Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Der Vater

Wir sollten niemanden auf Erden unseren Vater nennen, weil es nur einen Vater gibt: den im Himmel (vgl. Mt 23,9). Nur einer ist der Herr und der Meister: Jesus Christus. Nur einer ist der Vater: unser Vater im Himmel. Doch wir sollen diesen Meister und diesen Vater nicht nur mit unserem Wort verdeutlichen, wir sollen nicht nur mit unserem Leben auf sie hinweisen, sondern wir sollen uns selber da hineingeben, Christus und in ihm den Vater zu den Menschen zu bringen, für die Menschen gegenwärtigzusetzen. Ganz gewiß darf es nicht so sein, daß sie uns mit dem Herrn und Meister, daß sie uns mit dem Vater verwechseln, sondern so, daß sie in der Begegnung mit uns dem Herrn, in der Begegnung mit uns dem Vater begegnen. So hat denn auch Paulus den Vaternamen und die Sache der Vaterschaft auf den apostolischen Dienst bezogen – und gewiß nicht in einem usurpierenden, die einzige Vaterschaft Gottes verdrängenden Sinn: „Hättet ihr nämlich auch ungezählte Erzieher in Christus, so doch nicht viele Väter. Denn in Christus Jesus bin ich durch das Evangelium euer Vater geworden“ (1 Kor 4,15). Und ähnlich: „Ihr wißt auch, daß wir, wie ein Vater seine Kinder, jeden einzelnen von euch ermahnt, ermutigt und beschworen haben zu leben, wie es Gottes würdig ist, der euch zu seinem Reich und zu seiner Herrlichkeit beruft“ (1 Thess 2,11f). Und an Philemon über dessen Sklaven Onesimus: „Ich bitte dich für mein Kind Onesimus, dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin“ (Phlm 10). Was steht hinter diesen Aussagen des Paulus, in denen er sich einem Vater gleichsetzt oder vergleicht? An allen drei Stellen handelt es sich um eine inständige Beschwörung, der Liebe zu glauben, aus welcher die apostolische Ermahnung und Sorge erwachsen. Der Ton ist jedesmal ein besonders inniger, ein besonders zarter, man muß sagen: ein demütiger. [154] Im ersten Korintherbrief geht es darum, daß die Korinther ihre Selbstsicherheit und Selbstgerechtigkeit aufgeben und sich an der Demut, am „letzten Platz“ des Apostels ein Beispiel nehmen. Und sollten sie sich nicht in der Tat an dem ein Beispiel nehmen können, der sie im Evangelium gezeugt, ihnen das Leben Gottes durch seinen Dienst, durch seine Verkündigung und Sorge mit der ganzen Person geschenkt hat? Im ersten Thessalonicherbrief erinnert Paulus an die innige Beziehung, an den keine Grenzen kennenden und sich doch selbst zurücknehmenden Einsatz, mit welchem er ihnen das Evangelium gebracht, sie in den Weg des Evangeliums eingewiesen hat. Im Philemonbrief ist es wiederum die „neue Beziehung“, die durch das Leben Gottes, das Paulus dem Sklaven Onesimus mitteilte, geworden und gewachsen ist, was ihn auf das Bild des Vaters anspielen läßt. Und diese innige Beziehung des Onesimus zu Paulus soll nun auch das Verhältnis des früheren Sklaven zu seinem bisherigen Herrn Philemon von innen her verwandeln. Überall also, wo das Vaterbild bei Paulus auftaucht, beobachten wir vier Momente. Zum ersten ist es das Leben Gottes, der Glaube, den Paulus weitergibt. Durch den Glauben und durch die Taufe, durch seinen das christliche Leben grundlegenden Dienst entsteht in Menschen das Leben Gottes, eine neue Beziehung zu Gott, die Gotteskindschaft; Gott wird jenen, denen der Dienst des Paulus gilt, zum Vater. Das zweite Moment: Dieses objektive und die Person des Vermittlers absolut übergreifende Geschehen stiftet zugleich eine personale Beziehung zwischen ihm und dem, der durch ihn Gottes Leben empfangt. Mit Gottes Leben empfangt der aus ihm Gezeugte zugleich ein Stück Leben dessen, der ihm dieses Leben vermittelt. Er selbst trägt ja dasselbe Leben Gottes in sich, das er weitergibt, und in solchem Weitergeben [155] entsteht Bruderschaft: Der knappe Philemonbrief macht dies auf engem Raum deutlich, wenn Paulus sein „Kind“ Onesimus wenige Verse später als seinen „geliebten Bruder“ bezeichnet (Phlm 16). Und solche Bruderschaft ist – Paulus spricht das Verhältnis des Onesimus zu seinem früheren „Herrn“ Philemon an – zugleich ein menschliches und ein geistliches Datum (vgl. ebd.). Das dritte Moment: Das Tun, der Einsatz, in welchem Paulus das Leben Gottes, den Samen seines Wortes weitergibt, ist ein ganzer Einsatz. Paulus gibt nicht nur etwas von sich, sondern sich selbst. Aber – und dies ist das vierte Moment – dieser ganze Einsatz besteht zugleich in einer Rücknahme, in einer Behutsamkeit und Zartheit, die sich nicht aufdrängt, sondern den anderen hervorkommen, gelten, sein läßt. Vaterschaft im geistlichen Sinne, im Sinne des Evangeliums, Vaterschaft, wie sie dem priesterlichen Dienst von innen her zusteht, zeigt wesenhaft diesen selben Rhythmus. Wir dürfen von solcher Vaterschaft gewiß auch dort sprechen, wo es sich nicht um die Erstevangelisierung, nicht um die Hinfiihrung zur Taufe handelt. Vergegenwärtigen wir uns diesen Rhythmus nochmals: Ich gebe dem anderen Gottes Leben, Gottes Wort als sein Leben, als sein Lebenswort; er kann nicht von irgend etwas leben, ich kann ihm nicht irgend etwas von mir, mag es noch so kostbar und wichtig sein, geben, sondern allein Gott zeugt Leben, allein sein Leben zählt. Indem ich ihm aber dieses mir selber gegebene und aufgegebene Leben und Wort Gottes darreiche und aufschließe, entsteht eine personale Beziehung zu ihm. Ich gebe es ihm selbst und ich gebe mich selbst in diesen Vorgang hinein. Es geht wirklich ums Leben; und deswegen ist mein Leben, ist mein ganzer Einsatz gefordert. Ich kann – bei aller Notwendigkeit, Arbeit zu planen, auch Erwartungen zu enttäuschen, zu anderen weiterzugehen – meinen Einsatz nicht [156] qualitativ begrenzen und beschränken. – Ich denke öfters an einen Freund, der von einem anderen den entscheidenden Impuls für sein Leben bei einer Begegnung auf dem Bahnsteig erhalten hat, für die nur ganz wenige Umsteigeminuten zur Verfügung standen; aber er hat gespürt, daß der andere ganz für ihn da war, und so wurden die kargen Minuten zur „Stunde seines Lebens“. – Schließlich aber ist entscheidend auch dieses Letzte: die Rücknahme, Diskretion, das Abgeben. Du mußt selber leben, du mußt sein und dein Leben leben, und dem will ich gerade dienen, darauf kommt es mir an, sosehr mein Herz von der Begegnung mit dir getroffen ist. Die innere „Jungfräulichkeit“ des Herzens, die alles gibt und zugleich frei läßt und frei bleibt, die Herzlichkeit, die ungezwungen und ganz ist, aber nicht festklebt, sind also Kennzeichen dieser geistlichen Vaterschaft. Beim Propheten Jesaja, in der Verheißung der Geburt des göttlichen Kindes, ist einer seiner vier Namen: „Vater in Ewigkeit“, in dem klassischen liturgischen Vulgatatext: „Pater futuri saeculi – Vater der Zukunft“ (vgl. Jes 9,5). Jesus selber holt die Vaterschaft Gottes ein, stellt sie dar, macht sie gegenwärtig – am abgründigsten und radikalsten am Kreuz, wo er vom Nullpunkt seiner Selbstentäußerung, seines Leerseins von sich, seiner reinen Weggegebenheit an den Vater aus im Ja zu ihm die neue Schöpfung ins Leben ruft. Ist hier nicht auch der innerste Punkt unserer apostolischen Fruchtbarkeit? Begegnen wir hier nicht dem Radikalfall unseres Daseins für den Menschen? Paulus legt uns hier wiederum eine Fährte. Er spricht von Abraham, dem Vater des Glaubens, der, ins Nichts hinein glaubend, Stammvater vieler Völker wurde. „Nach dem Schriftwort: Ich habe dich zum Vater vieler Völker bestimmt, ist er unser aller Vater vor Gott, dem er geglaubt hat, dem Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft. Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung ge-[157]glaubt, daß er der Vater vieler Völker werde...“ (Röm 4,17–18a). Und weiter: „Doch nicht allein um seinetwillen steht in der Schrift, daß der Glaube ihm angerechnet wurde, sondern auch um unseretwillen; er soll auch uns angerechnet werden, die wir an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt hat. Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt“ (Röm 4,23–25). Wer glaubt nach dem Maß des Abraham, glaubt auf den hin, der aus dem Nichts das Etwas ruft und vom Tod zum Leben erweckt; wer glaubt nach dem Maß Christi, der sich selbst, in der absoluten Entäußerung und Leere, in der Gottverlassenheit, in die Hände des Vaters gab und so der neuen Schöpfung das Leben schenkte, deren Anfang er als der Erweckte wurde, wahrhaft, der ist „Vater“. Sind wir nicht immer wieder, vielleicht in kleinerem Maße, aber doch bis auf den Grund unserer Kräfte und unseres Herzens angefordert, vor die Leere, vor das Nichts, vor die Unmöglichkeit gestellt – und finden gerade hier seine Stunde, wo neues Leben wachsen kann? Wenn wir nicht davor zurückschrecken, dem verlassenen Christus in den Antlitzen der Menschen selber ins Antlitz zu schauen, da kann Er – und können wir in ihm – Vater neuen Lebens werden.