Die Suche nach dem Bruder

Der Ursprung der Brüderlichkeit*

[37] Freilich, es gibt im Verständnis dieser menschlichen Bruderschaft (die wir hier nicht aus dem Glauben an Gott abzuleiten versuchen, sondern die in sich selbst, aus dem Phänomalen, erhoben werden soll als Mahnmal des gemeinsamen Ursprungs in Gott, als das Sakrament des Entsprungenseins aus demselben Ursprung, der uns alle ineinander bindet), – es gibt im Verständnis der Brüderlichkeit verschiedene Ebenen, verschiedene Weisen, diese Bruderschaft zu realisieren. Es gibt die Brüderlichkeit, die aus Gott ergriffen und gelebt ist. Aber wir begegnen heute so oft der bloßen „Humanität“, und wir haben gewiß recht, aus dem Glauben her sie als eine Abart, als eine zu dünne und zu schwache und nicht hinreichende Gestalt anzusehen. Aber sie ist gleichwohl ein Restbestand, ein echter Restbestand der ursprünglichen Verwachsenheit im einen göttlichen Schöpfungsursprung, der Letztes von der Wahrheit des Zusammengehörens in ihm wie einen Rest von Sonnenwärme in sich aufgespeichert hält. Die Wärme des Ursprungs glüht nach in dieser „Menschlichkeit“. Freilich schrumpft solche Menschlichkeit, die als reine Humanität zumindest noch den Anspruch einschließt, jedes Menschenantlitz gleich zu achten, jedem Menschen sein Recht einzuräumen, eine Stufe tiefer – und auch dieser Stufe begegnen wir oftmals – zusammen auf das bloß mütterliche Moment der geschickhaften Verbundenheit. Es gibt die Brüderlichkeit des bloßen Mitleides, die Brüderlichkeit, die sich darin erschöpft, den anderen zu bedauern, weil er eben auch so „arm dran“ ist wie ich. Es gibt etwas wie Schicksalsgemeinschaft der Menschen, die sich verbunden wähnen im Glauben, daß der Mutterschoß, der sie trägt und liebend umfängt, sich ihnen, entzogen habe – eine finster tragische, eine [38] trostlose Brüderlichkeit, die große Taten setzt, die aber den anderen nicht mehr bergend einzuholen vermag.

Und schließlich gibt es jene Brüderlichkeit, die nur noch auf die äußere Gleichheit abgestellt ist. Das Wort von der „Fraternite“ steht am Anfang einer geschichtsträchtigen Entwicklung eben zur rein funktional bewerkstelligten Gleichheit hin. Es war Enthusiasmus, der dieses Wort ausrufen ließ, Enthusiasmus, daß alte unterscheidende Schranken endlich gefallen seien. Aber der Mensch, der ganze Mensch war nicht mehr drinnen in dieser Brüderlichkeit. Man formte aus ihr bestenfalls die Spielregeln einer Gleichheit gegen alle, einer sozialen Gerechtigkeit, die unerläßlich ist, die aber, wenn sie das einzige bleibt, den Menschen selbst, das, was er im lnnern ist, sein Herz, seine Person leer läßt. Bedrängt es uns heute nicht, daß wir perfekt miteinander verschränkt sind in einem System zum Ausgleich aller Unterschiede der Not, und daß wir in dieser Verschränkung aller mit allen eine Gesellschaft von Einsamen, von Alleingelassenen und Leergelassenen zu werden drohen? Oder eine andere und äußerste Gestalt dieser Brüderlichkeit: daß sie sich zurückzieht auf die bloße Gleichheit, sich ablöst von der Ursprünglichkeit aus dem einen Schöpfertum Gottes und diese Gleichheit erzwingen will, bis sie von allein umschlägt zum Brudermord, zum Bruderkampf, zum Klassenhaß und zum Bruderhaß. Aber all diese Gestalten, so verschieden sie sind, kommen doch aus der einen Wurzel der seinshaften Brüderlichkeit. Sie kommen daher, daß wir wenigstens in einem letzten Rest den Ruf noch in uns vernehmen: Auch der kommt aus demselben Ursprung wie ich, wir gehören in einem Ursprung zusammen! Und deswegen ist gerade darin Hoffnung auf das Wiedergewinnen [39] der ganzen Menschlichkeit und auf das Wiedergewinnen Gottes beschlossen, daß der andere, mit dem ich eben zusammenleben muß, schon durch sein Dasein, durch den Anspruch, den er an mich stellt, durch dasselbe Geschick, in dem er mit mir verwachsen ist, Wärme und Licht des ersten Ursprungs für mich aufgespeichert hält, daß er Sakrament Gottes selber für mich ist. Der Mensch als Bruder das Sakrament Gottes!

Wenn wir auf der Ebene solcher zunächst allgemein menschlichen Brüderlichkeit uns fragen, was diese Bruderschaft von uns fordere, dann finden wir das Wort Jesu, welches das Alte Testament vollendet und doch erst die Schwelle zum Neuen ist: Das Gebot der Liebe, das da sagt: „Ein zweites aber ist dem ersten (der Gottesliebe) gleich: Du sollst deinen Nächsten (und d. h. jeden Nächsten) lieben wie dich selbst“ (vgl. Mt 12,39). In diesem Gebot ist die Schöpfungssituation der Brüderlichkeit genau eingefangen. Denn es ist eingefangen, daß ich dem Ursprung nicht dienen kann, wenn ich den Ursprung nicht auch in jenen ehre und schätze, die aus demselben Ursprung kommen. Wenn Gott mein Ursprung ist, wenn ich mich Gott verdanke, kann ich die anderen, die als Sein Sakrament, als Sein Licht, Sein Finger auf mich zukommen, nicht einfach auf die Seite schieben, sondern vermag nur dann vor Gott zu bestehen, wenn ich auch in ihnen den einen Vater und die eine mütterliche Barmherzigkeit Gottes ehre. Und wie muß ich sie ehren, wie muß ich sie anerkennen, diese eine und selbe Liebe, die den anderen und jeden anderen und jeden beliebigen anderen und mich selbst gezeugt hat? Wie mich selbst soll ich den anderen lieben; das, was ich für mich wünsche, auch für ihn wünschen; das, [40] was ich mir gönne, auch ihm gönnen; die Einheit wahrmachen, die eine Last des einen Geschickes, die eine Würde des einen Anspruchs, indem ich gleiches Recht für ihn und mich gelten lasse, indem ich ihn bejahe wie mich selber, weil wir beide sind aus dem Ja des einen Ursprungs, der uns beide hat sein lassen. Freilich – Menschen als Brüder bedeutet nicht nur diesen hohen Imperativ, sondern es bedeutet auch den Stachel dawider, es bedeutet auch die Not und Versuchung, die überwunden werden will und die nicht überwunden wird, es bedeutet die Rivalität, es bedeutet, enttäuscht zu sein, daß ich nicht allein und ausschließlich und erschöpfend Mensch bin, sondern daß der andere mir da im Weg steht, daß ich mit ihm auskommen muß, daß ich nicht ungehemmt mich ausbreiten und entfalten kann, sondern daß er mir mit seinem selben Anspruch eine Grenze setzt, daß ich nicht der Eine bin, auf den die ganze Geschichte wartet, sondern daß ich immer laufe unter „ferner liefen“, daß ich immer einer unter anderen bin, immer nur in der Reihe stehe. Diese letzte Sehnsucht, daß mir, mir ganz, mir allein diese zeugende Liebe des Ursprungs gehöre, daß ich ganz und gar in Ihm aufgehoben und geborgen sei, daß Gott selber mit sich selbst sich ganz mir zuwendet – sie scheint durch die Schöpfungssituation, durch das unabwendbare Maß meiner nur endlichen Personalität ausgeschlossen zu sein. Nicht als ob es ein Unrecht von Gott, ein Makel der menschlichen Natur wäre, daß Gott sie so geschaffen habe, im Gegenteil – aber es bedarf der opfernden Selbstaufgabe, des Selbstverzichtes, der Selbstbescheidung, um den Bruder anzuerkennen, um nicht jenem furchtbaren Wort Paul Sartres zu verfallen: „Die Hölle – das sind die anderen“.