Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Der Standpunkt der Vernunft
Die von uns an Schelling gerichtete Frage nach dem Denken wird von ihm erörtert als Problematik der Vernunft, sie ist ihm das Tätigende des Denkens.
Vernunft versteht sich hier als die „in uns gesetzte, aber auf dem Standpunkt der Philosophie uns zum Objekt gewordene, demnach selbst ganz objektiv zu betrachtende Vernunft ... abgesehen von ihrer subjektiven Stellung, abgesehen von ihrem Sein in irgendeinem Subjekt“1. Schelling rekurriert also, wie es für einen Philosophen des deutschen Idealismus in der Folge Kants2 selbstverständlich ist, auf die alle individuellen Bedingungen und Verschiedenheiten übergreifende Durchgängigkeit des Denkens. Wohl führt der Denkweg des späten Schelling über die rein „rationale Wissenschaft“, über den „objektiven Rationalismus“, „der nicht von subjektiver Vernunft, der von der Vernunft selbst erzeugt war“3, hinaus zur positiven Philosophie. Was aber auch in dieser weitertreibenden Bewegung der Philosophie vorausgesetzt und für das Selbstverständnis des Denkens beim späten Schelling grundlegend bleibt, ist der Ansatz bei Vernunft und Denken in einem allgemeinen, überindividuellen Sinn. Es gibt ein „objektives, von mir unabhängiges Denken“4, ja es gibt die „Vernunft selbst“5,die in Schellings [40] Sinn noch mehr und noch tieferes als Abstraktion vom menschlichen Einzelbewußtsein, noch mehr als transzendental menschliches Vermögen ist, nicht nur „menschliche Vernunft“, sondern „in dem Seienden selbst wohnende Vernunft“6.
„Vernunft“ kommt bei Schelling, wie dieser kurze Hinblick auf seine Texte schon andeutet, in einer, vordergründig betrachtet, doppelten Bedeutung vor: Einmal ist sie das Prinzip des Erkennens, „nicht als Erkenntnisvermögen, nicht subjektiv genommen, sondern ... als eben die unendliche Potenz des Erkennens“7. Das Worumwillen der Vernunft ist hier also die Erkenntnis; der Vollzug der Vernunft unmittelbar aus sich selbst aufs Erkennen zu, ohne daß darin die Erfülltheit des Erkennens notwendig schon gewährleistet wäre, ist das Denken. Dieses Denken geschieht in den Denkenden und von den Denkenden her, geschieht in und aus ihnen aber nicht als bloß das ihre, sondern als das Denken selbst, in welchem die Vernunft selbst sich vollzieht. In diesem ersten Sinne, als die objektiv betrachtete „unendliche Potenz des Erkennens“ ist Vernunft als Ursprung, als tätigend tragender Inbegriff des Denkens angesetzt.
Zum andern aber ist Vernunft bei Schelling „die ihnen selbst inwohnende Vernunft der Dinge“8, jene Vernünftigkeit in Ordnung und Ablauf des Seienden, die etwa den Gedanken des physikotheologischen Gottesbeweises aufkommen lassen kann, den Schelling in seiner gängigen Führung freilich ablehnt9. Hier ist Vernunft als das zu Denkende, vollziehend ans Licht zu Bringende, als die ursprüngliche Gelichtetheit des Seienden verstanden.
Das für Schelling Eigentümliche ist nun gerade der Zusammenhang, ja Zusammenfall dieser beiden Bedeutungen der Vernunft. Das Denken (in dem von uns angesetzten, weiten Sinne) ist Vollzug dieser Gelichtetheit, in welchem sie als gelichtete da, zu sich, ans Licht gekommen ist, es ist die von uns getane, sich in uns zu sich einholende Vernunft des Seienden selbst. Sie ist das, was sich in unserem Denken tut.
Daher kann der späte Schelling den konstitutiven Anfang des Denkens nicht in die subjektive Selbstgewißheit des cartesianischen [41] „Cogito, ergo sum“10 oder der Fichteschen „intellektuellen Anschauung“11 setzen. Die Vernunft, das Denken vollziehen sich selbst und objektiv, „es ist kein Wille noch irgend etwas Zufälliges, wodurch sie bestimmt ist“12.Der Einstieg in dieses Denken, in den Vollzug der Vernunft, ist freilich etwas wie „intellektuelle Anschauung“13, ist Aufgabe der endlichen Subjektivität in das Selbstgeschehen der Vernunft14, ist somit unerzwingbar freier Eintritt15 in das in sich selbst Notwendige.
Hier könnte sich die Vermutung einstellen, Vernunft sei eine fertig vorliegende Sinnstruktur, die zugleich dem Seienden der Welt eingestiftet und dem Menschen eingeboren, von ihm nur ins Bewußtsein zu heben wäre. Schelling überwindet indessen gerade die Vorstellung einer bloß faktischen, präformierten Vernunftapparatur; schon in seinem „System des transzendentalen Idealismus“16 entwickelt er die selbige Vernünftigkeit des Seienden und des Erkennens im einen Zug einer Analyse der sich setzenden und im Setzen sich suchenden Bewegung des Selbstverhältnisses. Das Identitätssystem radikalisiert diesen Ansatz ins Absolute als seinen Ausgangspunkth in ein, welches Absolute als die Indifferenz von Subjekt und Objekt erscheint. Nicht irgendein wißbares, also umgreifbar partielles Prinzip17, nicht ein „dieses und nicht jenes“, sondern die waltende Mächtigkeit, daß ist, was ist, die „ewige Freiheit“18 ist das sich in der ontologisch-logischen Entwicklung der Vernunft Vollbringende.
Die Spätphilosophie bleibt dem aus frühen Wurzeln des Schellingschen Denkens konsequent gewachsenen Verständnis der Vernunft treu. Vernunft ist auch und gerade hier noch das eine Tragende der zugleich logischen und ontologischen Bewegung des Denkens. Es „kann der unendlichen Potenz des Erkennens nichts anderes als die unendliche Potenz des Seins entsprechen, und dies ist also der der Vernunft an- und eingeborene Inhalt. An diesen unmittelbaren [42] Inhalt der Vernunft wäre Philosophie, oder die Vernunft, sofern sie sich in dieser als Subjekt verhält, zunächst gewiesen; in dieser aufihrenInhalt sich richtenden Tätigkeit ist die Vernunft Denken - Denken κατ' ἐξοχήν – nämlich philosophisches Denken.“19
Denken als das Vollbringen des Seins im Sich-Vollbringen der Vernunft, Denken nicht als ein sich selbst äußerlicher Mechanismus oder eine subjektive Anstrengung, sondern Denken als die Ausfaltung seiner eigenen universalen Potentialität und damit zugleich der des Seins ist hier aus Schellings Text gewonnen. In dem noch späteren Text der philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie ist, im Zusammenhang von uns schon wiederholt herangezogener Stellen, gar die Entsprechung von Vernunft und Seiendem in eine dynamische Selbigkeit aufgehoben: „Denn in das Seiende ist die Bewegung gelegt, das Seiende aber nur das, worin die Vernunft sich gefaßt und materialisiert hat, die unmittelbare Idea, d. h. gleichsam Figur und Gestalt der Vernunft selbst.“20 Sosehr noch zu erörtern bleibt, was „das Seiende“ hier und in der Spätphilosophie überhaupt heißt, wird deutlich, daß Vernunft und Denken als das Gegenteil abgelöster logischer Funktionen verstanden sind. Wenn dergestalt die Vernunft, und zwar auch die in unserem Denken sich denkende Vernunft, eins ist mit der Vernunft des Seienden, so rücken die zwei scheinbar widersprüchlichen Aussagereihen zueinander, in welchen Schelling den gemäßen Anfang und das Wesen des Denkens bezeichnet: Das Denken denkt sich – das Denken denkt nicht sich, sondern was ist.
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XIII 62/63. ↩︎
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Vgl. ebd. ↩︎
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XI 375, vgl. XIII 165. ↩︎
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X 11. ↩︎
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XI 375. ↩︎
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XI 532, vgl. XIII 247 f. ↩︎
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XIII 63. ↩︎
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XI 465. ↩︎
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XIII 247–250. ↩︎
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Vgl. X 4/5, XI 269/270. ↩︎
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Vgl. X 147/49. ↩︎
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XI 375 – Wille bedeutet, wie die Spannung dieser Stelle zu so vielen anderen bezeugt, hier nur „Willkür“, außerrationale Motorik. ↩︎
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Vgl. X 150 f. , IX 229; vgl. auch Schulz, a. a. O. 115–119. ↩︎
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Vgl. IX 217/18. ↩︎
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Vgl. III 368–370. ↩︎
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III 329–634. ↩︎
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Vgl. IX 217. ↩︎
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IX 220. ↩︎
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XIII 64. ↩︎
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XI 375. ↩︎