Krise des Hörens

Der Verfall des Hörens im technischen Zeitalter*

Die Last, die wir aus dem geschichtlichen Unheil des Hörens her noch zu tragen haben, die Inflation des Hörbaren infolge seiner technischen Vermittlung, das Verblassen vieler die Gesellschaft einstmals einender und bindender Worte, das Zerbrechen von Lebensformen, in denen der einzelne ehedem beheimatet, den Kreis seines Gespräches und seiner Partner im Gespräch überschauen konnte, dies alles fließt mit ein in jenen Schwund des Vertrauens, der das Hören heute bedroht. Es ist nicht möglich, alle Symptome in ihrer Fülle zu beschreiben, sie auf ihre Ursachen zurückzuführen und ihre Wirkungen, die bedrohlichen wie die zum Guten wendbaren, abzuschätzen, um so von der Situation des Hörens in unserer Welt ein klares Bild zu gewinnen. Und wenn solches gelänge, wäre die Krise des Hörens gleichwohl kaum bis ins Letzte aufgehellt; denn die bloße Erkenntnis des Vielen, das in unserer Welt ist, bedeutet noch nicht die Erkenntnis dieser Welt selbst, des Einen, das sie in diesem Vielen ist. Auf Grund der bis hierher aufgereihten Erfahrungen und Beobachtungen soll nun das Gehör auf die eigentümliche Stimmung des Hörens im Ganzen unserer gegenwärtigen Welt hingewandt werden.

Doch wie verhält sich Hören überhaupt zur Welt? Welches ist der Zugang des Hörens zur Welt? Welches ist die Bedeutung des Hörens für das Werden und Sein einer bestimmten „Welt“, und umgekehrt: Welches ist die Bedeutung einer Welt für das Hören?

Die beiden Grundweisen menschlicher Orientierung in der Welt sind Sehen und Hören. Beide bezeichnen unmittelbar sinnliche Vorgänge, reichen aber bis in die Tiefen geistig-per-[60]sonaler Erkenntnis und färben diese, die ja als menschliche sinnlich bestimmt bleibt, auf ihre je besondere Weise ein. Gewiß ist der Mensch nicht nur im Zusammenklang seiner Sinne mit seiner Vernunft, sondern auch im Zusammenklang der Sinne miteinander bzw. der verschiedenen sinnlichen Stimmungen seines Erkennens ein Ganzer, Unteilbarer. Gleichwohl haben die Sinne ihre je eigene „Spiritualität“, die verschiedene Schichten und Erstreckungen menschlichen Geistwesens freilegt. Sie bekundet sich vor allem an sprachlichen Bezeichnungen geistiger Akte, die in Analogie zu sinnlichen Akten bzw. in organischer Zusammenschau mit ihnen gewählt sind.

Das Urereignis, welches sich dem Sehenden zueignet, ist der Aufgang des Lichtes aus der Finsternis. Entsprechend ordnet sich die Entbergung und Lichtung alles Seienden in besonderer Weise dem Sehen zu. „Schau“ ist der Inbegriff deutlicher und unmittelbarer Erkenntnis. Gewiß zeigen, besonders kostbar, das menschliche Antlitz und die menschliche Gebärde, Wink und Zeichen, sich dem Sehen, doch blickt das Sehen wesentlich über den Bereich des Menschlich-Personalen hinaus und begreift alles, was ist, überhaupt in sich ein. Und dieses „Alles“ ist, indem es ihm aufscheint, bereits gefügt und geordnet in Nah und Fern, es ist überschaubar, und der Mensch strebt danach, es sich durchschaubar zu machen. Das dem Sehen zugehörige Erkennen ist vor allem das Sich-Auskennen, das disponierende, sich orientierende Sich-Einrichten in der Welt.

Das Hören hingegen hat, obzwar der Lärm, das Geräusch und die Melodie ihm von überallher entgegentönen, es mit mehr Vorrang als das Sehen mit dem Bereich der personalen Kund-[61]gebung zu tun, sein vornehmster Gegenstand ist das Wort. Hören heißt zutiefst, in allem das Wort hören, aus allem das Wort heraushören, nicht so sehr um – wie beim Durchschauen – „dahinterzukommen“, sondern um hineinzugehen und einzugehen, um hereinzulassen und sich einzulassen. Die Bewegung des Sehens gibt und geht von sich weg, hinein in die Welt, der Blick wird zugeworfen, das „Ausersehen“ ist die wählende Tat meiner Hoheit über die Welt. Hören ist die Bewegung des Annehmens und Ansichnehmens, der Bergung ins eigene Herz hinein: Erhören und Gehorchen sind Worte, die aus dem Umkreis des Sehens keine Entsprechung zur Seite haben. Wenn jemand nicht sieht, was los ist, so mangelt es ihm an ordnender, gliedernder Erkenntnis der Zusammenhänge. Hört aber einer nicht, dann bedeutet dies einen Mangel seines Herzens, seiner sich sammelnden Bereitschaft, jener behutsamen Einfalt, der sich das Innerste und der Sicht noch Entzogene eröffnet. Evidenz kommt vom Sehen, Glaube, Vertrauen aus dem Hören.

Die Welt als gesehene Welt ist jene Welt, in die der Mensch ausgeht, in der er sich einrichtet und die er sich einrichtet. Die Welt im Hören ist jene Welt, die sich in den Menschen hineinwölbt, die ihm zu Herzen geht und in seinem Herzen wächst, die er umfängt in der Sammlung. Sehend bin ich bemüht, alles und deshalb möglichst vieles zu sehen, hörend, alles und darum möglichst eines zu hören.

Das Hören, das sich in jedem Sprechen und Hören als innere Voraussetzung vollzieht – sosehr der Mensch sich an diesem wesentlichen Maße auf Grund seiner Freiheit verfehlen kann –, ist das Hören auf die Wahrheit. Im Hören nimmt er sie an sein Herz, tiefer oder weniger tief, er eignet sie sich an, sie selbst [62] eignet sich ihm zu. Mag er auch rein und unverstellt auf die Wahrheit achten, sie wird aus seinem Hören her sein Leben, den Ton seines Herzens eintragen in sein Wort und in sein tätiges, leidendes, liebendes Verhalten zur Welt.

Wenn er nicht lauter auf die Wahrheit und nicht lauter auf die anderen Stimmen achtet, die mit ihm in der Welt sind, sagt man von ihm: Er lebt nur in seiner Welt. Das Hören auf die Wahrheit und das Hören auf die anderen und zusammen mit den anderen gibt ihm Gewähr, nicht nur in seiner, sondern in der Welt zu leben. Die Welt aber wird nicht zur wirklichen Welt für ihn ohne das Ereignis seines Hörens: In ihm sammelt er die Welt in sein Herz und in die Gemeinsamkeit des verborgenen weltweiten Gespräches hinein, an dem er beteiligt ist. Diese Welt ist die Weise, wie sich alles, was ist, hineingibt in jenes gemeinsame Hören, das die Menschen einer Zeit zu Partnern im Gespräch miteinander macht. Wahrheit kann nie zum Irrtum, Irrtum nie zur Wahrheit werden. Und doch ist die Wahrheit der Natur und ist die Wahrheit des Menschen und seiner Geschichte und ist auch die Anwesenheit der Wahrheit Gottes im menschlichen Vollzug verschieden gestimmt in verschiedenen „Welten“. Das Ereignis der Stimmung begibt sich auf dem innersten Grunde menschlichen Hörens auf das, was ist. Im Hören werden die Worte, und im Hören werden die Welten. Weil die Menschen Hörende sind, gibt es vielerlei Welten. Und weil sie Hörende sind, gibt es das Zusammenhören und Zusammengehören aller Welten in die eine Welt und in die eine Wahrheit.

Wenn der Mensch zu hören beginnt, tritt er jedoch in ein bereits begonnenes Gespräch ein, er fängt hörend und also antwortend seinen Anteil am Gespräch der Welt an. Sein [63] Hören ist vorweg umschlungen von einer Weise des Hörens und also von einer Welt, die im Wort seiner Partner schon lebt. Diese Welt kann sich in seinem Hören wandeln, doch zuvor hat sie ihn aus der unbestimmten Spielweite menschlichen Geistes an sich in eine bestimmte Epoche und in ihre „Welt“ eingerückt. Welt und Hören bestimmen sich wechselseitig und haben in dieser Wechselseitigkeit ihre Geschichte. Wie stellt sich diese Bestimmung nun in unserer Welt dar?

Vielleicht haben die Menschen noch nie so dicht zusammengehört wie heute. Es gibt keine selbstgenügsamen, in sich verschlossenen Lebensräume mehr, alle sind von allen abhängig und durch mannigfache Funktionen über den gesamten Erdball hin miteinander verknüpft. Und doch gehören sie offenbar auch weniger zusammen als früher, sind sie weniger verbunden durch ein Wort, das ihnen einen Sinn des Lebens und der Welt gemeinsam macht. Worauf hören wir gemeinsam, daß wir so weltweit verbunden, und worauf hören wir nicht, daß wir so zersplittert und zerspalten sind?

Das große Ereignis unserer Welt ist die Technik, will sagen die Entdeckung unermeßlicher Möglichkeiten zur Nutzung und Auswertung der Natur. Was da genutzt und ausgewertet wird, ist für dies oder jenes verwendbar, zum Besten – Mehrung von Gesundheit, Nahrung, Lebensmöglichkeit in der Welt – oder zur Katastrophe – Tyrannei, Zerstörung, Massenvernichtung. Die Möglichkeiten als solche, welche die Natur an die Hand gibt, lassen es den Menschen offen, was sie mit ihnen anfangen, die Förderung und Nutzung der Möglichkeiten aber fordert alle miteinander und alle in einer weltweiten Teilung und Verschränkung ihrer Funktionen an. Der Ruf, dem die Menschheit folgt, ist der Ruf zum Ausverkauf der Möglichkeiten um der [64] Möglichkeiten willen. Es scheint eine unheimliche Logik des Möglichen am Werk zu sein: Das Mögliche überführt sich selbst durch den höchsten Aufwand menschlicher Planung und Zusammenarbeit in Wirklichkeit, ohne daß dieser Überführung ein verbindliches und umschriebenes gemeinsames Ziel voranleuchtet.

Gewiß steigert der Apparat nicht nur die Anforderung an den einzelnen, ihn für seinen Teil zu bedienen, er wirft auch Mittel und Zeit aus, damit der einzelne mehr und mehr Anteil an den ausgenützten Möglichkeiten erhalte, damit er versorgt werde und versichert und ausgestattet mit Freizeit. Doch auch all dieses steht unter dem Gesetz der „Möglichkeiten“: Alles nur Mögliche wird ihm angeboten und von ihm ausgenutzt, so daß die Gemeinsamkeit der Menschen außerhalb der Arbeitszeit wiederum nicht so sehr zur Gemeinsamkeit in einem gemeinsam vollzogenen Sinn als zur Gemeinsamkeit im Konsum dargereichter Möglichkeiten führt. Keiner in diesem weltweiten Geflecht hat das Ganze in der Hand, jeder steht steuernd und verwaltend und mehr noch gesteuert und verwaltet an einer winzigen Stelle, kennt kaum den Nächsten nebenan, und doch strahlt sich das Ganze dieser Welt, strahlt alles Mögliche sich ihm zu, er sieht und hört überall die ganze Welt, die Vielzahl der Möglichkeiten an Meinungen, Sinngebungen, Freuden und Leiden – überall, und daher vielleicht nirgends.

Die gigantische Macht der Ideologien in unserer Welt spricht nicht gegen diese ihre Deutung. Sie sind als selbst zur technischen Brauchbarkeit verkürzte „Sinngebungen“ nicht dazu angetan, das Ganze in jene Frage zu stellen, aus der es sich von Gnaden der Wahrheit frei und neu gewinnen läßt. Vielmehr dienen sie im Grunde nur der perfekteren Beheizung des techn-[65]ischen Apparates der Möglichkeiten mit dem Brennstoff menschlicher Bereitschaft.

Wie fällt, gerufen vom Gesetz der Möglichkeiten, das Hören aus in unserer Welt?

Was gehört wird, ist zunächst das Kommando. Es bezeichnet, wo der Faden, der die Welt durchzieht, von unserer Hand aufgefangen und weitergewoben werden muß, damit er schnell und richtig laufe, und verlangt uns so empfindliche Aufmerksamkeit ab. Das Übersehen einer Signallampe, das Überhören eines Kommandotons kann für den einzelnen und für viele zur Katastrophe rühren. Die Anspannung der in einer automatisierten Fertigungsstraße Beschäftigten ist nahezu sinnbildhaft. Für Kommando und Signal aber gelten die vom Weltbezug des Hörens ermittelten Bestimmungen offenbar nicht. Dieses Hören fordert zwar meine Spannung, es braucht nur eines nicht: den Raum meines Herzens.

Kommando im technischen Sinne ist nicht Anruf, der mich aus mir herausruft, dem ich mich öffnen muß, der meinen Willen, meine Bereitschaft steigert. Ich will, einmal eingespannt in den Automatismus des Apparates, selbstverständlich, daß er funktioniert. Ohne diesen Willen gäbe ich mich preis. So beschränkt sich das Kommando in seiner perfektesten Form darauf, Information zu sein. Dies ist die zweite Grundgestalt des Hörbaren in unserer Welt: die Information. Sie braucht nur zur Kenntnis genommen zu werden, um ihre Wirkung auszulösen. Der Umweg über den Unsicherheitsfaktor der persönlichen Bereitschaft ist nicht mehr notwendig. „Information“ breitet sich mehr und mehr über das gesamte Leben aus. Auch die Kulturgüter werden mir „informativ“ zugebracht, sie muten meiner Aufnahmewilligkeit nicht mehr zu als die Bedienung des [66] Knopfes am Radioapparat. Die Verkürzung des Hörens bei der Umwertung des Wortes oder der Musik, die ja als solche in ausgezeichnetem Maße ihr „Wort“ hat, liegt offen.

Von allein und fast unbemerkt geschieht der Übergang von der Information in die Geräuschberieselung, in das nebenherlaufende Tönen, das nur noch Anregung oder Entspannung und auf ihren Wogen diese oder jene Wirkung in das Bündel von Funktionen und Reaktionen einfügt, als das ich noch bestehe. Die Menge der „Informationen“, die mir zuströmen, verzichtet nicht nur auf die Ausdrücklichkeit meines Wollens, sondern weithin sogar auf die meiner Kenntnisnahme: ich werde einfach „beeinflußt“. Die Anspannung der Nerven wird dadurch kaum geringer. Hören heißt nicht mehr, mein Herz einräumen, sondern es ausräumen lassen zum Lagerplatz für anforderbare Reaktionen.

Das Quantum des Hörens, die Zahl, hat also mit der Krise des Hörens Entscheidendes zu tun. Das Gesetz der Möglichkeiten steht unter der Hoheit des Quantums und der Zahl: Es geht nicht darum, was im Tun und Herstellen getan und hergestellt werden soll, sondern zuvor darum, wieviel. Um soviel wie möglich herzustellen und auszunützen, wird das Leben in die eine Dimension des Herstellens und Ausnützens zurückgenommen. Der Einfachheit halber verständigt man sich möglichst durch die Zahl, die das vergleichbarste, nüchternste, inhaltsärmste und also praktischste Zeichen ist. Wo das Wort unvermeidlich bleibt, erhält es zahlähnlichen Charakter: Es wird formalisiert, verkürzt zur handlichen Begriffshülse und oft genug auch seiner Gestalt nach zur bloßen „Abkürzung“. Dem Hören wird also nicht zuerst ein von Sinn und Gehalt bestimmtes Etwas, sondern ein Quantum, soviel wie möglich, angebo-[67]ten. Ein Hineinhören ins Wort oder ein Mithören verborgen schwingenden Untergrundes sind überflüssig, da das Wort sich darin erschöpft, etikettierende Bezeichnung zu sein. Daß indessen auch die Zahl selbst ihre symbolisch-magisch-rhythmische Lebensfülle einbüßt und zur Ziffer schrumpft, bleibt nur zu erwähnen. Die Verschränkung des Ich mit dem Du, das Ineinander und Füreinander und Gegenüber kommt in der Welt der Zahl nicht mehr vor, die dialogische Grundsituation droht um ihr Wesentliches zu verarmen.

Dies alles ist nicht geschehen, aber es kann geschehen, wenn wir nicht auf der Hut sind. Das Engagement des wesentlichen Hörens fällt aus, ich selbst falle aus dem Hören, bin leergelassen als ich selbst. Und hier erwächst jenes Mißtrauen gegen alles, was mich als mich selbst anfordern will, und jener Zweifel an dem Gut-Meinen, in dem ein anderer mit seinem Ich zu mir wirklich Du zu sagen vorgibt.