Wahrheit und Zeugnis

Der Ursprung des Zeugnisses im Zeugen und in der Wahrheit

Je näher wir dem Wesen des Zeugnisses rücken, desto deutlicher stoßen wir indessen auf den Zeugen. Zeugnis im vollen Sinne ist Zeugnis des Zeugen, und in einem folgenden Gang der Besinnung soll das Zeugnis nun von dem her bedacht werden, der es ablegt. Das Zeugnis wird dabei dieselben Züge zeigen, diese Züge aber werden nicht mehr nur als deskriptive Strukturen, sondern als Kriterien für die innere Echtheit des Zeugnisses erscheinen, und sie werden des weiteren den Menschen überhaupt in seinem Wesen als den Zeugen der Wahrheit enthüllen.

Wir müssen unsere Frage nach dem Zeugnis also neu stellen. Sie lautet nun: Was geschieht, wenn ein Zeuge Zeugnis gibt? Es geschieht zugleich und als ein selbes zweierlei, und dieses beide ist scheinbar genau sich entgegengesetzt. Zum einen geschieht das totale [63] Engagement des Zeugen. Er spricht im Zeugnis nicht spielend, probierend, aufs Geratewohl, nicht ad experimentum, nicht als Arbeitshypothese, nicht auf Widerruf. Er spricht als er selbst. Die Instanz, die für sein Sagen eintritt, ist sein Ich-Selbst, die Einmaligkeit, Verbindlichkeit, Unablöslichkeit seines Daseins. Gerade im Zeugnis wird aufgeschlossen, was im Menschen ist: Das, wofür er einsteht, ruft ihn erst in seine volle Wirklichkeit hervor. Doch eben: das, wofür er einsteht. Zeuge wird der Mensch nicht um seiner selbst willen, sondern je um dessentwillen, was größer ist als er. Indem der Mensch zum Zeugen wird, tritt er also, und dies ist die andere Seite desselben, an sich selbst zurück, es geht ihm um das, was größer ist als er, unverrechenbar mit seinem Dasein. Zeugnis ist nicht Präsenz des Zeugen, sondern Präsenz des Bezeugten, diese Präsenz des Bezeugten geschieht aber gerade mit dem Ich-Selbst und durch das Ich-Selbst des Menschen.

Das Zeugnis des Zeugen sagt, auch wo es nicht in Worten geschieht, zugleich: Ich selbst sage das und: Nicht ich sage das, sondern die Wahrheit selbst sagt es! Die Bewegung, die den Zeugen in die Fülle seiner selbst zeitigt, und die Bewegung, in welcher das, was früher und größer ist als der Zeuge, sich über sein Selbst hinaus zeitigt, sind eine und dieselbe Bewegung.

Dies ist nun nicht mehr nur eine neutrale Struktur des Zeugnisses, sondern es ist ein Kriterium für seine innere Echtheit. Nur dort, wo der Einsatz des Zeugen und sein Zurücktreten hinter das Bezeugte zugleich und nahtlos miteinander verbunden sind, ist der Zeuge als solcher glaubwürdig.

Das Zeugnis hat so wesenhaft einen doppelten Ursprung: den Zeugen und in seiner Ursprünglichkeit, ihr voraus, die Wahrheit selbst. Natürlich setzt das Zeugnis beim Zeugen, bei der Mitte seiner Freiheit und Freiwilligkeit ein, er selbst will Zeugnis geben. Und doch ist sein Wille nicht Willkür, sein Zeugnis nicht Zufall, sondern das ihm Zugewiesene von dem her, was er bezeugt. Die Freiheit des Bezeugens ist zugleich Übermächtigung von dem, was sich ihm zu bezeugen gibt. Es ist zu groß, zu wahr, zu wichtig, als daß der Zeuge [64] es nicht bezeugen könnte; er hat nicht eigentlich die Wahl, und doch hat er die Freiheit. Die beiden Ursprünge sind miteinander im Bunde, sind zugleich am Werk: Der Ursprung der Wahrheit selbst und der Ursprung des Zeugen, sein Ich, das gerade Ich und Ursprung ist angesichts und von Gnaden der Wahrheit. Das Zeugnis ist also nicht beliebig, aber frei, es ist spontan in diesem doppelten Sinn: daß es aufspringt aus der Mitte des Herzens des Zeugen und daß aus dieser Mitte des Herzens des Zeugen das sich Bezeugende selbst im Glanz der Wahrheit und aus ihrem Ursprung her aufspringt.

Darin bezeugt sich indessen nicht mehr nur die Echtheit des Zeugnisses des Zeugen, sondern der Rang und die Echtheit des Bezeugten selbst. Wo etwas die Macht hat, so aus dem Menschen aufzubrechen, daß es ihn überwältigt und frei läßt, ja frei gibt in einem, dort ist ihm zu trauen, dort ist nicht Irreführung des gutgläubigen Zeugen zu vermuten, der mit der Hypertrophie seines fanatischen Einsatzes das wahrmachen will, was von sich her nicht wahr ist. Wo eine Idee den Zeugen irreführt, da vermag sie nicht ihn selbst in seine Freiheit hinein zu zeitigen, wo er sich selbst irreführt oder das Zeugnis vortäuscht, wird wiederum seine Freiheit nicht den offenen Glanz des Aufgangs aus sich selbst vermögen, sondern gewaltsam, verengt und erzwungen oder aber schwärmerisch unverbindlich erscheinen.

Dem echten Zeugnis eignet so die Identität von Leidenschaft und Gelassenheit. Das wahrhaft zu Bezeugende ist so groß, daß es die ganze Leidenschaft des Menschen wachruft, und in seiner Größe so mächtig, daß es den Zeugen nicht nur seinem eigenen Dasein gegenüber gelassen macht, sondern auch dem gegenüber, was er bezeugt; denn der Zeuge weiß, es ist mächtiger als ich selbst, es gibt sich zwar durch mich kund, aber nicht erst und nicht nur durch mich wird es seine Wahrheit durchsetzen. Die Zeit, die kommt, ist grundsätzlich bereits die Zeit des Bezeugten, deshalb kann der Zeuge seine eigene Zeit nichts anderem mehr schenken, doch nicht die Hingabe seiner Zeit allein ist es, welche die künftige Zeit zur Zeit des Bezeugten macht.

[65] Bezeugen ist ein Tun des Zeugen, es ist aber noch mehr: Wirken der Wahrheit selbst. Bezeugen ist lichten. Das Bezeugte geht im Zeugnis auf, über sich hinaus. Die dem Bezeugten geschenkte Zeit des Zeugen ist das Medium des Aufgangs des Bezeugten in die Zeit der anderen, vor denen er Zeugnis ablegt. Indem das Bezeugte im Zeugnis hell wird, wird aber noch mehr hell. Hell wird zunächst das eigene Sein des Zeugen. Er entdeckt sich als einen, dem dieses Große gilt, der in seinem Lichte und für es da ist. Wer sich zum Zeugnis gerufen findet, der ist sich selbst nicht mehr Problem, er ist mit sich selbst zur Identität gebracht dadurch, daß er weiß: dieses gilt. Wissend, daß dieses gilt, weiß der Zeuge aber, daß es nicht nur an sich, sondern daß es zugleich ihm selbst gilt. Er kann das übrige lassen und alles auf die eine Karte des zu Bezeugenden setzen. Indem er gefunden hat, was von ihm bezeugt werden will, hat er sich selbst gefunden. Und so schließt die Macht des Bezeugten in seinem Zeugnis alsdann auch die Wahrheit des Zeugen selbst für die anderen auf.

Eine weitere Richtung im selben Vorgang des Zeugnisses: Das Bezeugte soll nicht nur gelten vor den Empfängern des Zeugnisses, es gilt auch für sie, gilt ihnen. Das Zeugnis wirft sein Licht ins Herz derer, die das Zeugnis vernehmen, sie selbst werden im Zeugnis für sich selbst entborgen und entdeckt. Ein Zeugnis von qualitativem Rang macht stets betroffen, weckt die Hörer zu sich selbst auf und bringt sie in eine neue Gegebenheit für sich selbst. Das eine Licht, das alle erleuchtet und alle neu zum Ursprung macht im Vollzug des Zeugnisses, ist das Licht der Wahrheit selbst. Sie wird hell, indem jemand und etwas hell werden im Zeugnis.

Im Zeugnis zeitigt sich also die Wahrheit für den Mensch und durch den Menschen, lichtet sie sich als Ursprung und entspringt lichtend zum Menschen hin, um ihn wiederum darin zum zeitigenden Ursprung seines eigenen Lichtes werden zu lassen. Im Zeugnis begibt sich also die Geschichte des Menschen mit der Wahrheit für die Welt.