Wegmarken der Einheit

Der theologische Hintergrund: mehr, maius, magis

Die großen Zeugnisse der Menschheit sind, trotz aller unterschiedlicher Farben und Perspektiven, sich darin einig: Der Mensch ist unendlich größer als er selbst. Der Mensch lebt vom Mehr, lebt auf das Mehr zu. Man könnte die Formel wagen: Der Mensch ist sich selber gleich, indem er unendlich größer ist als er selbst. Wenn im Abendland Aristoteles formulierte, daß die Seele gewissermaßen alles ist (die Formel bei Thomas von Aquin: anima quodammodo omnia, so etwa in S.th.I,q.80,1c), dann ist das in spröder gedanklicher Form ein Widerhall jenes Wissens, das uns in den indianischen Mythologien begegnet, von denen eindrucksvolle Bruchstücke die Wand des Goldmuseums in Bogotá schmücken; in ihnen werden Gedanke und Gedächtnis und also menschliches Leben zurückgeführt auf ein urtümliches Meer, das der Sonne, dem Mond, den Menschen, den Tieren und Pflanzen, ja jedem Etwas voraufgeht. Was alles umfängt und aus sich entläßt, das kommt beim Menschen an, indem er denkt und gedenkt. Und er selbst – so in einer anderen Mythologie, die am selben Ort uns überliefert ist – trägt als sein innerstes Wesen in sich den durchsichtigen Kristall des alles durchflutenden Sonnenlichtes; Durchsichtigkeit, die zugleich Güte und Wärme bedeutet, ist das Bleibende, Feste, Wesenhafte des Menschen. Mehr als [30] nur der Mensch lebt im Menschen; er lebt daraus, daß er dieses Mehr in sich lebendig hält und darauf zustrebt. Sich loslassen, sich lösen von allem Vorläufigen und Endlichen, ganz weit und ganz groß werden und so gerade seine Identität finden, das ist auch die Botschaft, die in vielfältiger Gestalt die Weisheit des Fernen Ostens spiegelt.

Um es in der Sprache des christlich werdenden Abendlandes zu sagen: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott!“ (Augustinus, Confessiones I, 1). Auch die scheinbar auf den Menschen allein konzentrierte Neuzeit weiß dies, in ihren christlichen und in ihren gegen das Christentum skeptischen Gedanken. Auch wenn ein Kant mit seiner theoretischen Vernunft nicht glaubt, daß Gott beweisbar ist, und er ihn nur als Postulat der praktischen Vernunft anerkennt, so weiß doch auch sein theoretisches Denken, daß jeder Begriff und jeder Gedanke hintendiert zu einem Größten, zur Idee des allumfassenden und alles übersteigenden Gottes. Und ein Lessing, der glaubt, nie die Wahrheit haben zu können, sieht das Wesen des Menschen doch in der Unruhe nach der je größeren Wahrheit. Blaise Pascal schließlich, der ebenso ein Vater neuzeitlicher Wissenschaft und ihres Bewußtseins wie ein Zeuge des Glaubens ist, faßt den Menschen zusammen in dem Wort: „L'homme passe infiniment l'homme“ (Pensées, Fragm. 434, ed. Brunschvicg). Dabei ist besonders wichtig, daß das Wort „passe“ einen doppelten Klang hat; es heißt zum einen „übersteigen“, zum andern aber auch „entgehen“. Der Mensch entgeht sich, wenn er nur in sich bleibt, er ist unterwegs zu dem, was unendlich größer ist als er.

Man könnte sagen, daß – unabhängig von der Bedeutung dieses Arguments für die natürliche Gotteserkenntnis – der Gedanke des hl. Anselm von Canterbury wie in einem Brennpunkt nicht nur die Geschichte des Abendlandes, sondern die der Menschheit über den Menschen zusammenfaßt: Der Mensch lebt auf ein Äußerstes, Höchstes, Größtes zu, auf [31] eines, das nochmals je größer ist als alles, was wir bereits denken konnten – und nur von diesem Größten her kommt alles andere in Sicht, ja gibt es alles andere. Id quo maius cogitari nequit (vgl. Proslogion, c.2) – das, worüber hinaus ein Größeres nicht gedacht werden kann, ist der Bezugspunkt unseres Denkens und unseres Lebens. Wohl kein anderer Gedanke in der Philosophiegeschichte hat so viele Folgen gezeitigt wie dieser Gedanke des Vaters der Scholastik. Und das magis des hl. Ignatius ist sozusagen der praktische, für den menschlichen Vollzug maßgebende Widerhall dieses Gedankens.

So bleibt die Frage, die als die Menschheitsfrage, als die Frage des Menschen nach sich selbst gelten darf: Wo und wie finden wir dieses Größte, wo und wie löst sich die Tendenz des Menschen zum maius und magis, zum je Größeren ein?

Wir haben bereits das Johannesevangelium zitiert: Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zum Äußersten. Das „Äußerste“ der Liebe ist das Größte, was es gibt. Die Frage des Menschen nach dem Größten ist, im Verständnis der christlichen Botschaft, die Frage nach der größten Liebe, die es gibt. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13). Es ist indessen nicht nur eine Besonderheit des Johannesevangeliums, gerade hier die Spitze christlicher Offenbarung zu sehen: Gott, der die größte Liebe schenkt und so den Menschen erlöst, der aus sich selbst nach dem Größten strebt und doch das Größte aus eigener Kraft nicht erreichen kann. Wir können diese Linie auch bereits in den anderen Schichten des Neuen Testaments entdecken. „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ fragt Paulus im Römerbrief (8,32) und zeigt so an, daß unsere Sehnsucht nach dem Größten, nach dem Ganzen gestillt ist allein in Gottes je größerer Liebe, die ihren äußersten Punkt in der Hingabe des Sohnes für uns erreicht hat. Ja, alles ist unser, das Ganze ist [32] unser, Welt und Engel und Tod und Leben, wenn wir Christi sind, wie Christus Gottes ist, wenn wir uns in jene Liebe des Sohnes zum Vater hineingeben, die uns eben geschenkt und eröffnet ist in Jesu Selbsthingabe (vgl. 1 Kor 3,21–23). Und Jesus selbst beantwortet den Streit seiner Jünger, wer unter ihnen der Größte sei, nicht nur damit, daß er paradoxerweise den Kleinsten, das Kind in ihre Mitte rückt, sondern auch damit, daß er selber auf jene Liebe verweist, die ihn zum Diener aller, zum Kleinsten von allen hat werden lassen: Liebe, Hingabe, sich entäußerndes Dienen ist das Größte, Göttlichste, was es gibt; wer sein will wie Gott, muß lieben wie Gott (vgl. Mk 9,33–36 und 10,41–45).

Die wahre Tendenz zum Maximum ist die Tendenz zum Minimum, zu jener göttlichen Selbstentäußerung, in der das sichtbar wird, was Gott wahrhaft ist: Liebe. Daß der Mensch nach dem, was nicht nur er selbst ist, sondern unendlich größer als er, hinstrebt, dies ist Spiegelbild Gottes, der sich selbst übersteigt und uns schenkt, in einer Liebe, über die hinaus eine größere nicht gedacht werden kann.

Diese Liebe kann nicht durch Spekulation und Schlußfolgerung erkannt werden, sie muß sich offenbaren. Sie hat sich geoffenbart in der Selbsthingabe Gottes in Jesus. In ihr erkennen wir aber, wie Gott in sich selbst ist – und es sei daher erlaubt, einen Augenblick auf einen Gedanken des hl. Bonaventura zu schauen, der das Argument des hl. Anselm für die Erkenntnis der Heiligsten Dreifaltigkeit fruchtbar macht. Im 6. Kapitel seines Itinerarium geht Bonaventura davon aus, daß Gott absolute Güte ist, Güte aber verströmt sich selbst (bonum est diffusivum sui). Eine höhere Selbstmitteilung, ein totaleres Sich-Verströmen kann es nicht geben als das dreifaltige Leben: Gott teilt sich als Gott in sich selber so vollkommen mit, daß der Vater sich im Sohn und Vater und Sohn sich im Geist wiederfinden in der einen, unteilbaren, göttlichen Liebe, die Gott selber ist. Hier erst hat der Mensch das erreicht, über das [33] hinaus Größeres nicht gedacht werden kann – er erreicht es aber nur, indem diese dreifaltige Liebe ihn erreicht, ihm sich mitteilt und schenkt.

Dann aber kommt alles darauf an, daß der Mensch an diese Liebe glaubt. Credidimus caritati – wir haben geglaubt an die Liebe (vgl. 1 Joh 4,16): Dies ist die knappste Synthesis des ganzen christlichen Glaubens. Hier erreicht der Mensch die Höhe seines eigenen Wesens; und zugleich übersteigt er sie und sich, denn er tut etwas, was er nicht aus sich selber kann, sondern nur deshalb, weil Gott selber es ihm schenkt.

Man könnte von einem Dreischritt sprechen, der an dieser Stelle für den Glaubenden einsetzt. 1. Schritt: Ich glaube an die Liebe, über die hinaus es keine größere gibt, in der Kraft dieser Liebe, die sich mir schenkt und mir den Glauben schenkt. 2. Schritt: Ich konstatiere in diesem Glauben nicht nur die Liebe, sondern die Liebe ruft die Liebe, die Liebe wird nur von der Liebe verstanden, die Liebe will geliebt werden. Ich liebe die Liebe Gottes, ich liebe Gott und liebe, untrennbar davon, so wie Gott geliebt hat, das, was Gott liebt. Wenn Gott uns so geliebt hat, dann sind wir es schuldig, auch einander zu lieben (vgl. 1 Joh 4,11). 3. Schritt: Unser Glaube an die Liebe und unser Lieben, wie er liebt, müssen sich immer neu nähren und entzünden an der Stelle, an welcher uns die größte Liebe begegnet, an welcher sie uns anschaut, an welcher sie für uns ganz konkret wird und uns dort einholt, wo wir sind. Und hier ist eben der Punkt, an dem wir das Geheimnis Jesu entdecken dürfen, der uns bis dahin geliebt hat, daß er allen Schmerz unserer Trennung von Gott, unserer Ferne von Gott, unserer Gottverlassenheit mit uns teilt und für uns trägt. Hier ist in der Tat der eine Punkt, in dem sich die Wege des dreifaltigen Gottes und die Wege der Menschheit kreuzen und vereinen.