Reinhold Schneider, Der Turm des Freiburger Münsters

Der Turm in Stein

Zuerst ist der unmittelbar in den Versen von Reinhold Schneider Angesprochene selbst vorzustellen, der Freiburger Münsterturm. Es ist der erste und zugleich der einzige in der Gotik vollendete große Turm, der einen aus demselben Stein wie das Gesamte gemauerten durchbrochenen Turmhelm hat. Aus dem wuchtigen Quadrat, das den Grundriß der unteren Turmgeschosse bildet, wächst in diskret sich ins schier Unbemerkbare zurücknehmendem und doch transparentem Übergang der achteckige Grundriß der mit offenen großen Turmfenstern versehenen oberen Turmgeschosse, die dann die Pyramide des Helmes tragen. So entsteht zum einen eine unverwechselbare, prägnante Silhouette, die dem Turm einen zeichenhaften Hinweischarakter nach oben verleiht. Er erinnert in der oberrheinischen Kunstlandschaft an den überlangen Finger, in welchen Matthias Grünewald auf dem Kreuzigungsbild des Isenheimer Altares in Colmar die Gestalt Johannes des Täufers münden läßt1. Zugleich ist der Turm als Ganzer ein Fest des Steines, ein Fest des Himmels und ein Fest der Vermählung zwischen beiden: roter Sandstein, der die Sonne, an der Frontseite die Abendsonne in sich aufsaugt und zugleich zum Widerleuchten und Nachleuchten bringt. Das Himmelslicht spielt aber auch im Durchblick mit, den die nach oben hin zunehmend offenen Turmteile zum Himmel hin gewähren, so daß dieser selbst in die immanente Ornamentik des Bauwerks einbezogen ist. Dem Hinweis der Silhouette auf den Himmel hin und der Vermählung zwischen Himmel und Erde in der Baugestalt entspricht die landschaftliche Position des Turms. Er ist die zusammenfassende und zugleich nach oben hin aufreißende Mitte der Freiburger Bucht, des Halbrunds, in welchem der Schwarzwald zur Rheinebene hin abfällt. So ist er von ungezählten Stellen aus Wegzeichen zum Himmel.


  1. Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben, S. 89 f. ↩︎