Franz von Baaders Weg philosophischer Gotteserkenntnis
Der Schritt zum konkreten Allgemeinen*
Bereits die Weise, wie er beim Cogito ansetzt, bezeugt das „Ereignis“ als Vorgeschichte. Es ist ihm selbstverständlich, daß „ich bei allem Kennen und Erkennen notwendig bei mir selber sein und mich selber wissen muß, da ich nichts zu erkennen vermag, ohne (unterscheidend) zugleich mich zu erkennen“ (I, 256). Das Kennen und Erkennen, welches Baader hier im Auge hat, ist schon auf [284] sich selbst, aufs Ich zurückgefallen aus der Unmittelbarkeit des selbstvergessenen Zusehens, das rein den begegnenden Dingen oder dem Spiel der aufsteigenden Gedanken zugewendet, dem alles mögliche und doch nichts eigentlich, nichts im Ernst gegenwärtig ist. Solche „vor“ der entscheidenden Gründung liegende Verfassung des Geistes wäre für Baader die bloß „magische“, jene, in welcher die „Vielheit“ der Momente noch ungeschieden „in der Einheit aufgehoben“ ruht (vgl. VIII, 66), seine hier geschehene „erste Expansion“ ist „eigentlich noch keine“, sondern von der entschiedenen Vollgestalt gegründeter Erkenntnis her zurückgerechnet „Ungrund“ und „Dissemination“ (II, 363): die durch ihre ungebrochene Helle gerade nur verborgen anwesende grenzenlose, alles einbegreifende Offenheit enthält zwar in sich den sodann im Entscheid ergriffenen Grund seines Vollzuges, aber eben nicht als Grund, auf den er sich endgültig und entschieden, somit selbst unterscheidend, stützt. Die Anfänglichkeit des Selbstbewußtseins, auf das Baader seinen Stufenweg zurück vom Cogito zum Cogitor baut, ist also die des betroffenen, unterschiedenen und unterscheidenden Selberdenkens; in ihr allein kommt ja auch der ebenso unselbstverständlich-betreffende Anfang dessen, daß ich bin und nicht nicht und nicht anderes bin, zum Vorschein.
„Ich weiß“ heißt hier notwendig „Ich weiß mich“, ich bin da als der Andere des Etwas, das ich weiß. Das schließt ebenso notwendig die Umkehrung ein: „Das Selbstbewußtsein ist nämlich nicht ohne Bewußtsein eines Anderen, von dem ich mein Selbst als gleichfalls Objekt oder Gewußtes unterscheide“ (XII, 271). Nehme ich mein Denken und darin mich selbst an mich, so blickt diese Bewegung zugleich nach möglichem Anderem um: Was ist sonst noch? Ich bin – und sonst nichts? So mich unterscheidend trete ich indessen, mir unablöslich zu wissen auferlegt, bereits wieder von mir selbst zurück, werde vergleichbar mit dem Anderen, eingegliedert in die Reihe dessen, was ist. Die in der Vielheit Subjekt – Objekt und in der darin eröffneten Vielheit möglicher Objekte aufgehobene Einheit, welche die Vielheit als solche zusammenhält, tritt hervor, das in anderer Weise als die Objekte Andere zu mir und ihnen. Diese Einheit ihrerseits aber ist weder einzelnes Glied noch Summe von Vielheit oder Abstraktion aus einer Summe, sondern das, was alles Einzelne und seine Summe allererst gewährt.
Weder am „Ich“ noch am „selblosen Nicht-Ich“ entzündet sich das Denken, „weil doch beide nur mit einer tieferen primitiven ihnen zum Grunde liegenden Überzeugung eines Anderen oder Ersten, zu welchem Ich oder ein selbloses Nicht-Ich das Andere ist, nämlich Gottes auftreten“ (VIII, 339).
Die unvermittelte Gleichsetzung dieses gewährenden, ersten „Anderen“ mit Gott überrascht. Was veranlaßt zu ihr? Alles Einzelne, das sich mir zu denken anbietet, ist umfaßt von einer einzigen Helle des Sich-Zeigens, das mich und alles vermag, zueinanderfügt. Dieses „Allgemeine“ war in der Selbstvergessenheit vor dem Vollzug bloß allgemein, verschwieg seine Gabe und seinen Anruf in sich, jetzt aber, im sich ergreifenden Cogito, tritt es hervor, fordert von mir die Aufgabe bloßen Verharrens bei mir selbst: „In einem Lichte sehen wir alle partiellen Lichter, wie wir in einem [285] Worte alle partiellen Worte vernehmen … Oder allgemein: um mich als Einzelnes mit einem anderen Einzelnen in Gemeinschaft zu setzen, muß ich meine Einzelheit in die Form des Allgemeinen erst aufheben, d. h. jene durch diese (das Allgemeine) vermitteln lassen. Denn es ist keine ‚unmittelbare‘ Äußerung eines Einzelnen gegen oder in ein anderes Einzelnes möglich“ (V, 85 Anm. 2). Es genügt nicht, daß ich an sich, vor meinem Vollzug, in der einen umgreifenden Offenheit mit allem anderen Seienden und allem anderen Denken innestehe. Zurückgeworfen auf mich, hineingestoßen in den „Unterschied“, „nur ich“ und so den anderen „gegenüber“ zu sein, muß ich dieses Gegenübersein einbringen in die anfängliche Offenheit, sie vollziehend „wiederholen“, mich ihr lassend sie und in ihr alle und alles gelten lassen. Das umfassend Allgemeine erhebt sich und wird, jenseits verfügbarer Selbstverständlichkeit, zu dem, was im Umfassen alles verwahrt und sich nur jenem eröffnet und gewährt, der sich ihm läßt.
Gehe ich ein auf seinen hoheitlichen Ruf, so schenkt es mir, zu erkennen. Wer von sich absieht, der und nur der sieht selbst: „Dein Verlieren ist dein Fund“ (II, 227f.). Das Geschenkte ist mein, ich vollbringe, ich denke, was ist. Aber es erschöpft sich nicht darin, mein zu sein, und auch nicht darin, aller zu sein, die in derselben Nachträglichkeit wie ich es wiederholend in ihrem Denken vollziehen (vgl. IV, 96 Anm. 2 zu 95). Mir gewährt und von mir vollbracht, bleibt es doch verwahrt und je tiefer verwahrt in dem „Allgemeinen“, das es immer neu dem Denken anbietet, den Gedanken eigentlich nie mit ihm fertig und es nie zum bloß Ausgedachten menschlichen Denkens werden läßt. Wo die Gewähr des Allgemeinen in bloße Vergangenheit und ihr Gewährtes in bloße Verfüglichkeit umschlüge, wäre dieses gerade dem Denken entgangen. In meinem Denken muß das Allgemeine als das Frühere, als der gewährende Ursprung wirksam bleiben, die „Aufhebung“ ans Allgemeine ist nicht ein Moment, eine Bedingung, sondern der Bestand meines Denkens. Nur wenn mehr als ich in mir denkt, denke ich selbst.
Mein Denken ist der einend-unterscheidende Eintritt in Denken überhaupt. Daher sagt Baader, „daß dieses Bewußtsein nicht in den einzelnen in selbes erwachenden Menschen treten könne, falls er nicht in ein bereits vor ihm bestehendes, fertiges Bewußtsein hiemit träte, an dem unser einzelnes Bewußtsein nur Teil nimmt, nicht dessen Teil wird, so wie der Mensch nicht sprechen könnte, falls nicht unabhängig von ihm bereits gesprochen würde“ (IX, 109).
Mehr als ich denkt, wenn ich denkend ins Allgemeine eintrete, und doch denke ich, löscht mich das Allgemeine nicht aus. Im Gegenteil: Die Unterscheidung meiner selbst, deren Aufbruch den Vollzug auslöste und die es dann in der Hingabe ans Allgemeine, Einbegreifende aufzuheben galt, bleibt in dieser Aufhebung, ja wird in ihr vollendet, ich bin des Allgemeinen teilhaft, nicht Teil. Wie das mir Gewährte verwahrt bleibt in der gewährenden Wahrheit, so auch ich selbst: sie ist die meinen Unterschied ebenso umgreifend aufhebende wie in sich verwahrende Helle.
Die im Vollzug der Aufhebung des Ich mitvollzogene Unterscheidung ist indessen nicht nur Unterscheidung zwischen mir als Einzelnem, dem anderen Einzelnen und dem Allgemeinen. Bin ich seiner teilhaft, so ist es ganz in mir. [286] Dann allein sehe und unterscheide ich, wenn der Horizont, der alles umfängt, nicht nur über mir, sondern in mir selber ist. Ist er aber in mir, so ist er darin selbst unterschieden auch als in mir und über, vor mir, als mit mir und ohne mich, als aus mir aufgehend und mich erst begründend. „Deus est in se, fit in creaturis“ (II, 145, aber XV, 447).
Indem ich etwas behaupte, behaupte ich „die Wahrheit“. Das „Allgemeine“ liegt aller meiner Äußerung als Einzelner in ein anderes Einzelnes zum Grunde. Sie beruft sich „von selbst“ aufs Allgemeine und bedient sich seiner, indem sie sich verständlich zu machen versucht. So mein Denken und Erkennen speisend, geht das Allgemeine je mit und aus diesem Erkennen auf, wird von mir ausgelegt, behauptet. Gerade darin aber weist es hinter seine Verfüglichkeit für mich zurück in seine eigene, frühere Ursprünglichkeit, als verfüglich ist es, in der ganzen Fülle dieses Wortes, „Mitteilung“, in welcher sich der Selbststand des Mitteilenden, die Hoheit gewährenden und verwahrenden Ursprungs überhaupt anzeigt. Als ich selbst, als Ursprung bin ich durch die Mitteilung des Allgemeinen konstituiert; als ich selbst bin ich gerichtet, wenn ich sie in eigenmächtiger Willentlichkeit von mir her auslege: von innen her bleibt die Wahrheit unzerstörbar, unberührbar, wenn ich sie entstelle – ich bleibe ihr verpflichtet, ihr gegenüber, werde von ihr bloßgestellt; als ich selbst bin ich aber auch erfüllt und bestätigt, wo ich mich in den Einklang mit ihr gebe – mit der Wahrheit eins bin ich nicht allein. Was mich auf solche Weise von innen als mich selbst betrifft, was sich mir mitteilt und entzieht, das blickt mich an, das „kennt“ mich. Daher wagt Baader eben die Gleichsetzung des eigentlich Allgemeinen mit Gott. Auf dem Grunde des menschlichen Bewußtseins entdeckt er, „daß wir nicht von uns selbst zu diesem Selbstbewußtsein gelangen, nicht von uns selber in ihm erhalten bleiben, sondern nur durch Teilhaftwerden und -sein des göttlichen Urselbstbewußtseins (des absoluten Geistes), mit andern Worten, daß wir uns nur wissen, insofern wir Gott und unser (oft gänzlich uns unbeliebiges) Gewußtsein von ihm wissen“ (V, 96). „Wie … der Mensch sich sein Gewissen (sein eigentliches Sich-Wissen) nicht als psychische Selbstbespiegelung oder Bauchrednerei … hinwegdeuteln kann, so kann er sich auch in seinem Sich-Wissen nicht das (hiemit koinzidierende) Wissen seines Gewußtseins von einem Höheren, sich und ihn Wissenden hinwegdenken“ (II, 208).
Die hier an ihr Ende gekommene erste Stufe des Rückwegs vom Cogito ins Cogitor hat, von außen betrachtet, eine doppelte Eigenart: Sie führt nicht von einer seiend-geschlossenen Folge, dem „Einzelnen“, auf eine seiend-geschlossene Ursache, auf ein erstes Glied einer Reihe, sondern auf das „Allgemeine“, das die ganze Reihe vorweg ermöglichend umgreift. Dieses Allgemeine selbst aber wird zurückgeführt in die „konkrete“ Allgemeinheit des Ursprungs, nicht in eine leere Unbestimmtheit, nicht in eine sich unter der Hand zur „passiven“ Identität verschmelzende Fülle aller Bestimmungen, sondern ins reine und grenzenlose Bestimmen selbst. Ihr „Allgemeines“ ist der „architektonische Verstand“, „welcher als zugleich konstitutiv oder schöpferisch (d. i. Objekt und Subjekt zugleich setzend) sich kund gibt“ (V, 9). Was ihn von etwas wie transzendentalem Subjekt abhebt, ist die dialektische Verfassung des zur Aufgabe [287] seiner selbst an ihn, zur sich gerade unterscheidenden Einung mit ihm aufgerufenen Selbst, das sein verantwortliches Verhältnis zu ihm in seinem aller Selbstverständlichkeit enthobenen Vollzug frei zu leisten hat.