Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Der Urgedanke schlechthin: das Subjekt oder Seinkönnende
a) Zugang aus unserem Denken
Sowohl in der Erhebung der Methode des reinen Denkens wie auch beim Vorblick auf die Potenzenlehre bemerkten wir die Bestimmung des reinen Denkens durch ein Wollen. Dieses gibt ihm erst die Richtung und bedingt, was sich dem Denken als erstes zeigt. Schelling versteht dieses Wollen indessen nicht als Zusatz zum Denken, der seine Reinheit einschränkte, vielmehr kann für ihn das Denken rein an sich selbst gar nicht anders beginnen, als wie es beginnt, im Zuge dieses Wollens also. Es wird dieses Zuges, wird seines Wollens jedoch im Beginnen, d. h. am Begonnenen seines Beginnens, erst inne.
Doch welches Denken beginnt da? Das Denken selbst, von dem die Beschränkung der empirischen Einzelheit des denkenden Subjektes hinweggenommen ist, und das auch nicht darin aufgeht, bloß Denken eines in allen empirischen Subjekten wesentlich denkenden transzendentalen Subjektes zu sein. Was an der notwendig vom Denkenden je selbst zu leistenden Erfahrung des Denkens abzulesen ist, das ist für Schelling, vom Zufälligen geläutert und auf seinen Grundvollzug und Grundinhalt reduziert, das Sich-Ansichtigwerden des Denkens schlechthin und absolut. Dies sollte nochmals betont werden, weil unsere Darstellung, um Mitdenken zu erschließen, auf die Beschreibung des – empirisch mitzutuenden – Vollzuges, auf das „tentandum et experiendum“ angewiesen ist1 und darin doch mehr meint und erfährt als einzeln zufällige oder nur auf menschliche Verhältnisse relativ notwendige Beobachtungen.
Was aber begegnet solchem Denken, das faktisch das je unsere und wesentlich das Sich-Vollbringen der Geistigkeit als solcher ist, wenn es anfängt zu denken? Schärfer gefaßt: Was weist sich in der [164] zeitlichen Erstheit unseres auf seine Wesensgestalt reflektierenden Denkvollzuges als der Anfang des Denkens selbst vor?2 Wir stellen diese Frage ans eigene Denken, stellen sie aber so, das uns Schellings Antwort daran einsichtig werden kann, müssen anschließend jedoch die Unselbstverständlichkeit dieser Antwort bedenken, an welcher Größe und Grenze des Schellingschen Gedankens aufgehen.
Um nun zur alles implizierenden und alles entscheidenden ersten Bestimmung des reinen Denkens in Schellings Sinn vorzustoßen, können wir unseren Ausgang bei jedem beliebigen unmittelbaren Gedanken nehmen, der sich etwas denkt. Versuchen wir einen solchen unmittelbaren Gedanken: das Setzen eines Begriffs, das Stellen einer Frage, den Ausstoß einer Prädikation etwa. „Unmittelbar“ soll der Gedanke sein, dies heißt hier nur: er soll keinen ausdrücklichen, abschließbar anzugebenden anderen Gedanken voraussetzen, der nicht in einem selben Blick des Denkens mitzufassen wäre.
Dieser unser Gedanke, der sich etwas denkt, ist so unmittelbar, wie er entsteht und vor uns steht, nicht an sich selbst der Urgedanke reinen Denkens. Um auf diesen zu kommen, müssen wir etwas von ihm wegnehmen, wegdenken. Was? Alles, was er sich gedacht hat. Was aber bleibt dann zurück? Antwort: Nichts.
Um dieses Nichts geht es. Es ist ein wesenhaft anderes Nichts als jenes, das waltete, wenn es den Gedanken selbst nicht gäbe, der nun als allen Etwas entkleidet, als aller Bestimmung und Vereinzelung bar zurückbleibt, ein wesenhaft anderes Nichts, so läßt sich radikalisierend weiter sagen, als wenn es das Denken nicht gäbe, das wesenhaft das Denkenkönnen seiner Gedanken, inhaltlich also: sie selber ist.
Schelling selbst legt Wert auf diese Unterscheidung des bloßen Nichts, das dem Sein kontradiktorisch entgegengesetzt ist, des οὐκ ὄν vom Nichts, das hier eingeführt wird und das dem Sein nur konträr gegenübersteht, vom μὴ ὄν3.
Worin aber zeigt sich der Unterschied des im letzteren Sinne „nichts“ denkenden Gedankens von dem Nichts jeglichen Denkens?
[165] Wie präzisiert sich also die Antwort auf die Frage, was zurückbleibe, wenn wir von unserem Gedanken alles, was er sich dachte, wegnehmen? Es bleibt kein Gegenstand des Denkens zurück, aber es bleibt der Urstand des Denkens4, sein vorgegenständliches Hinsein auf alles zu Denkende, seine Plastizität in alle möglichen Gedankenfiguren hinein, der „Stoff“, aus dem alle Gedanken gemacht sind, die bestimmungslose Labilität des Gedankens auf zu Denkendes hin.
Diese „Bestimmung“, die in der Negation jeglicher Bestimmung besteht, sagt den Gedanken in seinem Ursprung, sagt also die Ursprünglichkeit des Denkens aus_ und_ sagt zugleich das Gedachte dieses Gedankens, das Erstgedachte also des Denkens selbst aus, ja dieses noch unmittelbarer: denn der Gedanke (bzw. das Denken) richtet sich nicht auf sich, sondern auf sein zu Denkendes, also auf das, was ist. Nur indem es dem Denken darum geht, was ist, ist es Denken. Und dies gerade bleibt: daß es ihm um das geht, was ist; es bleibt aber so, daß nichts von dem, was ist, ergriffen, entschieden oder auch nur vorgestellt wäre.
Diese lautere, alles ein-, nichts ausschließende, das Eingeschlossene aber keineswegs herausstellende und besondernde Offenheit, diese noch alles verschweigende Anwesenheit von allem, was ist, dieses lautere – jetzt fällt das Wort – Seinkönnen schlechthin ist die Weise, wie das, was ist, ursprünglich anwest im Denken. Dieses sein noch nichts von bestimmtem Sein an sich tragendes Anwesen im Denken wird von Schelling mit dem Verb „wesen“ angezielt5. Das, was ist, ist ihm in der ersten Bestimmung, die somit die erste des reinen Denkens ist: das nur Wesende, das „Seinkönnende“ 6.
Was die Bestimmung Seinkönnendes materialiter nennt, kann formal heißen: das Subjekt 7. Wieso? Ziehen wir vom Gedachten unseres Gedankens alles Gedachte an ihm ab, so ziehen wir alle Prädikation, alle bestimmte Aussage von ihm ab, die Aussage, das Prädikat, das allein übrigbleibt, ist eben: bloßes Subjekt ohne alles Prädikat, Subjekt schlechthin, reines Wovon seiner Aussage. Die [166] eigentümliche Zweideutigkeit des Wortes Subjekt, seine Mißverständlichkeit an dieser Stelle und in dieser Stellung des Denkens sollen hier vermerkt, aber im Augenblick noch nicht geklärt werden.
b) Entwicklung aus dem reinen Denken
Sagen wir das bislang Gefundene nun nicht als Ergebnis der Reduktion eines gedachten Gedankens auf seinen Ursprung, auf den Gedanken an sich, auf das Denken an sich, sondern umgekehrt, in der Geschehensrichtung, vom zu denken anhebenden, sich in seinem Ur-Sprung anhaltenden und ihn so lichtenden Denken selbst her: Wenn das Denken sich nicht entlaufen will in einen nur zufälligen, einzelnen Gedanken hinein, sondern als Denken denken will, so muß es sich vor dem Auftauchen jeder vereinzelnden, nur dies oder jenes denkenden Bestimmung zurückhalten im Urstand, der alle diese Bestimmungen vorlaufend umfängt und enthält, sie aber so umfängt und enthält, daß nicht sie selbst, ihr Besonderndes hervortritt, sondern alles dies verschwiegen ist in den bloßen Hinblick, welcher das Denken ist, in den Hinblick aufs Sein. Doch auch dieser Hinblick muß sich vor dem Sein als entschiedenem und bestimmtem zurückhalten in der reinen Disponibilität. Was denkt dann das Denken? Nichts. Aber dieses „nichts“ hat seinerseits eine Richtung, es ist an sich Hinblick und Disponibilität aufs Sein zu. Das Denken denkt mit diesem Nichts zwar das dem Denken in seiner an sich gehaltenen Anfänglichkeit schlechthin gleiche, denkt darin aber den Urstand dessen, was ist.
Um es bildlich zu sagen: Das Denken breitet als erstes einen „Boden“ aus, auf dem ihm alles erwachsen kann und der im faktischen Denken je schon überwuchert ist von den unmittelbar ihm entschießenden Besonderungen und Bestimmungen. Diese, d. h. ihre Unterscheidbarkeit voneinander und Beziehbarkeit aufeinander, weisen aber zurück auf den einen Boden, der sie trägt, der ihre in ihnen verborgene und doch bezeugte Voraussetzung ist. Diese selbst ist die unmittelbare Setzung des Denkens, in welcher es die ganze Weite seiner Möglichkeit entwirft, ohne sie bereits durch das Denken dieses oder jenes Denkbaren zu verengen.
[167] Das Denken denkt hier nicht etwas Seiendes, sondern eben umfassend und unzertrennt das Seiende. Das Seiende aber nicht als seiend, nicht so, daß Sein von ihm prädizierbar wäre, sondern in der bloßen Offenheit zum Sein, eben: als Seinkönnendes. Es wird an dieser Stelle unmittelbar deutlich, wieso dieses Seinkönnende auch Subjekt heißen könne: Es ist der bloße Boden, der noch nichts trägt und somit als Grund alles Tragens und Hervorbringens sichtbar wird. Es gleicht, dies ein weiteres, Schelling wichtiges Bild, dem schlechthin ruhenden Willen, der als Wille auf die Fülle des zu Wollenden aus ist, als ruhend sich aber dessen, worauf er aus ist, schlechthin enthält8. Es ist insofern also: ebensowohl „das Seiende“ von seiner wesentlichen Zukunft her wie „das Nichts“ von seiner gegenwärtigen Gestalt her, ist das Seiende auf die Weise des Nichts, das eo ipso noch nichtseiende Seinkönnende und noch vorprädikative Subjekt.
Dies heißt nicht, das Seiende als solches werde einmal nicht mehr das Seinkönnende oder Subjekt sein: der tragende Grund wird nie als solcher wegsinken dürfen vom Stand, der sich über ihm erhebt. Subjekt, Seinkönnendes, Boden, der alles trägt und so nichts von allem und zugleich alles ist: solches bleibt die erste Bestimmung des Seienden, auch wenn sie nicht die einzige bleibt9.
Hier ist der Ort, die mehrdeutige Rede vom Subjekt zu klären. Zwei Unterscheidungen sind erforderlich:
Subjekt als Seinkönnendes ist zu unterscheiden von dem, was Subjekt in der früher gebrauchten Gedankenfigur meinte, nach welcher das das-Seiende-seiende im Verhältnis zum Seienden ist, was das Subjekt im Verhältnis zum Prädikat10. Subjekt als erste Bestimmung des Denkens meint hingegen nicht das reine Daß, welches das Denken als das allem seinem Inhalt, allem Was voraufgehende Prinzip setzt. In solcher unmittelbaren Voraussetzung des absoluten Prius ist das Denken ja weggewandt von sich selbst, von seinem Inhalt, von seiner prädizierenden Tätigkeit, das Prius könnte unmittelbar gar nicht als Subjekt erscheinen, als bezogen auf mögliches Prädikat, sondern nur rein in sich11. Subjekt als mit Potenz oder Sein- [168] könnendem identische erste Bestimmung des reinen Denkens 12 ist selbst das erste Prädikat, welches im Denken entsteht, indem es auf das, was ist, blickt; es ist die erste Gestalt des Seienden als des Wesens, welches das Denken prädizierend setzt, indem es denkt.
Es ist, um dieses Bild nochmals zu gebrauchen, das dem Wortverstand von sub-iectum in Schellings Deutung entspricht, der Boden der einzelnen prädikativen Bestimmungen, der omnitudo realitatis, der sie enthält und aus sich hervortreten läßt, die ihnen zugrunde liegende „Materie“, aus der sie genommen und erbildet sind13.
Subjekt als Seinkönnendes ist ebenfalls zu unterscheiden von Subjekt als der Grundstellung des Selbstbewußtseins, vom Ich, das sich weiß, und dem gewußten, von sich selbst in sich selbst objektivierten Ich unobjektivierbar zuvorkommt. Zwar wird diese Subjektstellung des wissenden Selbst gegen sich selbst, wie die weitere Entwicklung zeigt, von der ersten Bestimmung reinen Denkens mitangezielt – das Seinkönnende ist für Schelling das Wissende“ des ganzen Prozesses der Potenzen14 –; doch sind der Subjektbegriff und die Begriffsreihe Subjekt – Objekt – Subjekt-Objekt, die er eröffnet, in der Spätphilosophie nicht aus einer Analyse des Selbstbewußtseins gewonnen, sondern aus dem Grundgeschehen reinen Denkens, in welchem es das Seiende setzt.
Die Verkettung des Subjektbegriffes als solchen mit dem absoluten Prinzip einerseits und mit dem Selbstbewußtsein anderseits, die es zu lösen galt, kommt nicht von ungefähr.
Der Zusammenhang des Subjekts bzw. Seinkönnenden als erster Bestimmung im reinen Denken mit dem absoluten Prinzip und mit der Grundstellung des Selbstbewußtseins klärt sich, wenn wir nochmals fragen: Was tut das Denken, indem es seine erste Bestimmung setzt?
Unmittelbar tut es, in Schellings Verständnis, nichts anderes, als daß es seinen notwendig ersten Gedanken denkt. Wir sahen dies bereits: es setzt, was ist, in seiner durch keine einzelne Bestimmung [169] oder Bestimmtheit verengten Offenheit, als den Horizont, in den sich noch nichts begrenzend einträgt, als den Boden, der alles birgt und dem unmittelbar noch nichts entwächst. Doch indem dieses Setzen der ersten Voraussetzung alles zu Denkenden sich des Übergangs ins vielerlei mögliche zu Denkende enthält, trifft es eine Entscheidung, eben die Entscheidung zur Totalität seines zu Denkenden: Es will und setzt darin nicht ein Seiendes, sondern das Seiende. Der Hinblick des Denkens ist in dieser seiner an sich gehaltenen ersten Bestimmung universal, er geht auf alles hin, was ist, und geht gesammelt, geht als ein Blick darauf hin. Subjekt oder Seinkönnendes setzen das allumfassende Was, die omnitudo realitatis, das Seiende in erster Gestalt.
Dieser Entscheid des universalen Hinblicks aber ist zugleich Entscheid des Denkens zu sich selbst und Entscheid des Denkens zum absoluten Prinzip.
Entscheid zu sich selbst: denn gäbe das Denken dem naheliegenden Umschlag ins Dies-oder-jenes-Denken nach, so behütete es nicht sich selbst, seine Unversehrtheit, seine Universalität zu allem hin. Nur wenn es seine vielen möglichen einzelnen Gedanken anfänglich durchs Denken des schlechthin allgemeinen Subjektes unterläuft, hat es sich selbst ungeteilt gegenwärtig, kommt sein ungeminderter und ungetrübter eigener Inhalt zum Vorschein. Das Seiende setzend, setzt das Denken sich selbst: dieser Satz erfährt seine Anwendung, indem das Denken sein erstes zu Denkendes, das Seiende in seiner Urständlichkeit, so setzt, daß darin seine eigene Urständlichkeit und Voranfänglichkeit, daß darin sein Wesen zum Vorschein kommt.
Der Entscheid zum Prinzip ist im Entscheid zur Erfahrung des Seienden als des reinen Subjekts zugleich getroffen: Warum geht das Denken nicht fort in den Umtrieb der vielen Denkbarkeiten? Es bezeugt so, daß es ihm darum zu tun ist, seinen Inhalt als stehenbleibenden, unentreißbaren zu besitzen. Es geht ihm um den Stand, ums unumstößliche Sein, um die unzersetzbare Wirklichkeit, ums absolute Daß. Dieses will es lichten, besser: dieses meint seine lichtende Tätigkeit, ihm ist es zugetan und deswegen nicht dem vielen bloß Zufälligen.
Freilich, gerade deshalb wird es bei seiner ersten Bestimmung nicht stehenbleiben können; sie ist der Hinblick aufs Prinzip, indem [170] sie Wegblick vom Fortriß sich vereinzelnder Gedanken ist, sie ist aber nicht gesicherter Besitz des Prinzips, sondern das in sich selbst Labile, somit „Andere“ des Prinzips, das für sich allein diesem nicht gewachsen ist.
Seinkönnendes, Subjekt: das ist das erste, was das Denken im Blick aufs Prinzip sagt. Nicht weil es das Prinzip als in sich unentschieden vermutete, vielmehr weil kein einzelner Gedanke oder Inhalt dem Prinzip angemessen ist, sondern der Verhalt alles Gedankens und Inhalts. Das Denken kann nur sich, seine reine und volle Gewärtigkeit dem Prinzip entgegenbringen: die omnitudo realitatis in ungetrennter und verhaltener Fülle.
Somit ist aber auch klar, daß das Denken in seiner Unmittelbarkeit nicht das Prinzip als solches, nicht das Prinzip allein, sondern daß es bereits in seiner ersten Bestimmung das Seiende als „Gleichmöglichkeit“ und „Indifferenz“ des Prinzips und dessen, was sein kann, entwirft15 : die erste Bestimmung des Denkens trägt in ihrer Unmittelbarkeit den „pantheistischen“ Zug, welcher der Idee des reinen Denkens eignet und sie alsdann in die negative Philosophie forttreibt.
Das Ansichhalten des Denkens in seiner ersten Bestimmung, das Setzen des Seienden als bloß seinkönnend führten wir aus als Entscheid des Denkens nicht nur zum Seienden, sondern darin implizit zum Prinzip und zu sich selbst. Dieser Entscheid ist indessen nicht als Willkür zu verstehen. Vielmehr ist der Entscheid als solcher nur unserem Vollzug aufgegeben, damit er sich in das einschwinge, was das Denken als solches tut. Die Versuchung des Denkens, sich ins Vielerlei der Gedanken zu entlaufen, ist unsere Versuchung. Sie zu bestehen ist der freie Akt der intellektuellen Anschauung, die in der Frühzeit Schellings, bzw. des Sich-Lassens des Denkens, das in seinen Erlanger Vorträgen thematisch war16.
Die Unselbstverständlichkeit der Entsprechung des Mitdenkens mit dem Denken verweist indessen zurück auf eine im Denken als solchem verwurzelte Eigentümlichkeit seines anfänglichen Inhalts: auf die Labilität des Seinkönnenden oder Subjekts, auf seine „natura anceps17, auf sein „Amphibolisches“18. Nicht nur von unserem [171] Denken her, sondern von sich selbst und somit von dem Denken her läßt sich die erste Bestimmung des Seienden in zweifacher Richtung lesen: Das Subjekt als solches ist ohne Voraussetzung, aber als Voraussetzung gesetzt19, es drängt so nach prädizierender Bestimmung, hält sich allein nicht in der Bestimmungslosigkeit, der Fortgang zur Bestimmung ist ihm also natürlich. Wäre die Richtung in die Bestimmung aber die einzige im Subjekt, das notwendig und automatisch sich Vollstreckende, so wäre es als Subjekt verschlungen, untergegangen in differenzlose Bestimmtheit, es hätte seine Bestimm-bar-keit verloren.
Am Seinkönnenden beobachtet: Das Können ist auf sein Gekonntes hin orientiert, schlägt von allein um ins Vollbringen des Gekonnten, es braucht zum Umschlag nichts außerhalb seiner selbst, nichts, als zu „wollen“20, wenn anders es, mit Schelling, als „potentia activa“ verstanden wird21. Es muß aber nicht umschlagen; denn wäre, wenn es nichts anderes als Umschlagenkönnnen, so wäre es schon immer umgeschlagen, es könnte nichts mehr, wäre sein eigener vollstreckter Akt. Seinkönnen muß so als zugleich transitives und intransitives Seinkönnen verstanden werden22.
Unmittelbar am gedachten Gedanken angeschaut: Der Fortriß unseres Denkens in seine vielen Gedanken liegt begründet in der Natur des anfänglichen aufs Sein zu orientiertes „Nichts“, welches das Denken sich denkt und welches zu allem offen ist. Dieser Fortriß ist aber nicht notwendig, sondern gleichmöglich ist jenes Andere und fürs Denken Wesentliche, ohne welches es sich von seinen Gedanken nicht als Denken unterscheiden könnte: das Denken kann nicht nur alles mögliche, sondern kann sein Alles-Denkenkönnen denken und somit jene unverbrauchte Möglichkeit entwerfen, kraft deren wesentlich alles sein kann.
Indem aber das Denken dieses kann, indem Subjekt und Seinkönnendes ihm als solche erscheinen, hat es nicht nur Subjekt und Seinkönnendes gedacht. Diesen Fortgang reinen Denkens halten wir jedoch jetzt noch zurück, um auf die Tragweite dessen zu reflektieren, was dem Denken in dieser seiner ersten Bestimmung erwuchs.
[172] c) Das Seinkönnende als systematische Mitte der Spätphilosophie
Was von innen, vom Vollzug des Denkens her, diese erste Bestimmung bedeutet, klärte sich, soweit es sich ohne die Ergänzung durchs Folgende zu klären vermag. Doch tut es not, dieses Seinkönnende oder Subjekt auch von außen, von seinem noch künftigen Kontext des Gedankens aus, zu betrachten. Was hat das Denken da als sein Erstes gesetzt?
Im Grunde schon das Ganze, was es in allen seinen Bestimmungen setzen wird, eben das Seiende, und das Seiende derart, wie es uns bereits als „Begriff“ der gesamten Denkbewegung der Spätphilosophie aufging, das Seiende als die Weise und den Begriff dessen auch, wie Schelling seine zentrale Erkenntnis der medialen Ursprünglichkeit des Denkens artikuliert und durchführt. In der Tat ist das Seinkönnende oder Subjekt der Angelpunkt der gesamten Spätphilosophie; so schätzt Schelling die erste Potenz auch selbst23.
Wir stellten die Potenzen im ganzen vor als die Ebene, in welcher die alles logische und ontologische, theologische und kosmologische Geschehen formierenden Kräfte spielen und in ihrem Spiel die reine Gestalt und Bedingung dieses Geschehens entwerfen und enthalten. Das entwickelte Verständnis des „Subjektes“ reißt diese Ebene auf als das anfänglich dem Denken Entstehende, anfänglich von ihm dem Sein Unterbreitete, aus dem es seinen Urstand nehmen kann. Was die Potenzen im Ganzen sind, bildet die Potenz schlechthin, bildet das Seinkönnende also bereits vor.
Die Ebene, der Boden, die das Subjekt dem ganzen Seins- und Geschehensgefüge bereitet, ist indessen gerade keine fixe und eindeutige, sondern sie ist zugleich das zwiegerichtete dynamische „Prinzip“ — Prinzip, wie gesehen, nicht im Sinne des absoluten Prinzips, sondern des Ansatzpunktes möglichen Prozesses. Vom „Subjekt“, von der sich an sich haltenden Allmöglichkeit aus geht „nach oben“ der Prozeß des Aufstiegs zum Prinzip, seiner stufenweisen Fassung und Bestimmung im reinen Denken aus und geht zugleich „nach unten“ die mögliche Peripetie, die Erhebung der Mög- [173] lichkeit zum eigenen Sein, somit aber der Prozeß negativer, das Prinzip aus seiner implikativen Bestimmung als Prinzip aussondernder Philosophie aus.
Unschwer läßt sich vermuten, daß auch das Begreifen der Fakten positiver Philosophie, Schöpfung, Fall, Erlösung, am initialen Charakter der zwiegerichteten Möglichkeit ansetzt.
Die erste Potenz ist so die „Figur der Figur“, welche das Seiende im Ganzen und welche somit die Potenzen im Ganzen sind. Mehr noch: Was vom Denken als solchem, vom spezifischen Verständnis des Denkens bei Schelling gesagt wurde, konzentriert sich in dieser ersten Potenz, die, wie sich zeigen wird, den Namen der Potenz nicht nur deshalb trägt, weil sie an der gesamten Potentialität des prädikativen Seienden und also des Denkens teilhat, sondern darüber hinaus unter den drei Potenzen die eigentlich „potentielle“ ist, die Präsenz des potentiellen Gesamtcharakters des Seienden und des Denkens innerhalb des Seienden und des Denkens selbst.
Das Denken ist für Schelling zum einen nur „medial“: Es denkt das Viele, das sein kann, denkt darin aber nur Eines, das Prinzip, welches alles ist, und steht zu beidem, zum Vielen nach ihm und zum Prinzip vor ihm, in der Differenz bloßer Mitte, bloß vermittelter Mächtigkeit. Das Denken ist für Schelling zum andern auf mediale Weise doch ursprünglich: Es vermag aus sich selbst und setzt aus sich selbst alles Was, ist zu-fällig zum absoluten Daß als reinem Ursprung, lichtet ihn aber in dieser seiner Zu-fälligkeit erst für ihn selbst und schließt so seine Ursprünglichkeit durch die eigene auf.
Solches Verständnis medialer Ursprünglichkeit des Denkens nimmt sein Maß an dem, was Potenz heißen kann: Voranwesenheit eines Folgenden, eines möglichen Wirklichen im Noch-nicht und Verweis des Noch-nicht auf die es als Möglichkeit tragende und ermächtigende vorgängige Wirklichkeit. Gerade dies aber ist in dem ersten, unmittelbaren Gedanken reinen Denkens, im Subjekt oder Seinkönnenden gedacht. Und wie schon angedeutet, ist alles wesentlich weitere vom reinen Denken nur gedacht, damit dieses Subjekt oder Seinkönnende im Status der Subjektivität und des Seinkönnens gehalten und so der „Abstand“ des Geistes von seinen Möglichkeiten, des Wesens von seiner Verwirklichung gewahrt bleibe, welcher Abstand Geistigkeit als solche und Wesen als solches bezeichnet.
Schelling gelingt es also im Entwurf der ersten Potenz, die Gesamtkonzeption seiner Philosophie, seines Verständnisses von Denken, Sein und Gott in eine zeichenhafte Formel zu verdichten und sie als den unmittelbaren, ersten Gedanken der Vernunft zu entwerfen, in welchem sie sich als Denken konstituiert und ihren eigenen Inhalt entbirgt.
Im großen Entwurf des Identitätssystems der Frühzeit ist die absolute Identität das Einzige, das in allem aufscheint, in allem ist. Die Differenz der wirklichen Wirklichkeit, ihre Vielgestalt und ihre Entfremdung zur wesenhaft alleinigen Identität wird davon überblendet und bleibt unerklärt zurück. Der Ansatzpunkt der Differenzierung und Bewegung schlechthin rückt mit der ersten Potenz nun in die Mitte der Spätphilosophie; diese gewinnt von ihr aus einen universalen Zugang zu allem zu Denkenden und zum im bloßen Denken gerade nicht mehr zu Denkenden, und zwar gerade durch die Differenz der ersten Potenz ihrerseits zum absoluten Prinzip, das über diesem Ansatzpunkt, im Verhältnis zu ihm, sich erst als Prinzip erweist und bewährt.
Die erste Potenz ist so die systematische Mitte der Spätphilosophie. Diese vorentworfene Behauptung gilt es in den folgenden Entwicklungen der Potenzenlehre noch einzulösen.
d) Kritischer Nachgang
Doch bereits jetzt bringt die erste Bestimmung des reinen Denkens uns in eine eigentümliche Verlegenheit. Wenn sie auf die angedeutete Weise Mitte der Spätphilosophie ist, so zieht sie alle Kritik des Mitdenkens auf sich, die gerade bei der Deutung medialer Ursprünglichkeit des Denkens als vom „Seienden“ her verstandener Potentialität ansetzte. Wenn aber, wie wir es mitzudenken versuchten, „Seinkönnendes“ bzw. „Subjekt“ wirklich der erste Gedanke reinen Denkens ist, wird dann nicht auch unsere kritische Distanz gegen das Denken als Denken des Seienden überholt? Es erhebt sich die Gegenfrage, ob das Subjekt oder Seinkönnende wirklich der erste Gedanke des reinen Denkens sei, und selbst wenn ja, ob er es auf solche Weise sei, daß er dem Denken dadurch den [175] Anfang mit sich als reinem Denken in Schellings Sinn auferlegt oder doch nahelegt.
Zunächst also: Ist der Gedanke des Seinkönnenden oder Subjekts in Wahrheit der erste Gedanke reinen Denkens? Wenn reines Denken Denken des Seienden ist, dann hat Schellings Auskunft recht: „Um zu wissen, was das Seiende ist, müssen wir versuchen, es zu Denken … Wer es aber versucht, wird alsbald inne werden, daß den ersten Anspruch, das Seiende zu sein, nur das reine Subjekt des Seins hat, und das Denken sich weigert, diesem irgend etwas vorzusetzen. Das erste Denkbare (primum cogitabile) ist nur dies. Ein anderer durch Spinoza klassisch gewordener Ausdruck: id, cuius conceptus non eget conceptus alterius rei, ist ebenfalls nur wahr von dem, was nicht im gegenständlichen Sinn (denn alles Gegenständliche setzt etwas voraus, wogegen es dies ist), um so mehr also im urständlichen Sinn, oder wie wir auch sagen können, nur an sich das Seiende ist.“ 24
Schelling führt uns also in das Experiment des Gedankens, das wir selbst als Zugang des Denkens zu seiner Urbestimmung wählten. Er faßt es formal schärfer, zeigt, daß kein Begriff vom Denken voraussetzungslos, ohne Beziehung auf als vorgängig Mitbegriffenes an den Anfang gesetzt werden könne, außer eben das Subjekt. Er faßt das Experiment zugleich enger, indem er sagt, daß das Seiende in keiner anderen Gestalt zu setzen sei. Wir versuchten hingegen, ohne die vorgängige Eingrenzung aufs Seiende diese Bestimmung Subjekt oder Seinkönnendes als anfänglich zu denken, gelangten zu ihr und entdeckten in ihr nachträglich, daß in ihr das Seiende gesetzt sei. Dies würde Schellings Ansatz nur um so nachdrücklicher bestätigen und mit ihm auch seinen allgemeinen, nicht nur aufs Seiende zu formulierten Satz: „Das erste Denkbare (primum cogitabile) ist nur dies.“
Wir müssen also nachprüfen, ob wir in unserem Experiment des Gedankens etwas übersprungen oder in seinem Ergebnis etwas zu weitgehend oder zu einseitig interpretiert haben und somit in Schellings Position doch ein Vorentscheid stecke, der nicht schlechthin und notwendig der des Denkens sei. Es muß wohl dabei bleiben: Wenn wir von jedem beliebigen un- [176] mittelbaren Gedanken sein Gedachtes, d. h. dieses bestimmte Gedachte abziehen, bleibt ein „Nichts“ übrig, das kein nichtiges Nichts bedeutet, sondern – um es in Anlehnung an den eigenständigen Rekurs Franz Rosenzweigs zu Beginn seines „Stern der Erlösung“ auf Hermann Cohen zu sagen – das Nichts des Differentials, des bloßen Ursprungs oder Übergangs24. In diesem Nichts, das von Schelling allgemein, ohne die – Rosenzweig von ihm unterscheidende – Hinsicht auf ein je bestimmtes Phänomen, sondern auf zu Denkendes überhaupt hin angesetzt wird, ist so die Hinsicht auf alles, der Horizont, in dem sich alles zeigen kann, eröffnet.
Das erste Gedachte ist die reine Gewärtigkeit des Denkens für alles, um es mit dem Blick aufs Denken, die Zukünftigkeit von allem fürs Denken und im Denken, um es mit dem Blick des Denkens auf sein zu Denkendes zu sagen; allerdings bedeutet das Wort „alles“ bereits einen Vorgriff auf das, was sich zeigen wird, „alles“ ist in solcher Anfänglichkeit nicht ausdrücklich, sondern nur als die Abwesenheit aller Grenze da.
Dieser Befund wird nun von Schelling mit der Aussage „Seinkönnendes“ oder „Subjekt“ angezielt. Es muß auf den beinahe unmerklichen, Schelling selbstverständlichen Übergang vom Phänomen zu dieser Auslegung geachtet werden. Gewiß gibt es nicht das Phänomen an sich, ohne Auslegung des Denkens; aber es ist möglich, die jeweilige Auslegung des Phänomens in das hinein zu verfolgen, was ihre Verkürzung, ihren Überschuß oder eben: ihre Perspektive ausmacht.
Schelling sieht, daß das Denken seine Operationen jeweils in Formen des Fassens, des Unterscheidens seines Gedachten von anderem und des Fixierens seines Gehaltes in sich durchführen wird; die Gedanken des Denkens geschehen durchgängig so, daß sie auf fassende Formeln zu bringen sind, die als solche ihr Gefaßtes – zumindest formal – vergegenständlichen, das Gedachte des Gedankens ist seiner Form nach das ihm Gegenständliche. Indem Schelling nun dem Gegenständlichen das Urständliche, dem Objektiven also das Subjekt, dem prädizierten, bestimmenden Sein das noch unbe- [177] stimmte Können vorausschickt, liest er und sagt er Urständliches, Subjekt, Können von dieser seiner Zukunft her, in welche es, sich selbst überlassen, dem Denken von allein übergeht.
Es ist die Voranwesenheit dessen, was so sein wird, wenn das Denken weiterdenkt. Gewiß hält das Denken es von dieser Zukunft zurück. Es tut dies aber nur, indem es nicht die Gegenstände als die einzig mögliche Zukunft des Denkens zuläßt, sondern diese Urständlichkeit von der in ihr urständenden Zukunft ihrer selbst her versteht, will sagen: von der Selbstgegenständlichkeit der universalen Offenheit, von der Selbstgegenständlichkeit geistigen Selbstbezitzes, vom Sich-Fassen und -Objektivieren, vom Selbstbesitz als sufficientia sui; also ist die Negation der Gegenständlichkeit des ersten Gedachten die Position seiner Zukunft als Gegenständlichkeit, gleichviel ob dieser Urstand als Urstand seines anderen oder als Urstand seiner selbst gelesen wird. Diese Orientierung am Gegenständlichen drückt auch die nominale bzw. nominalisierende Sprachform der von Verben genommenen Bezeichnungen der Urbestimmung aus: Seinkönnen-des oder subiec-tum oder poten-tia, wobei zumal beim „Subjekt“ das grundlegende Verb selbst als ruhender räumlicher Verweis seine Tätigkeit nur aufs Zustandebringen von Gegenständlichkeit hin auslegt.
Urstand ist Urstand des Gegenstandes, die Zukunft des Urstandes ist somit wesentlich Voranwesenheit seiner Zukunft, Zukunft ist nicht das Hinzukommende, sondern das aus ihm Erwachsende. Geht es auch im Verfolg der Gedanken Schellings bis in die positive Philosophie darum, Zukunft als Zukunft zu denken, Freiheit zu denken, der nichts mehr nur erwächst, sondern die sich entschließt, so wird sie – wie beobachtet – doch vom Erwachsen ihr anwesender vorgezeichneter Möglichkeiten, also nur im Verhältnis zur Gegenständlichkeit, gedacht werden.
Um an der gegenwärtigen Stelle des Gedankens zu bleiben: Die Deutung der Gewärtigkeit des Denkens und der Zukünftigkeit dessen, was ist, fürs Denken als Urstand von Gegenständlichkeit impliziert ein bestimmtes Verständnis der immanenten Zeitlichkeit des Denkens: Zukunft ist im Denken anwesend, indem das Zukünftige anwesend ist, Herkunft ist im Denken als das Vorgängige anwesend, indem – so darf im Blick auf schon vertraute Gedanken [178] Schellings gesagt werden – das Denken dem absoluten Prius erst seine Lichtung, erst das Etwas unterbreitet, was es ist. Denken wird so das Vermögen zeitlosen, ewigen Wesens, dem sich nichts zeitigt, das vielmehr als das zukommend Zufällige zum absoluten Actus diesem zeitigt, was er ist und was er zu vollbringen vermag. Denken wird die in sich selbst zeitlose Zeitigkeit seines Ursprungs.
Ist ein anderes Verständnis der Gewärtigkeit des Denkens und der Zukunft [sic!] dessen, was ist, fürs Denken jedoch möglich?
Insofern nicht, als die Strukturen, die sich aus dieser Gewärtigkeit und Zukunft im Denken ausbilden, formal betrachtet, fassende, also vergegenständlichende Strukturen sind.
Insofern aber doch, als diese sich ausbildenden Strukturen selbst eine mehrfache Anwendung zulassen und somit das Denken nicht erschöpfen. Die Gewärtigkeit des Denkens, die Zukünftigkeit dessen, was ist, im Urstand des Denkens sagt mehr als den Vorgriff auf die Gegenständlichkeit als Form des Denkens, und sie sagt insofern doch auch anderes über den Urstand des Denkens als Schellings Bestimmungen „Subjekt“ oder „Seinkönnendes“, die der Sache nach das primum cogitabile notwendig, ausschließlich und umfassend begreifen wollen.
Wo aber bietet sich der Ansatz zu einer weiteren und anderen Auslegung des anfänglichen Befundes von Denken? Konfrontieren wir das Denken in der Erfahrung seines Urstandes, in seiner uneingeschränkten Offenheit mit der Bestimmung, die ihm in der Interpretation reinen Denkens durch Schelling zugesprochen wird. Diese Offenheit und Gewärtigkeit ist an sich selbst auf mehr aus als auf die Gestalt, die ihren Gedanken und, durch sie, ihrem Gedachten eignet. Der Urstand, die Offenheit des Denkens verstehen sich, wenn sie sich zu artikulieren vermöchten, als universale und totale Frage nach allem, was ist, wie es ist, und mehr noch: nach der Wahrheit überhaupt, die sich in nichts Wahrem, in keiner Summe und keinem Organismus von Wahrheit-en erschöpft. So greift der Urstand des Denkens in seinem primum cogitatum über das primum cogitabile hinaus; für letzteres darf das Subjekt oder Seinkönnende uns gelten, aber dieses wird an sich selbst davon betroffen, ob es zugleich als primum cogitatum oder in Differenz zu ihm verstanden wird.
[179] Im ersten Fall, als das auch zuerst Gedachte, qualifiziert das primum cogitabile das Denken notwendig als jenes, das alles Was und somit allen Gehalt von Sein und Wahrheit schlechthin vermögend aus sich entspringen läßt.
Wieso? Das Denken ist sein eigenes Vermögen, das von ihm Vermochte ist die Grundgestalt seines Gewollten, sein Denk-bares erscheint, wenigstens keimhaft und essentiell, dem angemessen, was das Denken meint, also will, also denkt. Der „Überschuß“ des Meinens, Wollens, also Denkens über das Denkbare hinaus ist Überschuß des Samens über sich hinaus, nicht qualitative Differenz, die das Denk-bare nur zum Zeichen des in ihm Gedachten, zum Zeiger auf es macht.
Die Wasbegriffe des Denkens werden so letztlich univok, das Denken nimmt ihren Sinn aus sich selbst, es ist eben: das Denken, das als solches umfassend, einsinnig, zeitlos das Wesen aus eigenem und anderem Ursprung als der existentiale Ursprung vermag25. Wahrheit wird Zugabe, Zufall des Denkens zum factum brutum vorgängigen Seins.
Schellings Verständnis von Wahrheit ist schon von früherem Ansatz her so geartet. In „Philosophie und Religion“ führt er aus, wie – um abgekürzt zu referieren – die Wahr-heit ohne Übergang dazu umschlägt, ihr Wahres zu setzen, Wahrheit ist die Fülle des Wahren, um nicht zu sagen: Summe des Wahren, da Schelling ja genetisch, nicht summativ denkt26.
Im andern Fall, dann also, wenn das primum cogitabile nur Verweis auf das in ihm unterbotene primum cogitatum ist, verändern sich die Verhältnisse:
Das Denken „sagt“ mit seiner urständlichen, also noch schweigenden Gewälttätigkeit, daß alles sich ihm antun, alles ihm aufgehen darf: dies ist das primum cogitatum seiner Intention, nicht seiner Formulierung nach. Und indem das Denken dies schweigend-urständlich sagt, erwachsen ihm die fassenden Kategorien, die sich zurückführen lassen auf etwas wie das noch unfaßliche „Subjekt“. Dieses setzt dann aber sich selbst nicht als Wurzel und Voranfang alles dessen bzw. des Ganzen, das ihm begegnen wird, sondern als [180] formale Figur seiner ordnenden Aneignung, die aber ebensowohl zu fassen wie zu lassen und zu verweisen vermag, die also selbst subjiziert, unterlegt und unterworfen bleibt dem Hinblick der Gewärtigkeit. Dieser setzt das Denken nicht als Ursprung des Was neben das absolut ursprüngliche, als solches vorgängige Daß, sondern als Andenken, dessen Spontaneität die der Antwort auf das je ihr Zukommende, die des Gegenüber zum lichtend-lichten, aber nie reproduzierbaren Sich-Zudenken der Wahrheit ist. Das Denken ist also nicht selbstmächtiger Ursprung allen Wesens, sondern Partner, der aus dem Gegenüber zur Wahrheit dieser andenkend zu entsprechen versucht.
Gewiß haben wir auch bei Schelling als einen Grundzug seines Denkens entdecken können, daß er es als die Anwesenheit seines je Größeren und Früheren versteht, und das Wollen des Größeren, des Unbedingten, treibt in seiner Durchführung des „reinen Denkens“ dieses über die anfängliche Bestimmung hinaus. Doch die Richtung, in der es das Denken weitertreibt, geht aufs erschöpfende Fassen, auf die Vollendbarkeit des Wissens vom Ganzen, auf die Figur in sich geschlossener Gegenständlichkeit. Ihre Entsprechung zu dem, was sich in ihr faßt, ist zwar „ästhetisch“, d. h. Entsprechung im Medium der Andersheit – das Denken und was es entwirft, das Seiende, ist das Andere des unbedingten Actus, in dem dieser gelichtet wird. Doch bleibt ein wesentlicher Unterschied zwischen solchem Ansatz des Denkens und einem als Andenken des Sich-Zudenkens verstandenen Denken: Das alles Was aus sich entwerfende Denken trägt sich selbst ein in die Konstitution von Gott und geschaffenem Sein, das antwortend-verweisende Denken bleibt nicht nur durch seine Faktizität, dadurch also, daß es Denken gibt, sondern auch in dem, was es denkt, in der Differenz des „Zeugnisses“, das seine Gestalt je bewährt, indem es sie zerbricht, besser: auf- und anheimgibt.
Dieses Denken kann so nicht eine Vollständigkeit seiner Prinzipien angeben wie das reine Denken, das die im Subjekt angelegte Konsequenz vollendet, darin aber gerade in allem letztlich nur sich selbst als sufficientia sui, als Selbstgegenständlichkeit vollbringt.
Indem die Figur des Selbstbewußtseins so indirekt doch die totale und exklusive Figur des Denkens bei Schelling wird, indem also [181] auch alle Beziehung und Selbstüberschreitung, die in positiver Philosophie gedacht werden sollen, in den Bahnen sich schließender Alleinigkeit des Denkens mit sich zur Darstellung und zum Begriff kommen, bleiben Beziehung und Selbstüberschreitung als solche das gerade Ungedachte, werden auf die Einigkeit des Selbstbewußtseins mit sich selbst reduziert.
Allerdings ist es dann von strenger Konsequenz, daß Schelling seinen weiteren Weg reinen Denkens geht, wie er ihn geht, in der Rückbeugung vom Subjekt in die nicht vor ihm, sondern in seinem Rücken liegende Objektivität als das dem Subjekt Entgegengesetzt-Identische.
Die Kritik der ersten Bestimmung reinen Denkens ist somit die Kritik der Entwicklung der drei Potenzen im Ganzen. Diese weitere Entwicklung braucht nur mehr dargestellt zu werden.
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XI 330. ↩︎
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Zum Folgenden s. bes.: XI 302–320, 288–294, ferner X 303–306, XIII 76 bis 79 u. materialiter auch XIII 204–239. ↩︎
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Vgl. z. B. XI 288 f., 306–308. ↩︎
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Vgl. z. B. XI 288, 302. ↩︎
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Vgl. z. B. XI 288, XIII 212. ↩︎
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Passim in den angegebenen Grundtexten, bes. XIII 205–207. ↩︎
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Passim in den genannten Texten, bes. XI 288. ↩︎
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Vgl. XIII 67 f., 205/7, 213, 219, XI 293/94. ↩︎
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Vgl. XIII 77. ↩︎
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Vgl. XI 362. ↩︎
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Vgl. XI 314. ↩︎
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Vgl. XIII 227/28. ↩︎
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Schelling selbst erörtert in unserem Zusammenhang die Unselbstverständlichkeit dieses Wortgebrauches von „Subjekt“ (vgl. XI 318/19). ↩︎
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Vgl. XIII 295/97, 293, 274. ↩︎
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Vgl. XI 366. ↩︎
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Vgl. IX 217/18, 229/30. ↩︎
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XIII 210. ↩︎
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Vgl. XIII 68. ↩︎
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Vgl. XIII 78. ↩︎
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Vgl. XIII 205 f. ↩︎
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Vgl. XIII 67 f. ↩︎
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Vgl. XIII 79. ↩︎
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Vgl. den so zu verstehenden Text XIII 316. ↩︎
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Vgl. F. Rosenzweig, Stern der Erlösung (Heidelberg 31954) 30/31; vgl. hingegen auch 37. ↩︎
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Vgl. XI 331. ↩︎
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Vgl. z. B. VI 26/27, 30/32. ↩︎