Der Ort der Akademie in der Kirche

Der theologische Ort der Akademie

Man pflegt die Grundtatsache unseres Glaubens in dem Wort des Johannesprologs auszudrücken: „Und das Wort ist Fleisch geworden.“ (Joh 1,14). Religion ist nicht mehr nur der Weg des Menschen zu Gott, auf dem er sich über alle Bezirke des Endlichen hinausläutert, Welt und Zeit hinter sich lassend, sie ist vielmehr zuerst Handeln Gottes, der sein Reich heraufführt, indem er sich mit dem Menschen einläßt in all seine Endlichkeit, eben in der Fleischwerdung seines ewigen Wortes. Religion als unser Vollzug bleibt zwar unabdingbar auf Gott gerichtet, der im unzugänglichen Lichte wohnt (1 Tim 6,16), der Geheimnis ist. Aber der Ausgriff nach ihm ist zugleich das Ergreifen seines Angebotes in unserer Welt und Geschichte, das in Jesus Christus geschehen ist. Dieses Ergreifen setzt uns in die leibhaftige Gemeinschaft über die Jahrhunderte hinweg mit Christus, die aber tot wäre, wenn wir nicht den Geist Christi in ihr ergriffen. Er [305] ist es, der uns auferbaut zur Kirche als dem mystischen Herrenleib,1 und sein Auferbauen geschieht nach demselben Gesetz, nach dem auch die Menschheit und Leibhaftigkeit Jesu selbst durch ihn im Schoße der Jungfrau gewirkt wurde: „Das Wort ist Fleisch geworden.“

Kirche als Gegenwart des Gottesheiles in der Welt schließt notwendig den Beitrag der Welt und des Menschen zu der Tat Gottes mit ein. Das Wort Gottes an uns, und sei es das inspirierte Wort der Schrift, ist immer auch Menschenwort. Nur indem Gott eine Möglichkeit unseres menschlichen Geistes, eine in ihm geborgene und umfaßte Weise des Sagens ergreift, kann er uns das sagen, was über unsere menschliche Möglichkeit des Sagens und Begreifens hinausreicht. Sonst wären nicht mehr wir es, die sein Wort hören, verstehen und glauben. Es gibt keine chemische Trennung von Gottes Wort und Menschenwort im Offenbarungsgut, sondern nur das konkrete Wort Gottes, das immer bereits mit dem menschlichen Wort vermählt ist, ohne doch in der Relativität und Endlichkeit bloß menschlicher Rede aufzugehen. „Unvermischt und ungetrennt“, diese Formel des Konzils von Chalkedon, die vom Verhältnis der beiden Naturen im Verbum incarnatum gilt, gilt von aller Gnadenwirklichkeit göttlicher Gegenwart in dieser Welt, im Wort, im Sakrament und in der konkreten Gegebenheit des Ursakramentes, das die Kirche ist, in unserer Geschichte. So sagt Karl Rahner in seinem großen und bedeutsamen Artikel zur Christologie von Chalkedon, daß jede Formel, auch das Dogma, nicht nur Ende, sondern zugleich Anfang einer Entwicklung sei;2 das im Wort des Dogmas gültig ein für allemal Festgestellte kann in seinem Sinn nur unverändert erhalten bleiben, indem es sich immer neu dem verstehenden Bemühen des menschlichen Geistes zuspricht und von ihm in immer neuer Bewegung ergriffen wird. Dies heißt nicht die einmal bestimmte Formel aufgeben, sondern sie bewahren als den unveränderlichen Grund, auf dem es weiterzubauen gilt.

Was hier von der Gegenwart des Gotteswortes in jeder Zeit gesagt ist, betrifft nicht minder die Wirklichkeit der Kirche als eines sozialen Gebildes in der Welt. Überall ist der Kirche ein Bewahren aufgetragen, das zugleich „Austeilen der Geheimnisse Gottes“ (vgl. 1 Kor 4,1) ist, dies heißt: Zuwendung des ewig selben an die Menschen, die immer andere sind.

So hat die Kirche zweierlei Aufgaben. Sie hat einmal zu blicken auf das ein für allemal von Gott Gewirkte und Gesagte und dafür zu sorgen, daß kein Jota und kein Häkchen davon verloren gehe. Wann aber geht etwas davon verloren? Dann, wenn es sich nicht mehr in die Hände und Herzen der Gläubigen hineinlegt, die lebendige Menschen ihrer Zeit und ihrer Welt sind. Und so ergibt sich von selbst die zweite Aufgabe der Kirche: die Realitäten des lebendigen Menschen und seines Jahrhunderts gegenwärtig zu halten vor der Botschaft und dem Angebot Gottes, damit diese die Möglichkeit haben anzukommen, angenommen zu werden.

Im Feld dieser zweiten Aufgabe steht auch die Akademie. Sie will zwar nicht eigentlich theologische Arbeit leisten, indem sie die von der Philosophie und Wissenschaft unserer Zeit entwickelten Sage- und Sichtweisen in Anwendung brächte, um dem alten Wahren eine neue Formel zu finden; aber sie sucht den unmittelbaren Kontakt mit der Problematik des sozialen, wirtschaftlichen, [306] politischen und kulturellen Lebens heute. Dazu führt sie den in der Welt engagierten Christen ins Gespräch, in welchem das Spannungsfeld zwischen seinem Glauben und seinem Stehen in der Welt offen wird. Solches Gespräch soll als Frucht ein schärferes Erkennen der und moderner Gesellschaft ertragen und so der Verkündigung und Verwirklichung des Christentums in unserer Situation neue Möglichkeiten erschließen. Durch den Beitrag einer lebendigen Erkenntnis der Zeit möchte die Akademie der Gegenwart der Kirche in der Zeit dienen. Darüber hinaus aber will sie auf eine noch andere Weise Gegenwart der Kirche in den Gläubigen und in der Welt sein. In diesem Kirche-sein wiederum soll auch dem einzelnen eine Hilfe geboten werden für seine christliche Selbstverwirklichung in der Welt. Hierzu legte im vergangenen Dezember Karl Rahner bei einer Tagung der Freiburger Akademie auf der Reichenau einen grundsätzlichen Gedanken vor.3

Der Heilige Vater betonte in einer Ansprache an Journalisten, die öffentliche Meinung sei „die Mitgift jeder normalen Gesellschaft, die sich aus Menschen zusammensetze“, und er schloß daran eine Betrachtung auch über die öffentliche Meinung in der Kirche an: „denn schließlich ist auch sie eine lebendige Körperschaft, und es würde etwas an ihrem Leben fehlen, wenn in ihr die öffentliche Meinung fehlte – ein Fehlen, für das die Schuld auf die Hirten sowohl wie auf die Gläubigen zurückfiele“4. Dem Zusammenhang nach bezeichnet der Heilige Vater mit öffentlicher Meinung die nicht von leitenden Stellen reglementierte, sondern aus der Freiheit der einzelnen gebildete und geäußerte Meinung innerhalb einer Gemeinschaft, sofern diese Meinung in ihrer Wirkung nicht auf die private Sphäre des einzelnen beschränkt bleibt, sondern das Leben und Erscheinungsbild, die Öffentlichkeit dieser Gemeinschaft mitbestimmt.

Es könnte zunächst verwunderlich erscheinen, daß solche öffentliche Meinung auch in der Kirche statthaben soll. Baut die Kirche nicht ganz auf die Autorität des handelnden Gottes, die sich zwar an die Freiheit des einzelnen wendet, aber eben auf den Gehorsam des Glaubens hin? Nimmt die Wahrheitsvermittlung in der Kirche nicht unumkehrbar ihren Weg von oben, bestimmt vom Wort des offenbarenden Gottes, das durch die befugten Träger ihrer Lehrgewalt vermittelt wird? Gewiß, im Glauben wird das gehorsam empfangene Wort aus unserem Herzen wiedergeboren als unserjeder normalen Gesellschaft Tun. Doch die uns als Glaubende kennzeichnende und verbindende Äußerung des Geglaubten aus unserer Freiheit ist nicht öffentliche Meinung, sondern gemeinsames Bekenntnis. Wenn wir indessen in die rein menschlichen Gesellschaften hineinschauen, so finden wir – freilich nur in sehr analoger Weise – auch dort etwas, das solchem Bekennen entspricht. Es ist die für den Bestand einer Gemeinschaft unabdingbare allgemeine Anerkenntnis ihrer Ziele und Gesetze. Das Leben einer Gemeinschaft besteht nicht nur in einem grundsätzlichen, sondern in einem je konkreten Ja zu ihren Zielen und Gesetzen, und dieses konkrete Ja muß von der Freiheit ihrer Glieder im Spielraum des unabsehbaren wirklichen Daseins gewonnen werden. Hier eben ist der Ort der öffentlichen Meinung in „jeder normalen Gesellschaft“.

So gibt die Kirche ihren Gliedern zwar aus dem natürlichen Sittengesetz und der Offenbarung her autoritativ unumstößliche Normen, es liegt aber an den in [307] Welt und Zeit innestehenden Christen selbst, aus diesen Normen im Blick auf die jeweilige Situation ihren “konkreten Imperativ“ zu finden. Wie habe ich mich als Glied der Kirche und zugleich als Partner am Geschäfte der Welt hier zu verhalten, wie dieses Problem zu beurteilen? Diese Fragen lassen dem an den objektiven Normen orientierten Gewissen einen Rest, der zwar nie gegen die allgemeinen Prinzipien, aber doch oft auch nicht mit ihnen allein gelöst werden kann. Zwei Beispiele mögen dies erläutern. Karl Rahner wies hin auf den Abiturienten, der der vor der Berufswahl steht. Nachdem er an den hierfür maßgebenden Grundsätzen seine Eignung zum Priestertum geprüft hat, gibt es keine weiteren allgemeinen Grundsätze mehr, an denen er ablesen könnte, ob er Theologie studieren solle oder nicht. Und aus der Sphäre des Gemeinschaftslebens: Bei einer Tagung der Freiburger Akademie Konjunktur und Maß in der Wirtschaft zeigte P. Dr. Wallraff SJ auf, daß in vielen Fällen der Leiter eines Unternehmens aus den ethischen Gesetzen allein keine eindeutige Weisung für sein Handeln mehr empfangen könne. Und doch ist es hier und dort vor Gott nicht gleichgültig, was geschieht. (Daß es bei solchen Fällen je nur um Akte gehen kann, die nicht in sich schlecht sind, versteht sich von selbst.)

Sofern derlei Fragen nun den einzelnen in seinem nur persönlichen Raum betreffen, bleibt ihm zur Findung seines konkreten Imperativs wohl kein anderer Weg als das nüchterne Durchdenken der bindenden Prinzipien einerseits und seiner Situation und seiner Kräfte anderseits und dann – vor allem – das unmittelbare Hintreten vor den ihn in Anspruch nehmenden Willen Gottes im Gebet. Wenn aber eine gemeinsame Sache der Christen auf dem Spiel steht oder dieselbe Situation von vielen Glaubensbrüdern geteilt wird, so wird das Suchen des konkreten Imperativs zunächst die Gemeinsamkeit der Christen im Gespräch erfordern, aus dem eine öffentliche Meinung erwachsen kann, die den einzelnen ebenso aufruft, an ihr mitzuwirken, wie sie anderseits auch ihn bei seinem persönlichen Entscheidenmüssen tragen und ihm helfen kann.

Es ist also die Aufgabe der Akademie, sich im Gespräch der Christen um die klare Erkenntnis der gemeinsamen Situation zu bemühen und so den Weg zu einem glaubens- und zeitgerechten Handeln anzubahnen. Die Freiheit der Glaubenden will in ihrem gemeinsamen Beitrag zur öffentlichen Meinung in der Kirche Gestalt gewinnen, der einzelne soll aus der gemeinsam geübten Freiheit Halt und Mut für sein Stehen in der Welt finden.

Die in der Akademie gesuchte Kenntnis der Zeit möchte der Kirche zur Erfüllung ihres Auftrages an die Zeit dienen, das Zusammenwirken der Christen in dem hierzu erforderten Gespräch möchte Verwirklichung der Kirche, der in ihr gewährten Freiheit und Einheit sein, und aus ihr möchte die verantwortliche Tat des Christen ihren Anstoß erfahren, deren Kirche und Zeit in gleicher Weise bedürfen.


  1. Vgl. Pius XII.: Enzyklika „Mystici Corporis“, in: Acta Apostolicae Sedis 35 (1943) 220. ↩︎

  2. Vgl. Rahner, Karl: Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 1954, 169ff. ↩︎

  3. Vgl. zum folgenden auch: Rahner, Karl: Das freie Wort in der Kirche, in: Schriften zur Theologie II, Einsiedeln 1955, 95–114. ↩︎

  4. L'Osservatore Romano 40 (1950) 18.2.1950. ↩︎