Franz von Baaders Weg philosophischer Gotteserkenntnis
Der Schritt zum göttlichen Du*
Die erste wie die zweite Stufe des erinnernden Rückweges vom Cogito führen in sich selbst zu einem Selben und Dritten: zum unbedingten Du. Die eigentümliche Gestimmtheit des „Allgemeinen“, das die erste, und der „Ursache“, welche die zweite Stufe freilegten, weist an sich in eine der „Göttlichkeit“ Gottes entgegengesetzte Richtung. Bei Baader sind beide „Begriffe“ und ist ihre neutrale Temperatur indessen anfänglich aufgehoben und umgewendet, weil ihr Fundort, der betroffene Selbstvollzug des Menschen, sie als „Mitteilung“ verdanken läßt; ihr „sachlicher“ Charakter entspringt also sekundär aus dem absolut ursprünglichen des Selbstseins: menschliches Selbstsein artikuliert sich in ihnen als Mitsein und dieses als die Zueignung, das Ereignis, der Aufgang des hinmit göttlichen Du.
Die dritte Stufe, in den beiden ersten schon eingeschlossen und mitbedacht, vollzieht ausdrücklich den Schritt von der dialogischen Grundbestimmung menschlicher Ursprünglichkeit zum Ereignis des sie gründenden Dialogs. Für Baader ist „eine Person in abstracto, d. h. ohne Bezug auf eine oder mehrere andere Personen nicht denkbar“ (I, 132), „da das eigentliche Nicht-Ich in keine Opposition mit dem Ich tritt“ (IX, 102).
In der – nach Baader freilich gerade unmöglichen – Subtraktion des Du vom Ich fiele der Vollzug zurück in die Nichtigkeit des schlechthin Unerheblichen. Meine innerhalb solcher Subtraktion scheinbar gesteigerte Freiheit, anfangen zu können, was ich mag, wäre zutiefst Unfreiheit, wäre in sich selbst zerstört: denn es machte keinen Unterschied, ob und was ich anfange oder nicht anfange, der im Anfangen je gesetzte „Unterschied“ wäre aufgesogen, wenn er für niemand wäre. Ist indessen, was ich tue und was mich trifft, ist der „Unterschied“ nicht eben doch „für mich“? Läge das Maß, das darüber entscheidet, worauf es ankommt, in strenger Ausschließlichkeit nur bei mir, wäre es meine Schöpfung, ich also in keiner Weise verantwortlich, so wäre dieses Maß selbst und mit ihm alles, was es bemißt, gleichgültig, eingeebnet. Entfällt aber die Differenz der Verantwortung, so stürzt sogar die Differenz des Mögens in sich zusammen: was soll ich schon mögen, wenn ich weder etwas noch anderes, weder überhaupt noch nicht mögen „soll“, und das hieße doch: wenn nichts von sich her mir gut [291] ist, nichts mich mag? „Vater“ und „Mutter“, „Imperativ“ und „Dativ“, entsprechend auch Sollen und Mögen, sind unlöslich miteinander verbunden. Anspruch und Huld walten schon immer um mich, entheben mich je der Einsamkeit: „mit“, „vor“ und „angesichts“ sind ursprünglich im Ich mit-, ja vorerschlossene Dimensionen. Jedes menschliche Wort steht als solches in der Mitte zwischen einem früheren, dem es Antwort gibt, und einem vollendenden, das ihm Antwort gibt: Cogitor, ergo (cogitans) sum. Ohne das erste wäre es der nur verfügende und so eigentlich nichts verfügende Griff gleichgültiger Spielerei, ohne das letzte bliebe die Spontaneität, das erst in der Mitteilung vollbrachte Sich-Gehören des Ursprungs verschlossen, das Ich entbehrte dessen, was es zum Ich macht. Dreifach staffelt sich die Aussage Baaders, bis sie dieses als ursprünglich erhellte Mitsein des menschlichen Selbst als Mitsein mit dem unbedingten Du erreicht.
Zunächst bemerkt er den Verweis auch des sachlich-verfügenden Wissens um „etwas“ auf den Dialog: „Scire nil est nisi sciat et alter“ (IX, 301f. Anm. 3). Nur dann weiß ich, wenn mein Gedanke sich vor der alles mir zuvor in sich wahrenden Wahrheit als Antwort und so auch vor der Antwort des mit mir und durch mich auf dieselbe Sache achtenden menschlichen Partners bewährt. Der Unterschied von Wahrheit und Unwahrheit, Sein und Nichtsein ist nur dann verbindlich, wenn er jedes Denken bindet, mich angesichts jedes Denkens bindet, wenn er also verbindet. Was ist, das Seiende, ist zwischen mich und dich gelegt, der es umfangende Raum ist ein Inmitten, ist verbindlich-verbindender Raum zwischen mir und dir, und so sind die Dinge zuerst nicht dem einsamen Zugriff des Ich, sondern der Mitteilung, dem Geschenk von mir zu dir und von dir zu mir und darin unserem gemeinsamen Verdanken des sie begründenden, in unsere Mitte gebenden Geschenks zugetan. Daher läuft dem „neutralen“ Wissen des Sachlichen, zumindest an Rang, auch jenes „mediale“ voraus, das sie als den Aufgang und die Erscheinung des Ursprungs vollbringt.
Darin ist bereits eine zweite, tiefere Schicht des Mitseins erreicht: die Angewiesenheit des Ich auf die Gunst des Du, das sich erschließt und aus seinem „Geheimnis“ entäußernd in die „Gabe“ herbeiläßt, die nach Baader stets den „Geber“ selbst schenkt (IV, 189). Ohne solche Gabe käme nicht zu mir, daß ich ich bin; das Wunder des versiegelten Quells, der ich bin, wäre versiegt, wenn der Quell nicht spränge, und er springt nur sich verströmend, verströmt sich nur zu dir, findet sich so nur aus dir. Dein Hören, Warten, Staunen vor meinem Wort, deine Antwort, gibt es mir allererst. Baader widmet dem eine seiner kostbarsten Schriften: „Alle Menschen sind im seelischen, guten oder schlimmen Sinne unter sich: Anthropophagen“ (IV, 221-242): „Der Mensch nämlich als Herz, oder, wie die Schrift sagt, als innerer Mensch, im Gegensatze des äußeren, lebt nicht von äußerer Nahrung oder vom leiblichen Brot, sondern er lebt, und zwar nicht im metaphorischen, sondern im reellsten Sinne nur von anderen inneren Menschen, Herzen oder persönlichen Wesen als ihn Speisenden oder von ihrem Wort als Speise“, „welches aus dem Herzen kömmt …, d. i. zu [292] dessen Spendung der Mensch sein Inneres aufschließend, seine Seele ins Wort legt (y met son âme)“ (IV, 223f.).
Die Zufälligkeit des vereinzelten Du, das begegnet oder nicht begegnet, erschöpft und entbindet indessen wiederum nicht die im Cogito schon je als ausstehend gesuchte und ihm so zugleich vorausgesetzte Fülle: Ich selbst, ich mit allem, was in mir ist, ich über alle Möglichkeit endlicher Mitteilung hinaus bin angesprochen und aufgerufen, einfach indem ich bin. Mein Sein ist Angesprochensein und Gerufensein, gerade in dem, was nie über meine Lippen kommt, was unmitteilbar doch als mitgeteilt und wieder zur Hingabe bestimmt sich kundtut: „‚Nur Gott‘, sagt Jakob Boehme, ,vermag die Speise (den Willen und das Vermögen einer freien Kreatur) zu essen‘, und jede andere Kreatur, sie mag so vortrefflich und so hoch gradiert und genaturt sein, als sie will, wird dieses nie vermögen, folglich mir immer einen nie in mir aufgehenden Rest meiner Selbstheit als Stachel der Unruhe und der peinlichen Hemmung der völligen Union zurücklassen“ (II, 458f., vgl. XIII, 326ff.). Der Aufgang des unbedingten Du allein ist jener „Blitz“, der den Konflikt der Betroffenheit des Ich zu lösen vermag. Er ist dem Vollzug je inskünftig, aufgegeben, und liegt ihm doch je schon zugrunde als die tatsächliche Übereignung des denkenden Seins an den Menschen, eben da „die Kreatur sich nie allein weiß“ (VIII, 339, Anm. 2). Als entscheidende Wegstufe zum göttlichen Gott deutet sich der Gang zum unbedingten Du erst in einer weiteren dreifachen Aussagereihe Baaders über das Urverhältnis des Ich zum Du. Ihr Anfang ist als das Ergebnis der beiden ersten explikativen Stufen der Gotteserkenntnis bereits vertraut und in seiner Anfänglichkeit vom dialogischen Grundcharakter des Selbstseins nunmehr ausgewiesen.
„Wir behaupten darum, daß es eine der Grundüberzeugungen des Menschen ist, daß er, als schauend und erkennend, sich in einem ihn Schauenden und Erkennenden, als wollend in einem ihn Wollenden, als wirkend in einem ihn Wirkenden begriffen weiß“ (VIII, 339). Das Cogitor erscheint hier als die notwendige Selbstauslegung des Cogito. Wenn Baader diese Grundüberzeugung zurückbindet an die andere, „daß dem Erkennen und Schauen eben so wohl nur wieder ein Erkennen und Schauen Objekt ist, als dem Wollen ein Wollen“ (ebd.), so ist das einbegreifende „Oben“ der im Cogitor bezeugten gründenden Aktivität verwandelt in die Partnerschaft des „Objekts“ zum Cogito als Subjekt, die das Ontische übersteigende „Allgemeinheit“ und „Ursächlichkeit“ tritt zurück in eine neue „Objektivität“, ja Baader steht schließlich nicht an, sie als die „einzig eigentliche“ Objektivität zu bezeichnen, die der Subjektivität menschlichen Vollzuges entspricht: „Das Angesicht ist freilich auch Objekt oder ein Gesehenes, aber ein Gesehenes, welches selber (nach dem Sehenden) sieht und dessen Michsehen ich sehe oder gewahre. Darum sagt schon Plato, daß das eigentliche Objekt des Auges nur ein Auge sein könne, und darum habe ich anderwärts gesagt, daß dieses auch vom Wollen und Tun gelte“ (IV, 240).
Woher solche Wendung vom Umfassenden zum Objekt, ja zum „einzig eigentlichen“ Objekt? Abstrakt erklärt sie sich aus der im Vollzug ergriffenen Eigenart des anfänglich Umfassenden, konkret aus der des Du als Du.
[293] Im betroffenen Cogito fasse ich mich, komme ich anfangend zu mir, entscheide und unterscheide mich als ich selbst. So setze ich ein Worin voraus, innerhalb dessen ich mich finde und unterscheide, aus dem heraus ich zu mir komme. Es ist das Umgreifende, Begründende, in welchem ich in der mich fassenden Unterscheidung verbleibe, das aber zugleich auch in mir als dem von ihm Unterschiedenen verbleibt. Mich und alles finde ich in ihm, und das heißt: in mir. Dem Anderen, „Selbstlosen“ darin verbunden, aus ihm herkünftig zu sein, bin ich dem Umgreifenden wiederum in anderer und mich von diesem Anderen unterscheidender Weise verbunden: Es ist in mir, in mir allein, anwesend als Umgreifendes, ich bin von ihm so umgriffen, daß ich, kraft seines Umgreifens, eben nicht darin aufgehe, passiv umgriffen zu sein, sondern selbst umgreife, fasse, allem und mir selbst als von mir Gefaßtem unfaßlich-fassend je nochmals entzogen bin. So verwandelt sich mein Innesein im Umgreifenden zu einer – freilich sekundären – Partnerschaft, ja in dem, was mich zu mir macht, bin ich eigentlich dem „selblosen“ Anderen, das in seiner herkünftigen Bestimmtheit mir in der meinen gegenüber ist, nicht gegenüber, sondern dem aller Herkunft voraus waltenden Worin. In der Aussage solchen Gegenüberseins aber „verfremde“ ich das Worin als solches: ich vergleiche es, als unvergleichlich, dem Anderen, das aus ihm ist, sage es aus wie „etwas“, gerade indem ich es aussagend allem Anderen, allem Etwas enthebe. Oder umgekehrt: Indem das Worin mich nicht nur in sich sein, sondern sich selbst in mich hineinläßt, entäußert es sich dazu, in mir zu „sein“, die Gestalt, Bestimmtheit anzunehmen, die Seiendes, die solches also hat, dem ich das Sein zu-, das ich als Etwas aussage.
Diesen abstrakt gezeichneten Gang vom entzogen Umgreifenden zum Objekt und vom Objekt zum einzig eigentlichen und so der bloßen Objektivität gerade enthobenen Objekt legt die konkrete Beziehung“ zwischen Du und Ich je wesenhaft zurück. Du und Ich sind allem anderen gegenüber darin einig, daß alles, daß das Ganze „für uns“ ist, gerade deshalb aber sind wir einander entzogen, „Geheimnis“, auf die „selbstische Manifestation“ des je Anderen angewiesen. Lasse ich mich in dich als mein zugleich mir Einigstes und Entzogenstes ein, so kann es eben nur durch die Mitteilung geschehen, und das heißt: durch bestimmt, vereinzelt mitgeteiltes „Etwas“, das aber mitteilend gerade mich enthält, mich zwar nicht als Ursprung auflöst, dennoch ausliefert, zur „Speise“ macht, zur Verfügung stellt. In unserer Überlegenheit über bloße Objektivität einander eins, bleiben wir einander gerade entzogen, wo wir uns nicht füreinander zum Objekt machen, um uns selbst nur in diesem Verlust, jeder sich am anderen und jeder den anderen, hinzuzugewinnen, einzig eigentliches Objekt füreinander werdend (vgl. II, 213). Die Mitteilung des „Namens“, das Nennbarmachen der eigenen Unverfüglichkeit ist entscheidendes Ereignis zwischen Ich und Du. Das Du ist seinem Du als Geheimnis also je zugleich sich vermittelnde, bestimmende Gestalt, als Gestalt aber bleibt es je auch Geheimnis. Solches ist gefaßt in der Aussage des Du als des einzig eigentlichen Objekts, die sich ganz erst erfüllt im unbedingten Du, das sich so endgültig als der göttliche Gott gewährt: reines Bestimmen und darin gerade „Übersetzung“ zur Gestalt in der Gestalt des Menschen.
[294] Die Spiegelung des göttlichen Ereignisses in dem in seinen mitmenschlichen Maßen angeschauten „Dialog“ verfremdet das Geheimnis, um welches es hier geht, kaum minder als die abstrakte Aussage: das unbedingte Geheimnis kommt nicht erst am Endlichen, Bedingten, das es sein läßt, zu sich. Dennoch geht solche Verfremdung mit „zu Lasten“ des Geheimnisses selbst: daß ich, der Mensch, ich als Mensch bin, liegt an ihm, bin ich aber von ihm her sein gelassen als Mensch, geht es selbst in mir über mir auf, so aber als Gestalt – was mich zeitigt, verzeitlichte ich. Daß ich bin, ist seine freie Huld, die ihr Warum entrückt ins reine Bestimmen, ins undurchdringliche Licht, die mir bestimmend aber dieses bestimmte „Du“ auf die Lippen legt, mit dem ich es anrede und ihm antworte, es erhebe und preise als den göttlichen Gott, der es „ist“, sofern ich bin: das Unterscheidende Gottes als Gott der Mensch als Gestalt.
Wie schon angedeutet, ist es Baader in seiner spekulativen Gotteslehre darum zu tun, die Unabhängigkeit Gottes von seinem Anderen, seine Göttlichkeit – er sagt „Herrlichkeit“ oder „Äußerlichkeit“ – in sich selbst und allein und für sich selbst und allein zu denken. Er bestimmt diese indessen – es kann hier nur referiert werden – als die ewige Aufgehobenheit der „Natur“ in Gott, die als solche Gottes unabhängige Freiheit zu seinem Anderen bedeutet. In solcher Freiheit aber ist dieses frei vermochte Andere anwesend in der absoluten Einfachheit göttlichen Selbstvollzuges, wohnt als die Mitte des möglichen Anderen also doch der Mensch im Herzen Gottes als Gott.
Baader kam es darauf an, Gott zu „wissen“. Von dem Ereignis her, als das dieses Wissen sich widerfährt, gerät es in eine eigentümliche Identität mit „Glauben“: „Der Mensch kann nur wissend glauben, nur glaubend wissen“ (VIII, 29 Anm. zu 28), „so daß jeder Glaube (wie der Unglaube) in Mitte eines gegebenen und eines aufgegebenen Wissens steht“ (X, 24). Der unbedingte Anspruch, seine Begegnung sind unausweichlich zur Stellungnahme zwingendes „Daß“, sind „gewußt“, unausweichlich folgt diesem Wissen die freie Antwort, also ein „Glauben oder Geloben“ (z. B. IX, 178 Anm. 3 zu 177), ein Sich-Geben und -Lassen, in welchem die beanspruchende Wahrheit je „ausgelegt“ wird. „Zeigst du mir, woran oder wem du nicht glaubst, so will ich dir zeigen, woran oder wem du glaubst, und dein Unglaube ist also kein Wissen, welches du meinem Glauben entgegenzustellen vorgibst“ (X, 24, Anm. 1). Wo der Mensch nun seinen „Glauben“ an die rufende und gewährende Wahrheit im Gehorsam unverstellten und achtsamen Hörens leistet, da gewinnt er, so versteht Baader seinen Gedanken, der hier im Umriß nachgezeichnet werden sollte,[3] das Wissen vom göttlichen Gott. Dieses Wissen kann, dem Ansatz Baaders treu, aus nichts anderem erbildet und gestaltet sein als aus dem Herzen des Menschen selbst, das er glaubend verschenkt, um so erst sich selbst, seinen eigenen Anfang zu gewinnen: das Unterscheidende des Menschen als Mensch der göttliche Gott.