Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Der „qualitative“Zugang zur medialen Ursprünglichkeit des Denkens

Was aber bestimmt das Denken, nicht seine eigene Unbegründbarkeit in sein Alles-Begründen hinein aufzuheben, sich als den alleinigen Grund zu setzen und zu behaupten, sondern sich freizugeben an das Unvordenkliche als an seine Voraussetzung?

Die Antwort Schellings auf diese Frage, ja das in diese Fragesituation führende Sich-unselbstverständlich-Werden der Vernunft ist zumindest im einen Strang seiner Darstellung formal gefaßt als Diskussion der Potentialität der Vernunft1.

Schlössen wir unsere Nachzeichnung unmittelbar dieser Gestalt seines Gedankens an, so fügte sie sich nahtlos an das zuvor Entwickelte: Denken als der Prozeß der sich vor sich bringenden Vernunft ist nichts anderes als Erhellung seiner Potentialität.

Anderseits erwüchsen uns auf diesem Weg zwei Nachteile. Der eine: Die im folgenden nachzuweisende mediale Ursprünglichkeit des Denkens in eine zentrale Einsicht Schellings, und sie hat auch für ein Denken Bedeutung, das sich phänomenal nicht mit Schelling auf den Grundcharakter der „Potentialität“ festlegt. Sie darf fürs Mitdenken also nicht aus dieser Potentialität allein erschlossen werden. Der andere: Solange das Denken in seiner Potentialität befangen bleibt, fällt ihm diese gar nicht als solche auf; indirekt entwickelt das Schelling selbst, sowohl in der Feststellung, daß die kontemplative Wissenschaft nicht von innen, nicht theoretisch über sich hinaus führt2, wie auch in der Selbstkritik seines Identitätssystems, nach welcher er in diesem den logischen und realen Prozeß, das potentielle Denken und die kreative Setzung nicht voneinander geschieden hatte3.

Wenn Schelling also in der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung den Weg der Vernunft in ihr unvordenkliches Daß anhand ihrer Potentialität beschreibt, ist ihm die Einsicht in diese Potentialität selbst bereits anderswoher zugefallen. Um zu gewah- [53] ren woher, wenden wir uns zunächst nicht an einzelne Texte Schellings, sondern an einen qualitativen Grundzug seines Denkens .

Schellings Denken eignet durchweg und von Anfang an eine eigentümliche Gestimmtheit, die nichts zum Denken als Denken zusätzliches darstellt und gleichwohl nicht in seinen formalen Strukturen aufgeht. Es ist fürs erste mißverständlich, aber bei näherem Zusehen doch wohl genau, diese Stimmung des Schellingschen Denkens in sein Eigenes „Ergriffenheit“ zu nennen.

Was heißt das? Schellings Denken geht zwar je aus sich heraus, vor sich, in den Entwurf und Begriff, aber es ist zugleich dessen inne, daß sich darin mehr ereignet als nur die formale Struktur seines Entwerfens und Begreifens.

Es reflektiert sich, seinen eigenen Ablauf, in die ihm je vorgängige Ursprünglichkeit hinein und vollbringt sie, indem es sich vollbringt, wird ihr Medium, ihre Stätte. Das ist in der Frühzeit bereits der Sinn der „intellektuellen Anschauung“ – ihre verschiedenen Bedeutungsschichten und Richtungen dürfen hier auf einen Grundsinn verkürzt werden: Das Denken_ schaut sich, seiner alles gründenden Ursprünglichkeit zu, indem es seine Funktionen tut, hebt seine Nachträglichkeit, in der es konstatiert, was ihm vorliegt, auf in die Ursprünglichkeit , die dieses Vorliegende konstituiert, und läßt sich, so mit sich selbst in freier Einschwingung identisch werdend, dem Größeren seiner selbst. Es ist von sich selbst als von seiner Ursprünglichkeit betroffen und übertroffen, kein gleichgültiger Ablauf, sondern gespannt vom Rang seiner selbst: es ist gut, daß Denken denkt, es ist seine Würde zu denken.

Formal gesagt: Denken ist sich gleich, und: Denken ist größer als es selbst, werden zu miteinander identischen Sätzen, die Identität des Denkens mit sich hat an sich selbst diese nicht mehr in eine Ebene reduzierbare Steigung.

Das ist erst recht der Tonus des Identitätssystems: Daß im Denken sich nichts anderes vollbringt als das Absolute selbst, ist das Begeisternde, Wunderbare, nicht qualitätsloser Zusammenfall des Absoluten mit dem Banalen, sondern das schlechthin Unselbstverständliche4.

[54] Diese Unselbstverständlichkeit wird hier allerdings noch überschwungen von der Hineinwendung des Denkens in seinen Vollzug, sie ist Wie und nicht Was, noch Modus, nicht Thema des Denkens. Der Weg von „Philosophie und Religion“ (1804) über die Freiheitsphilosophie und die Philosophie der Weltalter in die Erlanger Zeit und ihre „Ekstase der Vernunft“ ist Weg dieser impliziten „Stimmung“ des Denkens in ihre thematische Ausdrücklichkeit, die alsdann in der Spätphilosophie erreicht wird.

Das Ausdrücklichwerden solcher Stimmung ist nichts zusätzlich anderes zur Selbstreflexion des Denkens an ihm selbst.

Die Selbstreflexion des Denkens hebt zunächst den Status des bloß empirischen Bewußtseins auf in das Selbstgeschehen transzendentaler Subjektivität – letzteres ist das, was „objektiv“ im empirischen Bewußtsein sich begibt. Das transzendentale Ego führt in einer weiteren Reflexion seiner selbst sich zurück auf das Selbstgeschehen der Vernunft schlechthin, die dem transzendentalen Ego vorausgeht und sich in ihm nur ihrer selbst erinnert. Eingeschlossen in ihre sich und darin alles setzende, d. h. als seiend setzende Selbstmacht, zieht die Vernunft sich schließlich selbst in die Reflexion: Aus ihr ist alles, sie gründet alles, aber woher ist, worin gründet sie?

Diese Reflexion fällt in das Nichts, wenn ihr das von der Vernunft gesetzte Sein alles ist – nichts , was die Vernunft setzt, vermag die das Denken tragende Voraussetzung zu bilden; es ist, so betrachtet, „nichts“ ihr vorausgesetzt. Dieses Nichts-Voraussetzen der Vernunft ist ambivalent. Es ist deutbar einerseits auf einen möglichen Nihilismus zu: es ist mit allem Denken und somit überhaupt mit allem nichts, Denken ist grundloser, seine eigene Grundlosigkeit in den eigenen Umtrieb fortsetzender Ablauf, Selbstprojektion ihrer Nichtigkeit in den bloßen Schein5. Oder anderseits auf einen Absolutismus des Denkens zu: Denken ist das Absolutum schlechthin, das alles nur aus sich als einziger Voraussetzung Entwerfende und Vollbringende6.

Das solchermaßen ambivalente Nichts-Voraussetzen der Ver- [55] nunft, ihr zweideutiger Anhub mit sich selbst, der für sich selbst keinen Grund in sich vorfindet, hat aber noch eine andere Möglichkeit des Selbstverständnisses bei sich, die zu beiden Gliedern der genannten Alternative in Differenz steht und die sich durch die angedeutete „Stimmung“ des Denkens als wirklich erweist.

Denken ist je mit sich selbst gleich, sagten wir, und ist darin zugleich und gerade größer als nur es selbst, „ergriffen“ vom Größeren als nur es selbst, dessen Stätte und dessen Aufgang.

In letzter Konsequenz heißt dies: Denken ist ergriffen von seiner eigenen Ursprünglichkeit als dem ihm Zugeeigneten; es widerfährt ihm, ursprünglich zu sein, es ist ursprünglich, aber an sich selbst dieser Ursprünglichkeit nicht mächtig, sondern ihr und darin ihrer inne. Das alleinig, mit sich und allem als Ursprung einig gewordene Denken vollbringt in seiner alles setzenden, sich selbst vor sich und so ins Sein bringenden Ursprünglichkeit die reine Ursprünglichkeit selbst als das Größere und Frühere ihrer selbst, ist Bezeugung und Lichtung einer Wirklichkeit, von der es je herkommt, indem es je über sich hinausgeht.

Was ist es mit der Vernunft selbst? Warum ist denn Vernunft und nicht Unvernunft?7 Die sich nicht begründen könnende, die Unvernünftigkeit und Nichtigkeit nicht ausschließen könnende Vernunft behält nur eines, diese Frage. Wenn sich Vernunft nicht verlassen kann auf einen Grund, wird sie Unvernunft. Der Grund darf kein bloß gedachter sein, sonst trägt er nicht. Vernunft geschieht aber, denkt aber, bringt sich vor sich, getraut sich zu sich selbst. Also verläßt sie sich, setzt sie den Stoß ins Sein fort, antwortet ihm, der sie selber auf den Weg ihrer selbst brachte. Sie ist auf den Weg gebracht, also es „ist“ überhaupt und schlechthin und zuvor – nicht dies oder jenes, sondern absolut: es ist. Der Vollzug von Frage bezeugt, aller weiteren Auslegung und Bestimmung durchs Denken vorerst entkleidet, lauteres Ist. Sonst fragte die Frage nicht. Aber sie fragt, sie darf gar nicht und kann gar nicht fragen, ihr Fragen ist ihr verfügt, sie ist darin sich verfügt ins Dür- [56] fen und Sollen ihrer selbst hinein, und darin fällt sie eben in das mit der Vernunft identische Zeugnis des überempirischen und unvordenklichen Daß.

Schelling stellt fest, daß alles zweifelnde Fragen je nur „dieses“ Sein als das wirkliche in Zweifel stellt, sich so aber gerade auf Wirklichkeit, auf Sein schlechthin als Voraussetzung bezieht8. „Damit ist allem philosophischem Rationalismus, d. h. jedem System, was die Vernunft zum Prinzip erhebt, das Fundament zerstört.“9

Die Achtsamkeit des Denkens auf sein „Ergriffensein“ vom je Größeren als das bloße Denken legt so zuletzt die Differenz des bloßen und des ganzen Denkens frei. Bloßes Denken ist sich selbst entwandtes und somit gerade sich selbst entgehendes Vollbringen seiner selbst. Ganzes Denken gewahrt in der Bloßheit des in sich bleibenden Denkens den Aufbruch der letzten Rückfrage des Denkens, in welcher es sich aus unvordenklicher Wirklichkeit zugewiesen und verfügt wird.

Fürs bloße Denken gilt die im ganzen Denken überholte Alternative: Es ist in der einen Richtung totales Sich-Genügen, Alles-Vermögen, das auf keinen anderen Ursprung als sich selbst verweist, sondern jedem seiner Gedanken und darin allem seinen Gedachten Ursprung ist. Es ist in der anderen Richtung reine Ungesichertheit seiner selbst, totale Fraglichkeit seiner selbst und darin alles seines Gesetzten und Vollbrachten, alles dessen, was ist.

In beiden Selbsterfahrungen des Denkens, in jener der absoluten Selbstgenügsamkeit und Selbstmacht und in jener der aus sich selbst unsicherbaren Fraglichkeit und Ohnmacht steckt aber „mehr“ als das bloß Gedachte, ist das Sich-Finden des Denkens als ein Sich-Messen an einem ihm Sinn und Stand Gebenden bekundet, mag dieses Sinn und Stand Gebende nun als gewährt oder als versagt erscheinen. Wo Denken seiner achtet, achtet es dessen, daß es ja sagen können will zu sich, ein: Ja, so ist es, ja, ich bin fähig und ermächtigt, zu sagen, wie es ist. Das Vorgetriebensein aller Denkbewegung ins Vollbringen des „ist“, das „ist“ als Urleistung des Denkens weisen zurück in die Erregung des Denkens zu sich selbst durch ein ihm Vorgängiges, es Gründendes, zu dem Vernunft und [57] Denken, einfach indem sie sind, je schon „ist“ sagen, dessen Affirmation sie sind.

Überblicken wir nochmals den zweifachen Rückgang der Vernunft in sich selbst, den wir denkend mitzugehen versuchten.

Der erste geleitet uns zur Vernunft als reiner, umfassender Ursprünglichkeit, der zweite zur Vernunft als ebenso reiner, alles und sich selbst umfassender Fraglichkeit. Dieser zweite führt weiter zurück ins anfängliche Wesen von Vernunft und Denken. Wieso? Vernunft vermag nicht, ihr Sich- und Alles-Setzen selbst begründend zu setzen, sie ist je schon in der Bewegung des Setzens, indem sie sich als Quelle dieses Setzens gewahrt. Wohl aber vermag die Vernunft ihr Fragen fragend selbst ganz zu umfangen, indem sie sich selbst und ihre Ursprünglichkeit nochmals in Frage zieht. Ihrem Setzen ist dies vorenthalten: Grund und Maß gebend zu setzen, daß sie setzend, entwerfend, also aktiv-ursprünglich ist. Ihrem Fragen ist dies gerade inne: daß sie setzende und fragende ist. Das Denken ist also mit seiner eigenen Ursprünglichkeit am reinsten einig, indem es sie in Frage zieht. In der Frage aber vernimmt sich das Denken und wird so über sein eigenes Fragen hinaus Zeugnis des fraglosen Woher, das nicht dies oder jenes, kein selbst wieder Konstituiertes und auch nicht das bloß eigene Konstituieren ist, das in der Frage, als Ausarbeitung ihrer selbst, als Entwurf ihres Gefragten geschieht, sondern jenes lautere Daß, welches sich allem bestimmenden Fragen entzieht und so es gerade trägt.

Läßt sich das Verhältnis der zwei phänomenalen Elemente des Denkens, seiner Ursprünglichkeit und Alleinigkeit, seines reinen Konstituierens einerseits und seines Fragens, das zuletzt sich selbst, seine eigene Ursprünglichkeit nochmals befragt, anderseits, aber nicht auch umgekehrt bestimmen? Ist nämlich nicht doch auch das Fragen selbst noch Setzen, Konstituieren, Entwerfen, also Vollzug des eigenen Ursprünglichkeit des Denkens und nicht seine Negation? Ja und nein: Es ist Vollzug der Ursprünglichkeit, aber, für sich allein genommen, als Negation. Wenn das Denken nicht Ursprung seiner Bewegungen wäre, wenn es sie nicht und sich nicht in konstituierte, könnte es sich sich nicht in Frage ziehen. Aber es sich in Frage indem es sich in Frage zieht, deckt sich ihm etwas auf, das ihm zuvor verborgen war: Zuvor war es Entwurf seines Gedachten ins [58] Sein, es setzte, was es dachte, als seiend; unausweichlich auf Sein bezogen, ging dieser Bezug doch auf ein Sein, das durchs Denken zu prädizieren, nach ihm kam, in Schellings Sprache: die Vernunftwissenschaft ist Wissenschaft dessen, dem die Vernunft das Prius ist.

Jetzt aber, indem es sich in Frage zieht, kehrt es sich zu einem „Sein“, das sein Entwerfen und Setzen erst anstößt, ihm vorgeht, dessen Prädikation das Denken selbst einfach ist, indem es denkt. „Nicht weil es ein Denken gibt, gibt es ein Sein, sondern weil ein Sein ist, gibt es ein Denken.“10

Die Fraglichkeit ist also Vollzug der Ursprünglichkeit des Denkens, aber die Ursprünglichkeit des Denkens selbst wird darin offenbar als „medial“, als Stätte, an welcher sich die Ursprünglichkeit des Seins begibt, von deren Gnaden das Denken allererst es selbst und ursprünglich ist.

Betrifft indessen – diese Frage ist noch nicht ausdrücklich geklärt – der Vorrang des „Seins“ vor dem „Denken“, die Fundierung des Denkens durchs Sein, nicht nur menschliche Verhältnisse, ist das Denken auf seinem Rückgang in sich selbst nicht insgeheim vom Standpunkt der Vernunft abgekommen in seine bloß empirischen Bedingungen hinein?

Gewiß ist uns die Problematik der Rede von „dem“ Denken schon begegnet und wird sie uns noch tiefer beschäftigen müssen. Gleichwohl kann deutlich werden, daß die in der Fraglichkeit seiner selbst aufbrechende „zweite Stelle“ dem Denken wesentlich und nicht nur empirisch zufällig zukommt, sofern und soweit eben „das“ Denken überhaupt zu denken ist. Denn was uns an Schellings Denken als qualitativer Grundzug auffiel, seine „Ergriffenheit“, weist sich als Grundzug des Denkens überhaupt aus: Es geht dem Denken darum, wie es ist, es ist engagiert von „Wahrheit“, es ist mit sich eins nur als Ja, als Ja aber nicht nur zu sich, sondern darin zum ihm Vorgängigen, Maß-Gebenden. Denken ist Entsprechung, ist Antwort.

Das Engagement als Wie des Denkens ist Maß und Stoß für den Vorgang des Denkens in sein Was und ist nie in ein bloßes Was abzulösen, in diesem Engagement übertrifft das Denken sich selbst.

[59] Das bei Schelling Wahrgenommene gilt vom Denken als solchem: Es ist mit sich selbst „gleich“ nur, wenn es „größer“ ist als es selbst, es ist ganzes Denken nicht als Ausdenken, nicht als bloßes Denken, sondern nur als Andenken. Denken denkt nur ganz, was es denkt, wenn es mehr denkt, als was es denkt.


  1. Bes. Philosophie der Offenbarung, 4. und 8. Vorlesung. ↩︎

  2. Vgl. XI 558/60, 566. ↩︎

  3. Vgl. z. B. X 123–125, XIII 84/87. ↩︎

  4. Das spiegelt sich etwa im Stil des Dialogs „Bruno“ IV 217–329, aber auch in [54] der „Nüchternheit“, die der „Darstellung meines Systems der Philosophie“ (IV 107–212) zu eignen scheint . ↩︎

  5. Vgl. XIII 5–7, X 252, in etwa IX 211/12. ↩︎

  6. Vgl. Schellings Hegelkritik, bes. X 126–128. ↩︎

  7. Bes. XIII 247; zum Folgenden überhaupt 240–248, welcher Gedanke seiner hier noch nicht verständlichen Einzelbestimmungen entkleidet wiedergegeben und phänomenal erweitert wird. ↩︎

  8. XIII 242/43. ↩︎

  9. XIII 248. ↩︎

  10. XIII 161 Anm. ↩︎