen oder ohne solche leben zu können scheint, und zum dritten erhalten Welt- und Daseinsdeutung überhaupt durch ihre von der Gesellschaft geforderte Funktion fürs Funktionieren den Zug zur Ideologie, zum bloßen Überbau.
Diese drei Elemente sind bedeutsam genug, um festgehalten zu werden: Sinndeutungen des Ganzen sind freier in ihrer Kommunikabilität denn je; Sinndeutungen werden in sich relativ, sie lassen [95] eine nur partielle Identifikation zu; Sinndeutungen gewinnen, im Kontext „funktionaler“ Gesellschaft, einen Anschein des Ideologischen.
Hier ist die Stelle erreicht, um die Auswirkungen zu reflektieren, die diese Entwicklung fürs Verständnis und für die Geltung des Christlichen hat.
Das Christliche steht in der Konkurrenz der Meinungen, ist eine Deutung der Wirklichkeit unter anderen, bekommt dadurch eher das Außenprofil des „Gesprächsbeitrags“ im Pluralismus denn des Bekenntnisses, das in sich steht. Das entspricht der freien Kommunikabilität der Meinungen, und infolge des immer dichteren Netzes der Kommunikationsgänge kommt es auch in der Tat zur immer dichteren Kommunikation. Es gibt immer weniger Reservate eines „Inneren“, in dem nur die Gleichgesinnten kommunizieren. Jegliches discretum und arcanum sind publiziert.
Das hat auch unter den Christen selbst für Verständnis und Ausdruck des Christlichen eine „verfremdende“ Konsequenz: Sie hören die Botschaft als „veröffentlichbare"; nur was „alle“ verstehen, dürfen und können, gilt. Argumente, die nicht ankommen, fallen aus. Man ist versucht, vom allgemeinen Verständnis her sich selbst zu formulieren – vielleicht statt den eigenen Glauben, die eigene Überzeugung von sich her in die Welt, in die Verständlichkeit für alle zu übersetzen. Solche Anpassung hat ihrerseits zwei Spielarten: Anpassung durch „Aufgeben“, Anpassung an das, womit alle ohnehin einverstanden sind – oder aber Anpassung durch Selbstbehauptung, durch plakative Profilierung des eigenen Standpunktes, um sich neben den anderen „sehen lassen“, um es „mit ihnen aufnehmen“ zu können. Konformismus und Polarisierung stehen grundsätzlich unter denselben Vorzeichen.
Solche Standardisierung des Christlichen für den öffentlichen und allgemeinen Gebrauch hat aber noch eine weitere Konsequenz: es führt dazu, daß Christliches, auch für Christen selbst, mehr nur Angebotscharakter, den Charakter eines kombinierbaren Menus auf der Speisekarte, erhält. Christlichkeit im öffentlichen und bürgerlichen Sinn geht mit der Möglichkeit zur bloß partiellen Identifi- [96] kation des einzelnen Christen mit seinem Christsein Hand in Hand.
Wo hingegen eine totale Identifikation vorliegt, wo Christentum als eine totale Antwort auf die Sinn- und Daseinsfrage betrachtet wird, da regt sich gegen das Christliche der Ideologieverdacht. Was sich der Relativierbarkeit im Austausch der Meinungen entzieht, muß sich ideologiekritische Analyse gefallen lassen.
Daraus resultiert eine doppelte „Stellung“ des Christlichen im allgemeinen Bewußtsein der Zeit: Sofern Christentum als eine unbedingte, endgültige, das Entweder-Oder einer radikalen Entscheidung fordernde Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen erscheint, erfährt es weithin Ablehnung. Es schlägt der gängig akzeptierten Offenbarkeit dessen ins Gesicht, daß jede Meinung relativ, endlich bedingt und verfaßt, mehr Anlauf der Deutung denn Ergebnis, mehr Perspektive auf Wahrheit zu denn deren Präsenz sei. Als besonders getönte Einfärbung der allgemeinen Ansicht der Welt und der Dinge, als Tradition, die Impulse auch für heute gibt, als Dynamismus der Evolution zum Menschlicheren, als ehrwürdige, der Transkription ins heute Akzeptierbare fähige und bedürftige Gestalt menschlichen Selbstverständnisses läßt sich Christliches hingegen einfügen ins innerpluralistische Gespräch.
Das Christliche findet sich vor dem Angebot dieser eigentümlichen Alternative des allgemeinen Bewußtseins: entweder es hält sich fest und gilt als Ideologie – oder es fügt sich in den Meinungspluralismus ein und wird zum relativierbaren Beitrag allgemeiner Wahrheitssuche.
Was aber ist das Christliche von sich her? Paßt es überhaupt zum Maßstab einer solchen Alternative?
Von seinem Ursprung her finden wir im Christlichen zwei aufs erste gegensätzlich erscheinende Tendenzen miteinander verflochten.
Zum einen kann kein Zweifel daran sein: Das Evangelium versteht sich weder von Jesus noch von den ersten Glaubenszeugen noch von der geschichtlichen Entfaltung der Kirche her je als bloßen Beitrag zur Menschheitsgeschichte oder als deren immanentes Ergebnis. Es sieht sein Fundament in Gottes ein für allemal gültigem, [97] die ganze Geschichte angehendem und einbegreifendem Handeln in Jesus.
Zum anderen aber ist die Botschaft von Jesus von Anfang an eingelassen in eine Vielheit von Denk- und Sprechweisen, die sich im Neuen Testament bereits in eine Vielfalt von Theologien hinein entfaltet. Von den vielerlei Erwartens-, Erfahrens- und Verstehenshorizonten der Menschen von damals her wird das, was Gott in Jesus wirkte, artikuliert, darauf wird es bezogen. Zur Eindeutigkeit des Handelns Gottes in Jesus gehört sein Richtungssinn, der schon früh in den Formeln des ὐπέρ und ἀντί, des „für“ und „anstelle“ gedeutet wird: es ist der Richtungssinn auf das Menschliche hin, zu dem seine Vielfalt, seine geschichtliche Differenzierung gehört.
Darin aber verbinden sich die zwei scheinbar gegensätzlichen Tendenzen: das Ein-für-allemal, das Endgültige und vom Menschen Unabhängige der Initiative Gottes verfaßt sich von sich her in die Vielfalt der unterschiedlichen Weisen menschlichen Aufnehmens und Sagens. Die eine Gemeinde aus Juden und Griechen (vgl. bes. Eph 2,11–18; Röm 15,7–12) steht fürs Wesen des Christlichen symbolhaft am Anfang seines weiteren Weges in die Geschichte.
Was heißt das aber für unsere Frage? Die Verschiedenheit der menschlichen Ansätze des Fragens, Denkens und Deutens sind angenommen in der Annahme des Menschen durch Gott in Jesus. Sie sind darin freigegeben an sich selbst, erlöst zu sich selbst, aber so gerade nicht nur sich selbst überlassen. Sie treten in solcher Annahme in die Krisis, in ihre Entscheidung: sie sagen nicht nur Menschliches so oder so, sondern sie werden beansprucht vom Handeln Gottes, das in Jesus so und nicht anders geschah und das in ihnen seine Eindeutigkeit und Endgültigkeit in die Offenheit, Vielfalt und Vorläufigkeit menschlicher Geschichte hineinsagen will.
Das Wort Gottes in Jesus Christus ist das Wort seiner Zusage an den Menschen. Zusage verfaßt sich jeweils in Aussage. Zusage kann, als Bindung, unbedingt sein. Die Zusage Gottes in Jesus versteht sich als unbedingt. Aussage als solche kann nie im selben Sinn wie die Zusage unbedingt sein; denn Aussage kann immer auch [98] anders geschehen, hat immer teil an der Endlichkeit der Möglichkeiten, in denen sie sagt, was sie sagt. Wo aber Aussage zum Ort von Zusage wird, hat sie teil an deren bindendem, im Höchstfall unbedingtem Charakter. Die Weise, wie eine Zusage ergeht, könnte auch eine andere sein; was die Zusage zusagt, gilt aber unbedingt, und ihr Ereignis, in dem sie als unbedingte Ζυsage ergeht, hat eine bestimmte Stelle und Gestalt. Diese Stelle und Gestalt sind der Verfügbarkeit enthoben, sie sind denkwürdig, sie müssen überliefert, bewahrt werden, indem die Zusage überliefert und bewahrt wird. Andererseits schließt das Überliefern und Bewahren die Übersetzung, die Neugewinnung der Aussage, gerade nicht aus. Denn die Zusage soll ja ankommen, und so muß sie sich jeweils dort aussagen, wohin sie sich zusagt. Daraus folgt die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, die Zusage Gottes in Jesus Christus in die vielen Sprachen und Denkweisen der Menschheit zu übersetzen, sie aber in dieser Übersetzung als die unbedingte, bleibende, gültige durchzutragen und zugleich ihre Bindung an den „Urtext“, an die erste und authentische Gestalt, in der sie sich als Zusage ereignet, durchzutragen. Eine von der Notwendigkeit der Übersetzung her gewonnene Pluralität der Aussageformen der christlichen Botschaft ist kein Verrat an deren Absolutheit; das – notwendig gleichzeitige und immer darin zu implizierende – Festhalten an der Identität und Unbedingtheit der Zusage und an der Unbeliebigkeit ihrer geschichtlichen Urgestalt wiederum steht, wofern Differenz von Zusage und Aussage bedacht werden, jenseits von fixierender Ideologie.
Das Christliche, seine Botschaft, versteht sich demnach als ein einziges Wort in der Geschichte der Menschheit. Ein Wort unter allen Worten gewiß, aber ein Wort an alle Worte. Weil Wort an alle Worte, gehört es aber zu ihm, Wort in allen Worten, Wort in allen Sprachen der Menschheit zu sein, sie aufzuschließen auf die eine, sie sich selbst gewährende, sie an sich selbst freigebende Zusage Gottes hin. In seiner „kritischen“ Funktion für alle Worte will das Christliche zugleich communio aller Worte ermöglichen und wahren.
[99] Das unterscheidend Christliche ist in diesem Sinne also das verbindend Christliche, die „Annehmbarkeit“ der vielen Denkweisen und Redeweisen des Menschen durch Gottes eines, sie annehmendes Wort.
Umgekehrt kann aber diese Möglichkeit des Christlichen das Ärgernis nicht zudecken: an einer bestimmten Stelle der Geschichte, in einem bestimmten und nicht hinweginterpretierbaren Wort und Geschehen, im Leben und Sterben, Sterben und Leben eines Partners dieser Geschichte hat sich diese Annahme alles Menschlichen durch Gott und diese Zusage Gottes an alles Menschliche begeben. Gerade das Verbindende des Christlichen ist sein Anstoß, seine Unterscheidung. Es gelten also beide Sätze: Das unterscheidend Christliche ist das verbindend Christliche; und: das verbindend Christliche ist das unterscheidend Christliche.
-
Vgl. z. B.: Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 4. Aufl., Stuttgart 1953. ↩︎
-
Vgl. Hemmerle, Klaus: Die verschüttete „Wohin-Frage": eine unumgängliche Frage, in: Hemmerle, Klaus/Hagemann, Wilfried (Hg.): Ein Gott ohne Zukunft?, München 1971, 73–91. ↩︎