Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Der Prozeß der Potenzen in der negativen Philosophie
Der schon entworfene Grundriß negativer Philosophie und die schon dargestellte Physiognomie der drei Potenzen als solcher erlaubt es, die Nachzeichnung ihres Ursachewerdens auf die wesentlichen Züge zu beschränken.
Wenn hierbei auch Texte ins Spiel kommen, die Schelling im Zusammenhang positiver Philosophie entwickelt, so rührt dies daher, daß Schelling die negative als das Bewußtsein der positiven versteht, das diese in sich setzt1. Der Prüfstein, ob ein Gedanke an sich selbst wesenhaft in die positive oder negative Philosophie gehöre, liegt in seiner „Richtung“: Wird vom Prinzip her auf die Positivität gesetzten oder offenbarten Seins zu gedacht, so halten wir uns in der positiven, wird in hypothetischer Entwicklung unmittelbar von den Potenzen her gedacht, so halten wir uns in der negativen Philosophie auf. Dieses Denken unmittelbar von den Potenzen her ist indessen als Instrumentarium in der positiven Philosophie gegenwärtig.
Wir legen unserer Darstellung vor allem den Text der 17. Vorlesung der Philosophie der Mythologie zugrunde2, allerdings wie- [206] derum, ohne uns auf ihn zu beschränken, und indem wir „unmittelbar“ das dort Gedachte auf den Text und mehr noch auf die Gesamtaussage Schellings über dieses Thema zu aus unserem Mitdenken heraus zu entwickeln suchen.
Die erste Frage, die sich erhebt, lautet: Was heißt, das Seinkönnende oder Subjekt gehe über, erhebe sich, entzünde sich, trete hervor ins Sein?
Wir versuchen, am eigenen Denken entsprechendes zu beobachten. Dazu kehren wir in den Urstand des Denkenkönnens, des noch „nichts“ denkenden Gedankens ein. Was geschieht, wenn dieser sich nicht festhält, wenn er sich aber auch nicht durch von außen ihn treffende Eindrücke oder durch von außen an ihn herantretende Programme bestimmen läßt, sondern sich einfachhin sich selbst, seiner inneren Dynamik überläßt? Wir können es nicht eigentlich sagen, weil in diesem Sagen bereits eine Bestimmtheit und Umgrenztheit in dieses Vor-sich-hin-Denken tritt, die es an sich selbst gerade nicht aufweist. Wir können nur den Unterschied dieses anfänglichen Denkens von dem bestimmten nach ihm und von dem lauteren Nichts der Urständlichkeit vor ihm erinnernd benennen, können es als das schlechthin schweifende, chaotische, vielleicht: phantastische Denken bezeichnen. Es ist das Gegenteil des reinen Urstandes, in welchem die Strebung des Denkens zum Etwas-Denken an sich gehalten und es so einem nicht wollenden Willen zu vergleichen war, und ist das Gegenteil auch des bereits geformten Etwas-Denkens, das einem entschiedenen, begrenzten, vom Willen bestimmten Wollen entspräche: Es ist so ein „bloßes“ Wollen, ein „willenloses Wollen“ 3, die abstrakte Dynamik des „Darauflosdenkens“, Leidenschaft ums Etwas, die allein das Etwas gerade nicht vermag, somit die genaue Umkehrung der Verhaltenheit allen Etwas im Urstand.
Was ist mit dieser Beobachtung gewonnen?
In der Tat der Ansatz zum Verständnis des von Schelling Gemeinten. Der noch unbestimmte Überschuß über sich selbst, den wir an unserem Denken beobachteten, gehört in das Denken, ist die gestaltlose Gestalt seiner sich selbst überlassenen, ins Außer-sich tretenden Urständlichkeit, sie ist der „Urstoff“, aus dem das Den- [207] ken seine Gedanken erbildet, aus dem sie auseinandertreten in ihre je eigene, unterscheidende Kontur. Ja, was „unser“ Denken je nur in „gemischter“ Gestalt zeigt, als das „annähernd“ Unbestimmte des „bloßen“ Gedankens vor seinem umgrenzten Etwasdenken, das ist in dem Denken als solchem erst eigentlich, als prinzipielle Dimension, als nicht ens quod, sondern reines ens quo, um es scholastisch zu sagen. Bedenken wir, daß der Standpunkt des „reinen Denkens“ der in seine Universalität geweitete und in seine ontologische Totalität vertiefte Standpunkt des transzendentalen Subjektes ist 4, sofern dieses – im Sinne des jungen Schelling – alles an der Erkenntnis setzt und auf kein erfahrbares Material außer ihm zur wesentlichen Konstitution seiner Gegenstände verweist. Was anderes sollte das erste für ein solchermaßen ursprüngliches, das Ganze seines zu Denkenden aus sich setzendes Denken sein als eben dies: seinem Denken die alles Gedachte ermöglichende Basis und Bödigkeit des „Etwas“ schlechthin, ohne Eigenschaft und Grenze, den – freilich geistigen – Urstoff der Vorstellung zu unterbreiten, aus dem alles konkrete Etwas sich erbildet und in dem es miteinander zusammenhängt, zueinander affin ist als gemeinsam die eine und ganze Realität (im Sinne von Sachhaltigkeit)? Und was ist dieser „Stoff“, dieses „Woraus“ aller Gedanken an sich selbst anderes als das gerade nicht Beruhigte, sondern Hervortreibende, das noch völlig unbestimmte Wollen des Etwas, das seine Bestimmung erst noch anziehen muß, um dieses und nichts anderes zu bezeichnen, um also ein wirklicher, definiter und definibler Gedanke bzw. eben: Gegenstand, ein bestimmtes Wesen zu werden?
In diese Urvorstellung5 tragen sich von selbst die Namen und Bestimmungen ein, die Schelling der ersten Potenz im Blick auf künftiges Sein, in ihrer hypothetischen Erhebung auf ein solches hin, zuerkennt.
Sie ist, im Blick auf das, was aus ihr entsteht, „das, aus welchem (ἐξ οὗ) alles ist“6, „erste bloß materiale Ursache“, als solche aber '„eigentlich nicht Ursache, da sie als die bestimmungslose, darum der [208] Bestimmung bedürftige Natur eigentlich nur leidend ist“ 7; im Rückblick auf ihren Urstand, als „Seinkönnen im transitiven Sinn“8, ist sie „doppelsinnig (natura anceps); Zweiheit (Dyas) im pythagorischen und platonischen Sinn, welche von selbst die unbestimmte , so aber auch in der Erhebung zum Sein „das nie eigentlich ist“ 9, seiende, sondern immer nur werdende“ 10 in ihrer unmittelbaren Erhebung angeschaut, zeigt sie sich und zeigt sich ihr Sein „als ein ἐξιστάμενον im eigentlichsten Sinn, als ein außer sich Gesetztes, das sich selbst verloren hat, als ein seiner selbst nicht mehr mächtiges Sein, weil es der Macht (Potenz), die es war, entsetzt ist, etwa wie der Mensch im unbändigen Wollen die Macht des Wollens, den Willen selbst verwirkt: erscheinen also wird es als ein willenloses Wollen, und … als das aus aller Schranke Getretene, an sich Grenz- und Bestimmungslose, als ganz gleich dem pythagorischen und platonischen Unendlichen (ἄπειρον), das freilich in der Erscheinung nicht anzutreffen; denn alles Sein, das in dieser sich findet, ist schon wieder ein in Schranken gefaßtes und begriffliches … Dieses seiner selbst ohnmächtige, also für sich eigentlich nicht sein könnende Sein wird dennoch der Grund und Anfang sein alles Werdens, und in aristotelischer Ausdrucksweise die erste, nämlich materiale Ursache alles Endlichen“ 11.
An dem von Schelling bevorzugten Modell des Wollens beschrieben: Aus dem „ruhenden Willen“, der das Seinkönnende an sich war, ist „entzündeter“ Wille, somit „willenloses Wollen“ geworden, das es gerade nicht mehr in der Hand hat zu wollen oder nicht, sondern seinen Charakter des Könnens in ein blindes, durch sich selbst nicht zurückrufbares Sein verschwendet hat. Das „Potentielle“ der Potenz ginge mit ihrer Aktualisierung verloren, wäre sie nichts als Potenz. Und auf dieses „bloß Potentielle“ in seinem Übergang versuchen wir ja zu achten.
Wäre das Denken im strengen Sinne „nichts anderes“ als Übergehen des Denkenkönnens ins Denken, so gäbe es gar kein Denken, weil es sein Denkenkönnen je schon verbraucht hätte, wie die Kerze, [209] die ihr Brennenkönnen im Brennen verzehrt, im Maße dieses Brennens nicht mehr brennen kann. Nur daß im Gegensatz zur Kerze beim Denken die Distanz des Könnens zum Akt, die Unerschöpflichkeit des Könnens durch den Akt zum Wesen gehört, Denken als Denken erst konstituiert12.
Das bloß Seinkönnende ist durch seine Erhebung in den Akt an sich selbst der Potentialität also entraten, wenngleich sein unmittelbar zu sich selbst erhobenes Sein im Vergleich zum vollständig verwirklichten Sein doch wieder nur „Seinkönnen“ ist, „nur im umgekehrten Sinne“ 13, Seinkönnen also, welches in das Sein nicht durch sich selbst übergehen kann, sondern darauf angewiesen ist, von außen die entscheidende Bestimmung zu empfangen, die ihm zugleich Wirklichkeit gibt und es doch darin gerade aus der eigenmächtigen Erhebung aufs neue und in neuer Weise zurückführt in den Status der Potentialität.
Am Zugangsmodell unseres eigenen Denkens angeschaut: Das Darauflosdenken muß durch eine begrenzende Bestimmung, die ihm als solchem gerade „äußerlich“ ist, dazu gebracht werden, erst wirklich etwas zu denken. So nur wird es Etwas-Denken und tritt darin gerade an sich selbst zurück, wird wieder zum tragenden Strom oder Grund des Gedankens, nur als solcher hemmt es das Denken nicht, das doch gerade mit ihm und durch es erst in seinen Gang kam. Die Dynamik des sich erhebenden Denkens wird in der Fassung, die ihm widerfährt, zum Substrat, zum ὑποκείμενον des gefaßten und somit selbst etwas fassenden Gedankens.
Die „Geschichte“ der ersten Potenz in ihrer Erhebung umfaßt also folgende zwei Bewegungen:
a) Das Seinkönnende erhebt sich von selbst, wie der Wille sich nur durch sich selbst aktualisieren kann. Das unmittelbar angezogene Sein des Seinkönnenden nimmt diesem seine Potentialität, nimmt es also sich selbst, stößt es ins „Außer-sich“, in die Materialität, Erstreckung, Quantität[^79], in welcher es ideeller Grundstoff[^80] dessen wird, was in Wirklichkeit sein kann.
<sup class="text__reference">[210]</sup> b) Hielte diese unmittelbare „Wirklichkeit“ des erhobenen Seinkönnenden sich als solche durch und fest, so käme es indessen gerade nicht zu etwas Wirklichem, sie ist in sich selbst unwirkliche, weil ungestaltete und nichts aus sich gestalten könnende Wirklichkeit. Die „erhobene“ erste Potenz bedarf einer Einwirkung, die ihre Entzündung stillt, ihren Überschuß eingrenzt und so ihre Hervorkehrung aus der Latenz, in der sie als das bloß ruhende Seinkönnende dem Seienden inne war, in eine neue Latenz zurücknimmt, in die Latenz der Quantität in der Gestalt, des Raumes im Räumlichen, des Stoffes in der Form, besser: des Grundes im Gegründeten.
Die strenge Parallelität, welche diesen Vorgängen im Denken und in dem, was es leistet, in der Konstitution des Etwas, eignet, erklärt den Sinn des Gesagten: wie der bloße Impetus des Denkens seinen ersten Ausbruch darstellt, der auf die konzentrierende Gestaltung angewiesen ist, um etwas zu denken, wie er sodann im Etwas an sich selbst wieder verschwindet, so braucht auch das Woraus alles Sein, der erhobene Wille des Etwas als solcher, die Begrenzung seiner selbst zu je diesem Etwas, um wahrhaft etwas hervorzutreiben; darin trägt er dieses Etwas und verschwindet doch in ihm. Daß dies vom Etwas nur bezüglich seiner ontologischen und transzendentalen Genese gilt, nicht von seiner ontischen Konstitution, versteht sich von selbst. Zugleich muß daran erinnert werden, daß das Verständnis dieser ontologischen und transzendentalen Genese von seinem Ansatz beim Seinkönnenden her schon vorentschieden ist aufs Etwas als Gegenstand. Sein ist hier wesentlich als Gegenständlichkeit verstanden.
Im Ductus des Gedankens drängt nun eine Frage hervor, die in unseren Zugangsbeobachtungen wie auch in den Denkvoraussetzungen des Ausgeführten bereits den Ansatz ihrer Lösung enthält.
Sie lautet: Woher und wie kann die begrenzte und somit verwirklichende Einwirkung aufs erhobene „Sein“ des Seinkönnenden erfolgen, die es zum Etwas gestaltet und das Seinkönnende wieder in sich selbst, in seine Latenz und Potentialität zurückführt? Wie also wird aus dem „Zeug“ von Realität überhaupt die konkrete res? Oder, ans Denken gerichtet: Wie wird das entbundene Denken zum gebundenen, faßbaren Gedanken?
Diese Fragen weisen indessen auf eine grundlegendere, in der [211] Ökonomie der negativen Philosophie „frühere“: Wie wirkt die Erhebung der ersten Potenz auf die anderen Grundbestimmungen des Seienden zurück?
Wir erinnern uns: Die Erhebung des Seinkönnenden in das seiner Natur nach unmittelbar intendierte Sein löst nowendig den Verband des Seienden, zu welchem die drei Grundbestimmungen einander ergänzten – wie dieses Entkommen des Seinkönnenden aus dem Halt durch die anderen Mächte geschehen könne, wies sich vor als schlechterdings unkonstruierbar, in seiner wirklichen Möglichkeit erst im nachhinein, am Ende negativer Philosophie, begreifbar.
Wenn aber das Seinkönnende als sich erhebend angesetzt wird, dann verändert es nicht nur sich, sondern notwendig das Ganze des Seienden: es „sprengt“ es auseinander, und somit verändert es wiederum notwendig die anderen Elemente des Seienden auch ihrerseits.
Die Formel hierfür heißt, bezüglich des Objekts oder rein Seienden: „das unversehene Sein“ der ersten Potenz „wirkt aufhebend auf das rein Seiende … Das Sein des rein seienden ist ein rein aus-, nicht auf sich selbst zurückgehendes, auf dieses wirkt das Sein, das zuvor nicht war, hemmend, aber eben damit wird jenes in sich selbst zurückgetrieben; das rein seiende bekommt eine Negation, d. h. eine Potenz, ein Selbst in sich, das zuvor selbstlose wird sich selbst gegeben, ex actu puro, das es war, in potentiam gesetzt, so daß jetzt beide Elemente gleichsam die Rollen getauscht haben, was in der Idee negativ war, positiv, was positiv, negativ geworden ist“14.
Welcher phänomenale Sinn schließt unserem Mitdenken diese formal einsichtige, aber aufs erste noch wenig sehen lassende Gedankenfigur auf? Wir kehren zu „unserem“ Denken zurück15. Was denkt das sich inmittelbar ins Denken loskettende Denkenkönnen? Nichts Faßbares, nichts Bestimmtes.
Im faktischen Denken trägt dieser chaotische „Vorschuß“ des eigentlich Gedachten indessen immer schon Elemente der Scheidung und Bestimmung an sich. Welches nun ist der Prozeß, der diese Scheidung und Bestimmung leistet? Die undeutlich aufstehende Vorstellung von etwas ist die Aktualisierung dessen, was sein kann.
[212] Nicht im Sinne logischer Denkbarkeit als Vereinbarkeit von Merkmalen – dies gerade noch nicht. Indem aber so ein bloßer „Vorwurf“ fürs Denken entsteht, spannt er das Denken, will sagen: jenes am Denken, das sein Können bislang in Ruhe hielt, das essentielle Wissen, den essentiellen „Akt“ des Denkens, das nicht faktisch, aber eben wesentlich weiß, daß ist, was ist. Daß ist, was ist, tritt hervor und wird zur Frage an das unmittelbar Entworfene, an das auf die Weise des Entwurfs ins Sein gesetzte Seinkönnende: Ist das auch etwas, das sein kann?
Daß ist, was ist, kann also nicht mehr auf sich beruhen bleiben, es wird aus seinem „selblosen“ Gelten in sich zurückgetrieben, um sich durchzusetzen, und so aus sich herausgetrieben: es muß sich bewähren an der selbstisch erhobenen „Vorstellung“ des Seinkönnenden und sie unter sich bringen, sie gestalten, ihre abstrakte Selbstmacht bannen und brechen.
Genau besehen, ist indessen in solchem Hinblick des dem Denken wesentlichen „Seins“ aufs Sein des Seinkönnenden, der erst das wahrhafte Seinkönnen des Gesetzten gewährleistet und entscheidet, bereits mehr im Spiel als nur das Potenzwerden, Gespanntwerden der zweiten Bestimmung: Indem das reine „Ist“ des Denkens in sich zur Frage an sein Gedachtes wird, hat es ein Maß für seine Frage genommen. Die Frage ist selbst kein blindes Einwirken aufs Befragte, sondern ein Wirken, das es und sich selbst unter sein Maß stellt. Kann das Gedachte auch wahrhaft so sein? heißt: Ist es, wenn es so ist, eines, das bestehen kann, das sich mit sich und mit allem vereinbaren läßt?
Die Frage nimmt Maß an dem Maß schlechthin, an der Denkbarkeit, in welcher das Denken allein mit sich einig ist. Seine Einigkeit mit sich hat es aber in der dritten Bestimmung, die ihm sein Wesen als seiend und seinkönnend zugleich gewährt und die nach außen dem Gedachten das entsprechende Maß setzt: Ist es eines, das sein kann? Kann solches eines sein, das, wenn es ist, ist? Und etwas ist eben, wenn es, zumindest per analogiam, „es selbst“ ist, stehenbleiben kann als dieses und nichts anderes – das Sein von etwas ist hier als Gegenständlichkeit und diese als die Vorläufigkeit des Beisichseins, als sich im Beisichsein, in der Selbstgegenständlichkeit vollendend, interpretiert. Auch die dritte Bestimmung des Denkens [213] kehrt sich also nach außen, wird mittelbar „Potenz“: sie wird „maßgebend“, wird das „Seinsollende“.
Im Blick auf den gedachten Gedanken eines Etwas hat unser Vorentwurf der Deutung des Denkens durch unser Denken seine unmittelbare Geltung. Hier tritt die Konstitution des Gedankens und die des Etwas von selbst in ihrer Entsprechung hervor: „Etwas“ kommt zustande durch die Begrenzung des diffusen, sich selbst äußerlichen Seins, sofern in dieser Begrenzung ein Woraufhin, ein Maß waltet, eben das des Seinkönnens als des Sich-Durchhaltenkönnens im Sein, des „Stehenbleibens“, der „Geschlossenheit“ eines Wesens in sich selbst im Unterschied von anderem Wesen.
An solchem Modell zeichnet sich die Beantwortung und der Zusammenhang beider von uns gestellten Fragen vor: Die Veränderung der anderen Prinzipien, welche die Erhebung des Seinkönnenden ausgelöst, ist zugleich Auslösung ihrer Reaktion, welche aus dem entzündeten Eigensein des Seinkönnenden „etwas“ Bestimmtes und Konkretes zustande bringt und so das hervorgekehrte Eigensein des Seinkönnenden wieder zu Grunde bringt, will sagen: in seine tragende Stellung als latenten Grund zurückbringt.
Der beschriebene Prozeß hat also im gesamten drei Stufen.
Konkret vom Denken gesagt: Erste Stufe: Das Denkenkönnen erhebt sich zum Entwurf der Vorstellung.
Zweite Stufe: a) Dieser Entwurf des Denkens setzt das Denken als wesentliches Wissen, daß ist, was Ist, in Spannung: es ist durch die erhobene Vorstellung in Frage gestellt, daß ist, was ist.
b) Diese Spannung kehrt sich aber in sich selbst um: Daß ist, was ist, stellt die Vorstellung als solche in Frage und richtet sie, subjiziert sie sich, das heißt aber: sie subjiziert sie dem „Maß“ dessen, was wahrhaft sein kann, dem Maß des in sich Stehenden, als in sich stehend Denkbaren, das würdig und fähig ist zu sein, dem Seinsollenden.
Dritte Stufe: Dieses Seinsollende tritt darin an der anfänglichen Vorstellung hervor und vollendet sie zu dem, was sein kann, d. h., was etwas ist, wenn es ist, vollendet also den Gedanken zu einem solchen, bleibenden, sich bewährenden.
[214] Formal von dem gesagt, was in solchem Denken sich vollbringt, der Konstitution von Seiendem, nicht mehr: des Seienden.
Erste Stufe: Das Seinkönnende erhebt sich, gerät vom An-sich ins Außer-sich.
Zweite Stufe: Das erhobene Seinkönnende potentialisiert das rein Seiende, macht es zum Seinmüssenden bzw. Wirken-Müssenden, zur Wirkursache, zum „ὑφ` οὗ“16, von und unter dem das Seinkönnende als materiale Ursache, als „ἐξ οὗ“, erst in die Konstitution von Seiendem eingeht.
Dritte Stufe: Auch das als solches seiende Seinkönnende erhält in sich eine Potentialität, wenn es gleich selbst nicht in den Prozeß des Wirkens mit eintritt; es erhebt sich zum maßgeblich „Seinsollenden“, das – zu Beginn des Prozesses im Entstehenden schlechthin verborgen – am Ende in ihm sich restituiert, in Erscheinung tritt.
Es zeigt sich so als das οὗ ἕνεκα, als die finale Ursache17.
Der in diesen seinen Stufen ausgeführte Prozeß erhellt nicht nur die ontologisch-hypothetische Genese des einzelnen Seienden oder Gedankens, sondern zugleich das Gesamtgeschehen allen Etwas, den wesentlichen Stufenbau des Kosmos vom reinen Außersichsein der Materie bis hin zum als solchen vollbrachten Beisichsein im Menschen18. Das Interesse unserer Arbeit am Verhältnis des Denkens zu Gott läßt uns die Einzelheiten dieser Ableitung übergehen.
Die Exposition der drei Urbestimmungen des Seinenden als Ursachen von Seiendem in der negativen Philosophie umfaßt in sich selbst die Destruktion ihrer ursprünglichen Stellung und zugleich, im selben Zug desselben Geschehens, ihre Restitution. Sie sind, in Gehalt und gegenseitigem Verhältnis, dasselbe, ob „nichts“ ist, ob sie also nur das Seiende sind, oder ob „etwas“ ist, ob sie also Ursachen gewordenen Seins sind.
Im Entstand solchen Seins aus ihnen bestritten, bringen sie in ihrer Bestreitung doch dieses Sein zum Bestand und sich selbst in [215] ihren unbestrittenen Bestand zurück: Das Seinkönnende tritt im Bestand von Seiendem auf neue Weise in seine Subjektion, in sein Können, Grundsein, seine Latenz, das rein Seiende waltet als die wiederum unbestritten-gewährende Macht, daß ist, was ist, das Beisichseiende ist bei sich im Selbststand und Beisichsein des Entstandenen, tritt in ihm als das Seinsollende hervor und zugleich zurück aus der ungestillten Spannung des Sollens.
Es wäre indessen zu kurz gegriffen, wollten wir vermuten, daß diese anfängliche Restitution in der Exposition schon die endgültige und daß das Ende der negativen Philosophie erreicht wäre. Wir kennen bereits ihren Grundriß, der weiterführt, und können ihn in knappen Strichen nun vom inneren Gang der Entwicklung her ausfüllen.
Die Restitution der drei Potenzen in ihrem Ursachewerden hat ja nicht das Seiende, sondern Seiendes ergeben, solches also, das zuvor, im reinen Denken, gerade noch nicht zu denken war. Solches Seiende richtet aber eine Frage ans Denken. Es war zuvor, in der Zukehr der drei Urbestimmungen zueinander im Seienden, nicht; indem es aber – freilich erst hypothetisch und essentiell – nunmehr „ist“, ist doch nichts anderes, als was die drei Ursachen sind, was in ihnen ist. So muß es ja sein, wenn anders die den Ursachen zugrunde liegenden Urbestimmungen als solche den Inhalt des Denkbaren erschöpfend ausmachen.
Was heißt dann, daß hier „Anderes“ ist? Nichts anderes, als daß dasselbe ein anderes Mal und somit auf andere Weise ist. Ein anderes Mal: hier haben wir die entscheidende Bestimmung erreicht. Die drei Urbegriffe waren nur als prädikativ zu denken. Als prädikativ sagten sie „dasselbe“ aus, das Seiende. Im Seienden als in dem sie vereinenden Prädikat aber wiesen sie nicht auf sich, sondern auf eines, das sie ist, aufs Prinzip, in dem sie ihren Stand und ihr Zumal hatten. Das Prinzip war aber nicht als Prinzip in ihnen sichtbar, weil sie, als noetisch zwar auf es zu, aber nicht von ihm her, sondern von sich, vom Denken her gesetzt, es nur implizierten. Dies war ja der Anlaß, um dessentwillen die negative Philosophie in Gang kam: sie sollte das Sein der drei Urbestimmungen als Sein von sich her zum Austrag bringen, sie als Ursachen, Prinzipien ansetzen, um so das Prinzip an sich selbst freizusetzen.
[216] Was geschieht nun in diesem Sein der Ursachen, d. h. also im Wirken der Ursachen von sich her? Es geschähe nichts, wenn sie nicht aufeinander und so miteinander wirkten, dieses Miteinanderwirken als solches blickt aber hin auf ein selbes, an dem es sich als Miteinanderwirken bewährt, auf eines, das die drei Ursachen „ist“, ihr eines Gewirk.
In ihrer „Universio19, in ihrer Herauswendung aus dem einen Mal und Zumal, wenden sie sich notwendig zu einem neuen wesentlichen „Daß“ ihrer Übereinkunft, in welchem ihr Wirken steht, in welchem das, was sie „waren“, „ist“, will sagen: in welchem das, was sie im vorhinein und wesentlich sind, vorkommt.
Sie treten also auseinander, um miteinander etwas zu wirken und in diesem Gewirkten innezusein. Dieses „Innesein“ als die innere Einheit ihres Gewirkten und als ihre Einheit miteinander im Gewirkten ist Ziel des Prozesses. Es ist das von ihnen Vermochte und Zustandegebrachte und ist doch umgekehrt auch das sie wieder in ihren Stand, in ihr neues Mal und Zumal Bringende und Sammelnde. Sie sind diesem ihrer Inneseienden das „Prädikat“.
Hier hat die Eigenschaft des Prädikates, jenes zu implizieren, dem es Prädikat ist, indessen legitime Bedeutung. Dem absoluten Prinzip war durch seine Implikation im Seienden seine Stellung als Prinzip gerade verfremdet, dem Ergebnis der Spannung der Potenzen in der negativen Philosophie kommt es hingegen zu, „nach“ den Potenzen zu kommen, als ihr Implikat ihnen zu folgen – und doch folgt es ihnen derart, daß es sie „ist“, sie in ihre Einheit miteinander bindet.
Schelling faßt dies, wie folgt, zusammen: „Um eine Zusammenwirkung derselben“ (der drei Ursachen) „und also ein Zusammengesetztes zu begreifen, mußten wir stillschweigend eine Einheit_ voraussetzen, durch welche die drei Ursachen zusammengehalten und zu gemeinschaftlicher Wirkung vereinigt werden … Diese Einheit kann als eine wirksame nur in einer Ursache liegen. Es scheint also, daß wir zu einer vierten Ursache fortgehen müssen.“20
In dieser ihnen ihre Einheit gebenden und zugleich doch die eigene Einheit wesenhaft aus ihnen empfangenden vierten Ursache wird [217] die negative Philosophie zur Spiegelung des im reinen Denken Geschehenen, zur Erbildung des Seienden aus den drei Urbestimmungen als Prädikates des das-Seiende-seienden. Gerade in solcher Spiegelung, in solcher Selbigkeit des Geschehens in die andere Richtung hin erreicht sie ihren kritischen Punkt.
Bevor von ihm weitergedacht wird, muß das formal Umrissene in Schellings Aussage übersetzt werden. Dies geschieht im Geleit dreier Bezeichnungen, die Schelling von Aristoteles her für die vierte Ursache einführt, um dessen Vier-Ursachen-Lehre in seinen eigenen Gedanken einzuholen: τί ἦν εἶναι – εἶδος oder causa formalis – Seele21.
Wir sind im bisherigen Gang unserer Überlegung auf die erste der drei Bestimmungen zugegangen. Schellings Erklärung des aristotelischen Ausdrucks22 läßt sich so zusammenfassen: die constituentia des Wesens eines Seienden sind das ihm Vorgängige (das was war), sind seine in ihm aufbewahrte und währende „Vergangenheit“, zielen erwirkend auf die „Gegenwart“ dieses Wesens hin und haben in ihr sodann ihre immanente Einheit, ihr Zumal, ihr (selbst wesentlich verstandenes) „Daß“, ihr „Sein“, ihr Vorkommen, Erscheinen und Stehen. Das wesenhafte Aussehen einer Sache, die eine Gestalt, die es ist, versammelt den gründenden Stoff, das ihn gestaltende Wirken, die in solchem Wirken gesollte und gewollte Beständigkeit und Geschlossenheit in ihren einen Stand. Von dem in dieser Gestalt und als sie Seienden lassen sich diese sie konstituierenden Bestimmungen, zumal die in den beiden ersten angezielte dritte und in ihr auch die beiden ersten anschauen und aussagen. Das „Ist“ des „War“ ist so Gestalt, „εἶδος“23. Gestalt ist aktives Produkt, Ergebnis als Ursache, als „Akt“, „sie ist Jegliches selbst, im Beseelten also was wir die Seele nennen, welche als die Usia, die Energie eines werkzeuglich gebildeten Körpers erklärt wird, aber auch als τί ἦν εἶναι, und auch sie ist eines jeden eigene und nicht mehreren gemein“24.
Wie aber die Exposition der drei Ursachen sowohl den Entstand des einzelnen Seienden als auch den der Seienden im Ganzen be- [218] greift, so ist auch die vierte nicht nur Seele, Einheitsprinzip fürs einzelne Ding, sondern noch mehr und vor allem jenes, was dem Ganzen, dem Universum seinen Zusammenhang, seinen einen Akt, sein eines Sein leiht25 : Seele im ausgezeichneten Sinn als jenes, was „auf gewisse Weise alle Dinge“ ist26 „Seele“ als das anfängliche Wesen und der ursprüngliche Stand des Menschen.
c) Die hypothetische Erhebung der vierten Ursache
Als das, was die drei Ursachen sind, selbst seiend, steht die Seele – verstanden als die weltbeschließende und somit eigentlich erst weltstiftende, menschliche Seele – in spiegelbildlicher Entsprechung zum Prinzip schlechthin, zu Gott27. „Doch nur materiell, nur wesentlich wird diese Gleichheit sein, d. h. daß die Seele nur ist was Gott ist.“28 Ihre wesentliche Entsprechung zu Gott besteht darin, daß sie alles ist, was er ist, d. h., daß die Potenzen in ihrer Totalität ihr Anwesen in ihr haben, ihr Wesen sind.
Mußten, als Initiative zur negativen Philosophie, die Urbestimmungen des Seienden als Prädikate des das-Seiende-seienden, des Prinzips schlechthin, aus ihrer Verwechselbarkeit mit dem Prinzip heraustreten und als Prinzipien zur hypothetischen Wirkung kommen, so wird mit der vierten Ursache, ebenfalls hypothetisch, entsprechendes geschehen, damit die negative Philosophie in ihr gesolltes Ende finde.
Gerade in der „Verwechslung“ der Seele mit Gott, in ihrer Trennung von Gott also, wird das Prinzipsein Gottes sich letztlich gegen die Erhebung seines Anderen zum Prinzip und gegen die Trennung seines Wesens von ihm durch dieses Andere durchsetzen. Zuvor aber ist die „Verwechselbarkeit“ der Seele mit dem Prinzip als solchem zur Sprache zu bringen, es ist in der Entsprechung der Seele zum Prinzip ihre Differenz zu ihm zu bedenken. Sie kann in nichts anderem liegen als in jenem, worin auch die Selbigkeit liegt, in den Potenzen. Sie liegt aber nicht an dem, was die Potenzen sind – diese haben sich ja gerade in der Seele zur Selbigkeit mit ihrem urständlichen Befinden im Seienden regeneriert –, sondern liegt am [219] Verhältnis der Seele zu den Potenzen. Dieses Verhältnis zu den Potenzen ist zudem auch die Stelle, an welcher allein die Verwechselbarkeit der Seele mit dem Prinzip aus der Potenz in den Akt treten kann.
Sofern sich also in der Labilität der Seele, in ihrer Entsprechung zu Gott und in ihrem Fall wesentliche Geschichte der Potenzen als dessen begibt, was Gott ist, bleibt sie an dieser Stelle noch kurz nachzuzeichnen.
Das Gottsein Gottes stand bislang erst mittelbar im Zuge unseres Gedankens. Es war nur vom „Prinzip“ die Rede, das in sich selbst reines Daß, actus purus, unvordenkliche und in allem Denken bezeugte Wirklichkeit ist. Als Prinzip tritt es erst hervor, wenn es etwas hat, an dem es sich als Prinzip erweist, erst am Seienden als Wesen offenbart es sich als solches, als das das-Seiende-seiende.
Da das in sich geschlossene Seiende aber das Prinzip in sich schließt und also ver-schließt, kann das Prinzip nicht eigentlich an ihm als Prinzip offenbar werden, sondern nur an der Öffnung des Seienden, an seinem Aufgang in die Dreiheit der Potenzen. Das Verhältnis der Ursächlichkeit oder des Prinzipseins zu ihnen läßt indessen selbst zwei Stellungen zu: Entweder das Prinzip „ist“ die drei Potenzen derart, daß sie aus und nach ihm kommen, von ihm her Potenzen und also wahrhaft „seine“ Potenzen sind, oder es ist Prinzip als das von ihnen als ihre eine Mitte Hervorgebrachte, das in ihrer Mitte erst es selbst ist, von dem her aber auch sie wiederum die eine Figur seiner einen Peripherie erbilden. Die Gestalt des Seienden, seine Figürlichkeit im reinen Denken blieb zwischen beiden Lösungen unentschieden; das von ihr Gemeinte ist letztlich das Prinzip in der ersten, „eigentlichen“ Stellung, das von ihr Gesagte unmittelbar jedoch das Prinzip als impliziert.
Indem die negative Philosophie nun nicht vom gemeinten, eigentlichen Prinzip, sondern von der in Absehung von diesem sich auflösenden Unmittelbarkeit des Seienden ausgeht, schließt die Bewegung ihres Ausgangs und somit des Ausgangs der Potenzen aus dem Seienden zunächst ab in der Hervorbringung, also: Implikation des sie Seienden, des „Prinzips“ als eines nachträglichen, der „Seele“ also. Der unmittelbare Abschluß der hypothetisch entwickelten Weltfigur ist nicht Gott, sondern die Seele. Auf sie ist also [220] die Ambivalenz des Inneseins des Prinzips im Seienden, die am Ende reinen Denkens sich zeigte, übergegangen. Auf welche Weise die Seele Prinzip ist, bleibt unmittelbar ungeklärt.
Woran klärt es sich? Das wirkliche Prinzipsein beruht in der Herrschaft über die Potenzen. Jenes, dessen Macht, dessen Potenzen sie sind, ist wahrhaft das Prinzip. Doch wessen Macht oder Potenzen sind sie? Das entscheidet sich an einer zwei Seiten umfassenden Bewährungsprobe. Als Potenzen sind sie selbst ursächliche Mächte, Mächte, die also aus sich Sein entwerfen, auf neues, sie selbst übersteigendes Sein hinblicken. Wenn das Prinzip es vermag, diese Ursachenmacht der Potenzen so in Gang zu bringen; daß daraus neues Sein entsteht, und wenn des Weiteren in diesem Veranlassen der Ursächlichkeit der Potenzen das eigene Sein des Prinzips selbst bestehen bleibt, sich durchhält, dann hat es sich als Prinzip erwiesen, ja als mehr denn als bloßes Prinzip: als Herrn des Seins, und das heißt für Schelling: als Gott.
Es liegt also in der Konsequenz der angesetzten Gedankenbewegung, es zur Entscheidung darüber kommen zu lassen, ob die Seele Gott sei.
In ihrer unmittelbaren und unentschiedenen Stellung erscheint sie als „instar Dei“, „nicht als bloßes Abbild, sondern als ein Gleich- oder Ebenbild“29 Gottes. Hat sie nun aber die Macht über die Potenzen, sie von sich aus in produktive Spannung auf anderes Sein hin zu setzen und sich selbst dabei in ihrem eigenen Sein zu bewahren, dann ist sie des Seins Herr, ist also nicht nur wie Gott, sondern als Gott. Sie löste sich von ihrer Herkunft aus den Potenzen und löste den Verweis des sie setzenden Denkens aufs absolute Prius ab und träte praktisch an die Stelle des absoluten Prius, an die Stelle Gottes.
Ob das gelinge, läßt sich wiederum nur am – hypothetischen – Experiment erweisen. Was ergibt dieses? „Der Übergang wird auch hier ein Wollen sein, gleich jenem ersten, mit dem uns Natur (eine Folge von Dingen) überhaupt anfing, aber ein Wollen, das von jenem ganz verschieden zu denken; denn weil hier nicht ein an sich nicht Seiendes, dem es nur natürlich ist in das Sein sich zu erheben, [221] sondern etwas das an sich Actus und dem vielmehr Potentialität angemutet ist, aus der Potenz hervortritt, kann das Wollen nur Tat, reine Tat sein.“30 Die Verwechselbarkeit der Seele mit Gott, ihre „materielle, nur wesentliche Gleichheit“ mit ihm31, nimmt sich an sich – ein Geschehen mit dem Was, welches das Was Gottes ist, aber ein schlechthin eigenes, seinerseits kein Was beinhaltendes Geschehen, reine daßhafte Setzung ist dieses Wollen.
Es wird so „nicht wieder Seele, sondern nur Geist zu nennen sein …, in dem vielmehr überhaupt nichts von einem Was, das reine Daß ist, ohne alle Potenz, das somit in der Tat wie Gott ist; ein völlig Neues, etwas, das zuvor schlechthin nicht war, ein rein Entstandenes, das doch ewigen Ursprungs ist, weil es keinen Anfang hat, sondern sein selbst Anfang ist, seine eigene Tat, Ursache seiner selbst in einem ganz anderen Sinn, als es Spinoza von seiner absoluten Substanz gesagt hat, jenes rein sich selbst Setzende, mit dem Fichte einst einen größeren Griff getan, als er selbst wußte“32.
Die reine Selbstursächlichkeit ist hier also gedacht. Doch was ist mit ihr gedacht? Diese Frage scheint sich durch das Ausgeführte zu verbieten, und doch ist sie so unvermeidlich wie die Wasfrage, die sich zu Beginn der positiven Philosophie dem Denken angesichts des undenklichen absoluten Daß stellt. Das aus den Potenzen unmittelbar Abgeleitete ist das Einzige Was, das sich überhaupt denken läßt. Es ist hier neu zu denken vom Sich-selbst-Wollen und -Setzen her, von dem, was in dieser Stellung – im Gegensatz zur „Seele“ – bei Schelling „Geist“ heißt, vom sich an sich nehmenden Sein des „Ich“. Die schon entworfene Welt ist also neu zu denken, diesmal aber als Setzung des Ich aus sich. Negative Philosophie als Weltableitung reduziert sich hier auf „subjektiven Idealismus“33.
Die Setzung des Ich in diesem deutet sich als zugleich und identisch mit dem Fall des Ich und dem Anfang einer außergöttlichen Welt In jener.
Was heißt aber Selbstanfang des Ich in seiner vorzeitlichen Tathandlung, sofern er den Anfang der außergöttlichen Welt bedeutet?
[222] Er kann nichts anderes heißen, als was je und wesentlich der Anfang von etwas bei Schelling heißt: Erregung der ersten Potenz[^101]. Übersetzt in eine inhaltliche Redeweise sagt dies: das sich selbst in seinem eigenen Akt setzende Ich entwirft von sich her, was sein kann, leistet entwerfend den Übergang des rein Möglichen in seine Wirklichkeit und bringt somit von sich her aufs neue den Prozeß in Gang, den wir als das notwendige Geschehensmuster der Etwas- und Weltwerdung schon zeichneten34.
Vom Status der Seele als dem Vierten inmitten der Potenzen und als ihre rezeptive Einheit Gesetzten her gesagt, heißt dieses selbe: die Seele hebt das Gleichgewicht der Potenzen, die Ruhe des Paradieses, seine noch unentschiedene Möglichkeit, der reine Spiegel des Prius und die Rückgabe des All an das Prius, die Einung der Welt mit Gott und ihr Eingang in Gott zu sein, auf35 und wird Prinzip einer außergöttlichen Welt durch Aufstörung der an sich gehaltenen Urmöglichkeit, durch ihr Aufgreifen als die „eigene“ Möglichkeit.
Wir sagten bereits, es könne in diesem neuerlichen Prozeß der Potenzen aus der Initiative des „Geistes“, des „Ich“, nichts anderes geschehen als das bereits in unserer früheren Ableitung Gezeigte.
Aber es kann, ja muß aus solcher neuen Stellung anders geschehen.
Die Andersheit besteht in einer – gerade nicht mehr unentschiedenen, sondern als Zweideutigkeit und zur Zweideutigkeit entschiedenen – Zweideutigkeit. Wir stellen sie dar in einer auf Einzelanalyse verzichtenden, so aber die diffusen Linien gerade ins Wesentliche sammelnden sehr knappen Gesamtdeutung der Vorlesungen 18–24 der Philosophie der Mythologie36.
Zum einen läßt sich das Geschehen positiv beschreiben als der Hervorgang aller Was-Gehalte und ihres Zusammenhanges aus dem transzendentalen Ego.
Zum andern aber, ja zuvor hat dieses selbe Geschehen einen fürs entwerfende Ich negativen, kritischen Rang. Sich selbst setzend, trennt sich der Geist oder das Ich von seiner Voraussetzung, den vier Ursachen, dem Seienden als dem Gegenstand der reinen Seele.
[223] An die Stelle des Inneseins des Seienden tritt so die Trennung, also die Äußerlichkeit – Welt wird fürs sich setzende Ich notwendig zur „Außenwelt“.
Aber das so sich an sich reißende Bewußtsein setzt doch seine Welt! Gewiß, aber dieses Setzen ist nicht eigentlich frei, es läuft ab im Gesetz, welches das Ich nicht zu machen, sondern dem es sich nur zu beugen vermag. Das Ich kann seine Welt nicht anders setzen als so, wie sie ihm zu setzen vorgezeichnet ist von der Vernunft, vom Denken als einem seinem Setzen Vorgegebenen: das vom Ich erregte Seinkönnende ist begrenzt vom Seinmüssenden und Sein-sollenden, die dem Wollen des Ich empfindlich werden und ihm gegenübertreten.
In der Logik des Seienden, das von sich her in die drei ersten Ursachen auseinanderging und sich in der vierten wieder schloß, erschien der Eingriff der zweiten und dritten Potenz ins erregte Seinkönnende als konstitutiv fürs entstehende Sein. Dieser selbe Eingriff wird dem Sich-Wollen, in welchem sich aus der vierten Ursache der Selbststand des Ich aus sich selbst erzeugt, zum Richtenden, Hemmenden. Das vom Ich selbstgesetzte Sein (des Ich und der Welt) steht, einmal gesetzt, gerade nicht mehr in der Hand des setzenden Ich, sondern unterm Gesetz der Potenzen.
Zwar vermag das sich wollende Ich die ihm äußere Welt und so die Dazwischenkunft des ihm „Fremden“ und Auferlegten erkennend aufzuarbeiten, doch wird es dadurch nicht wahrhaft frei von seiner sich so nur bestätigenden Voraussetzung: daß sein Anfang aus sich selbst und allein doch schon Verhältnis zu der Vorgängigkeit der vier Ursachen ist, daß es also nicht aus sich allein und zuerst das Sein vermag, und das heißt: daß es selbst nicht das wahre Prinzip ist.
Selbst wenn es sein Prinzipseinwollen in der Kontemplation wieder aufgibt und sich zum wollenden Mitvollzug der Bewegung des Seienden selbst wieder umstimmt, so ist doch seine Vergangenheit, sein Sich-Getrennt-haben vom Prinzip nicht in seiner Gewalt. Daß die Welt und es selbst ihm „äußerlich“ sind, kann es in der Theorie zwar vergessen, aber „praktisch“, im selbst zu vollziehenden Existieren und Sich-Verhalten bleibt es gebunden an seine von ihm nicht vermochte Voraussetzung. Das Ich ist des „Seienden“ prak- [224] tisch nicht mächtig, es ist nicht Prinzip. Mit dem Seienden eins zu werden vermag es nicht aus sich, nicht durchs Seiende, das vielmehr seiner, des Ich, mächtig ist, es vermag es nur vom Prinzip her, das es wirklich ist, nur von Gnaden des wahrhaften Prinzips, nur von Gnaden also des göttlichen Gottes.
Das „Experiment“ der Selbsterhebung der Seele als „Geist“, als Ich zum Sein nicht nur wie Gott, sondern als Gott37, ergibt gerade, daß das Ich nicht Gott ist. Es stößt Gott aus dem Seienden aus und stellt eben hierin das Prinzip als solches, Gott als solchen frei.
Dieses Experiment des Gedankens führt die Ableitung indessen dorthin, wo die Erfahrung sich und somit die Wirklichkeit findet. Der Weg der negativen Philosophie kommt von innen, mittels der Bewegung der Potenzen, dort an, wo nicht mehr nur das Denken ist, sondern wo wir selber sind.
Die Potenzen spielen hier eine entscheidende Rolle: Sie sind die Begriffe, in welchen das menschliche Ich seine Welt entwirft und wirklich setzt – denn als „diese Welt“, als die entfremdete, getrennte, „äußerliche“ Welt ist sie in Schellings Sinn nicht nur noetisch, sondern wirklich die Setzung des Menschen –,sie sind also die Macht des Ich; und sie sind zugleich die Ohnmacht des Menschen, seine Übermächtigung „von außen“: Das ruhende „An-sich“ des Sein-könnens hat er aufs neue ins Außer-sich gebracht, sein Selbstsein-wollen wird zur selbsttätigen und von ihm nicht zurückrufbaren Äußerlichkeit der Wirklichkeit38, die ihn unter das Gesetz der erregten zweiten Potenz, unter das äußere „Müssen“ seines Seins und unter den unerbittlichen, praktisch je neu ihn anfordernden, nie abgegoltenen Maßstab des „Sollens“ stellt, in dem ihn die dritte Potenz in der Differenz zu seinem Heil hält, die er selbst nicht einzuholen vermag39.
Bezeichnend für das Denken Schellings ist angesichts dieser doppelten Stellung der Potenzen am Ende der negativen Philosophie indessen die Wertung, die er dem Urzufall des Ich zuerkennt: Er ist Trennung von Gott, ist Schuld und Scheitern, aber ist es auf die [225] Weise tragischer Schuld und ihrer Größe40, er ist Bedingung, welcher der Mensch es „verdankt, aus dem Reich des Allgemeinen in die Welt des freien und eigenen Lebens versetzt“ zu sein41, und ist so auch von Gott zwar nicht in sich, aber um seines Endes willen, das erlösend und erfüllend er ihm bereiten kann, mittelbar gewollt42.
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Vgl. XIII 152. ↩︎
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XI 386–408, zunächst: 386–398. ↩︎
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XI 388. ↩︎
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Vgl. XIII 78. ↩︎
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Vgl. d. Sache nach XIII 267–269. ↩︎
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XI 397. ↩︎
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XI 395. ↩︎
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395. ↩︎
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396. ↩︎
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Ebd., mit der platonischen Bezugsstelle. ↩︎
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388. ↩︎
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Zu den „voluntativen“ Bestimmungen des ins Sein erhobenen Seinkönnens s. bes. XIII 205–207, XI 388. ↩︎
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XI 395. ↩︎
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XI 389, vgl. XIII 265. ↩︎
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Zum gesamten Folgenden s. bes. XI 389–399. ↩︎
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Vgl. XI 397, XIII 279, 346/48. ↩︎
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Vgl. ebd. ↩︎
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S. XI 398–400, XIII 286/89, 346/49. ↩︎
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Z. B. XIII 304 u. 350. ↩︎
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XI 399. ↩︎
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Vgl. hierzu und zum Ganzen bes. XI 399–408. ↩︎
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XI 403–406. ↩︎
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XI 406/07. ↩︎
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407. ↩︎
-
S. XI 415. ↩︎
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XI 446. ↩︎
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S. XI 416/17. ↩︎
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XI 417. ↩︎
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XI 417. ↩︎
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XI 419. ↩︎
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Vgl. 417. ↩︎
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XI 419/20, ganz ähnlich 464. ↩︎
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XI 464. [^101]: Vgl. XIII 357. ↩︎
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Vgl. XIII 350/51. ↩︎
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Vgl. XI 419, XIII 349/52. ↩︎
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XI 409–572. ↩︎
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Vgl. XIII 357. ↩︎
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Vgl. XIII 372: die erste Potenz als göttlicher „Unwille“ über dem selbsttätigen Menschen; „diese Welt“: XI 467/68. ↩︎
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Zum „Gesetz“ bes. XI 553–557. ↩︎
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Vgl. das Prometheussymbol XI 481/487. ↩︎
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XI 420 Anm. 1. ↩︎
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Vgl. x 1 487 ↩︎