Die Spiritualität des Fokolar und die Theologie

Der Weg des Fokolar*

„Gott liebt dich unendlich!“ Dieser Satz eines Priesters an die junge Chiara Lubich hatte für sie den Charakter eines konkreten Anrufs, eines das Leben umwendenden Anstoßes. Leben kann nur noch Antwort auf die unendliche Liebe Gottes sein! Diese persönliche Erfahrung verband sich alsbald mit der anderen, die eingewurzelt war in die Wirren und Unsicherheiten des Krieges 1943 in Trient: Alles bricht zusammen, nur eines, nur einer bleibt, Gott. Gott ist Gott – und Gott ist Liebe. Wahl Gottes und Glaube an den Gott, der die Liebe ist, dies ist das Fundament. Nicht ein „um zu“, nicht ein bestimmtes Ziel oder eine Aufgabe, sondern einfach die Auslieferung an die übermächtige Wirklichkeit Gottes und die Sehnsucht, Antwort zu geben, stehen am Anfang des geistlichen Weges des Fokolar, stehen vom Wesen her am Anfang eines geistlichen Weges und am Anfang der Theologie, die nur Theologie ist, wenn sie Gott aufgehen läßt, wenn sie Gott es erlaubt, sich von sich her zu zeigen, das Gespräch zu eröffnen.

Wir haben schon das Moment der Antwort genannt. Unendliche Liebe verlangt Antwort, Göttlichkeit Gottes verlangt Antwort: Ergebung in den Willen Gottes – und dieser Wille offenbart sich in Jesus Christus als Liebe. Es ist gewiß für die Eigenart des Weges, der sich im Fokolar eröffnet, entscheidend, daß von Anfang an der – ich möchte sagen: christologische – Schritt des Gehor- [14] sams gegen den Willen des Vaters sich zentriert im Neuen Gebot, im Gebot der gegenseitigen Liebe. Denn, so personal und einmalig die Berufung Chiara Lubichs einfach ihre eigene war, so konstitutiv ist es doch, daß diese personale Berufung eine Berufung für andere und mit anderen, eine gemeinsame Berufung wurde. Gewiß, es liegt in der Logik des Evangeliums, daß die Liebe, die der Vater dem Sohn mitteilt und im Sohn uns allen mitteilt, nur als Liebe ergriffen werden kann, nur so ergriffen werden kann, daß alles, was in uns ist, Liebe, und zumal die Beziehung zueinander, zumal die Beziehung im selben Ruf durch diese Liebe nur als Liebe und in Liebe geliebt werden kann. Aber dieses Allgemeine wird gerade im Fokolar zur Entdeckung, zum Besonderen. Das Besondere geistlicher Wege ist im Grunde vom Wesen her nicht etwas Zusätzliches, sondern das allgemeine, das in einer besonderen Situation und Konstellation ans Licht tritt. Gehorsam gegen den Willen Gottes, Dank an seine Liebe leben in der gegenseitigen Liebe und als gegenseitige Liebe, den eigenen geistlichen Weg so als einen Weg zueinander und miteinander gehen, nicht die vertikale Richtung der Gottesbeziehung in eine horizontale umbiegen, aber auch die horizontale nicht zur vertikalen addieren oder umgekehrt, sondern den Ruf zu Gott als den Ruf ins Miteinander leben und im Miteinander verwirklichen und so gerade Gott entdecken, der sich ins Miteinander gibt: dies ist Kennzeichen des „kollektiven“ geistlichen Weges, in welchem das Fokolar jenes, was die großen Mystiker in der „inneren Burg“ ihrer Seele erfuhren (Teresa von Avila), in der „äußeren Burg“, in der Stadt des Miteinander in gleicher Strenge, Konsequenz und Orientierung an Gott allein lebten.

Gott ist Gott und Gott ist Liebe – Gottes Wille allein zählt, Gottes Wille ist Liebe und vollendet sich in der gegenseitigen Liebe: die beiden ersten Paare der konstitutiven geistlichen Entdeckungen im Fokolar.

Wiederum nicht konstruiert und reflektiert, sondern im Leben ent- [15] deckt und zugesprochen zeigen sich zwei weitere zentrale Punkte, die zwei weiteren zentralen Punkte, welche die Spiritualität des Fokolar konstituieren. Es ist die Einheit, die in der Gegenseitigkeit der Liebe wächst, so daß Jesu Testament im Hohenpriesterlichen Gebet (alle eins, wie der Vater und der Sohn eins sind) Gestalt und Ort findet und so der Raum wächst, in welchem die Verheißung Jesu Maß und Wirklichkeit wird: daß er selber zugegen ist, wo wir in seinem Namen eins sind (Mt 18,20). Diese innere Konsequenz der gegenseitigen Liebe, dieses „Schon jetzt!“, in welchem das Eschaton in unsere Vergänglichkeit hineinsteht, ist das eine. Aber erwachsen kann solches nur aus einem anderen, aus dem Mitgehen des österlichen Weges Jesu. Kreuz und Verlassenheit Jesu sind der Angelpunkt, der uns zeigt, bis wohin Jesu Liebe zu uns geht und wo wir wahrhaft sie in unserem Leben ernst nehmen, entdecken und beantworten. Er liebt uns, er kommt uns entgegen, er holt uns ein bis in unsere Gottesferne, bis in unsere Gottverlassenheit. So aber wird alles, was von ihm fern ist, alles, was von ihm trennt, zum Ort, an dem wir ihm begegnen, mit ihm kommunizieren, in ihm die Abwesenheit Gottes in Gegenwart Gottes verwandelt finden. Dies ist das Maß der äußersten Liebe zu ihm und zueinander, dies die Einwurzelung des hereinbrechenden Eschaton ins radikale Ernstnehmen des Jetzt, des Noch- nicht. Hier liegt die Unterscheidungsmarke von Einheit, Gemeinschaft, gegenseitiger Liebe, österlicher Erfahrung in ihrem Ernstfall gegenüber der bloßen Anmutung, dem sentimentalen oder harmlosen Versuch, sich hinwegzuträumen oder hinwegzuheben aus der Realität.

Sicher gehören in die Grundgestalt der Spiritualität des Fokolar noch andere Punkte gewichtig mit hinein: Jesus im Bruder, Wort des Lebens, Maria. Und es müßten auch erwähnt werden: Jesus in der Eucharistie, Jesus durch seinen Geist in uns, Jesus in dem, der von ihm her uns in amtlicher Sendung begegnet. Es ist jedoch von der inneren Weggestalt des Lebens und Denkens des Fokolar [16] her von höchster Bedeutung, daß immer wieder folgende Sequenz das Gerüst des Ganzen markiert: Gott allein, jener Gott, der die Liebe ist – der Wille Gottes, der sich im Neuen Gebot der gegenseitigen Liebe zentriert – daraus jene Einheit, die Jesus in unserer Mitte den Lebensraum bildet, und als Schlüssel dieser Einheit und Spitze der Liebe von Gott her, auf Gott zu und aufeinanderzu: Jesus, der Gekreuzigte und Verlassene.

Es ist unschwer, darin die Verknüpfung der heilsgeschichtlichen Mitte des Pascha mit dem trinitarischen Grundgeschehen in Gott und von Gott her zu erblicken: mit Jesus im Geist allein auf den Vater zu, allein zu seiner Liebe hin – vom Vater her in der gehorsamen Treue zu seinem Willen in die Welt hinaus bis hin zum Teilen der äußersten Gottverlassenheit des Menschen – gerade darin die Freisetzung jenes Geistes, den Jesus dem Vater und uns darreicht, so daß wir an seiner Einheit mit dem Vater teilhaben in Einheit miteinander und er als der vom Geist Erweckte in unserer Mitte lebt. Diese Bindung an den Vater allein durch Jesus im Geist umfaßt die beiden Zielrichtungen, die als spezifischer Auftrag des Fokolar erscheinen: Einheit miteinander, auf daß alle eins seien – Kommunion mit dem gekreuzigten und verlassenen Christus als Kommunion mit denen, die ferne sind, die von Gott verlassen sind.

In – wenn dieses Wort erlaubt ist –„theologischer Unschuld“ reproduziert der geistliche Weg des Fokolar den ekklesiologischen Grundbefund von Communio und Missio und in ihm den Zusammenhang von Trinität und Paschamysterium. Und dies ist trotz der genannten theologischen Unschuld nicht eine nachträgliche Reflexion, sondern der Weg selber, der Weg so sehr, daß jede andere Deutung dieses Weges an ihm vorbeigeht, wenn dieser Weg auch aus sich selbst freilich noch weitere Lesemöglichkeiten entläßt, die aber von dieser ersten nicht dispensieren. Ich denke da an die marianische Sicht des Ganzen, die ja alles eher ist als ein bloßer Zusatz zu diesem Zusammenhang zwischen Trinität und Ostergeheimnis.