Das Heilige und das Denken

Der Weg des Zueinander: vom fassenden zum lassenden Denken

Ist indessen Denken nicht überhaupt, je zugleich mit seinem Fassen und ihm zuvor gar: lassendes Denken? Gehört nicht als sein Wesentlichstes zu ihm, das, was ist, auf sich zuzulassen, daß es sich zeige, aufgehe aus sich selbst? Lebt nicht im fassenden „ist“ selbst diese Zulassung des Anderen ins Denken, eben dessen, was ist, damit es sich fasse in seine Bestimmtheit, in der das Denken sich doch ihm und nicht es sich dem Denken anmißt? Ist nicht das Fassen nur „Funktion“ des Lassens, in seinen Dienst genommen, da das aus seinem Ursprung ins Denken Zu- und Eingelassene ohne die fassende Entsprechung, also entsprechende Fassung zerrönne?

Doch hier fällt die Entscheidung: eine Doppeldeutigkeit des Denkens von seiner Wurzel her wird sichtbar. Warum „will“ Denken, einfach indem es denkt, daß das, was ist, ihm nicht zerrinne, sondern sich fassend in sein Eigenes und so ins Denken eingehe, als gefaßt in seinem Wesen und so im Denken bleibe? Was ist das Gewollte in diesem unwillkürlichen, wesenhaften und mit ihm selbst identischen Wollen des Denkens? Will Denken das, was ist, haben und sich in dem, was ist, haben, oder will Denken einfach, daß das, was ist, sei und daß darin es selber sei? Diese Frage scheint aufs erste über das Denken als Denken hinauszuführen und eine ihm wesenhafte Mehrdeutigkeit von außen festzulegen.

Dennoch ist sie, zweifellos, eine Frage des Denkens – und dies zumindest in doppelter Hinsicht. Zunächst: Denken macht vor nichts, was es zu fragen gibt, einen Halt, und so fragt es auch nach dem, was es, als Denken, gemäß mit sich selber will. Warum aber fragt es so? Gewiß will es sich „haben“ in solcher Frage, aber dieses Sich-Habenwollen ist selbst kein blindes Faktum, sondern das ihm Zugewiesene, das von ihm mit sich selbst Übernommene, das mit seinem Sich-Vernehmen und Alles-Vernehmen Identische. Dieses Sich-Habenwollen des Denkens vermag zumindest zugleich Gehorsam gegen das, was ist, und gegen das eigene Wesen des Denkens zu sein, ja es ist zuerst und zuvor sogar dieser Gehorsam. [23] Denn gleichviel, ob Denken haben oder sein lassen will, es fragt danach, und indem es fragt, ist es für beide Möglichkeiten offen: Es hat sich habenwollend also dieses sein Habenwollen bereits in eine lassende, lauter zulassende Gebärde hinein überwunden. Es will haben aus seinem Seinlassen her: Identität des beiden aus dem Vorrang des Lassens vor dem Fassen.

Die zweite Hinsicht, in der sich die Frage nach dem immanenten Wollen des Denkens als Frage des Denkens bestätigt: Wollte Denken sich festlegen auf sein fassendes Habenwollen, so könnte es sich gerade nicht vollenden – dort nicht, wo ein nur Gefaßtes, Gehabtes nicht mehr es selbst wäre, so wie z. B. das nur in der freigebenden Anrede an sich selbst erreichbare Du dem Fassen- und Habenwollen des Denkens entginge. Denken kann das Du nur haben, indem es, nicht nur methodisch, sondern im Ernst, das Du nicht „haben“ und fassen will.

Das Denken, das es auf alles absieht, was und wie und sofern es ist, vermag seine Universalität nur, indem es sich als Fassen läßt in den Vorrang des Lassens. Fassen, das Fassen bleibt, vermag das Lassen nicht, Lassen umfaßt auch das Fassen.

So wesenhaft es zum Denken gehört, sein eigenes Wollen als Freigabe, als Lassen dessen, was ist, in seinen Aufgang von sich her zu verstehen, so unerzwingbar ist dem Denken doch diese innerste Identität mit seinem Wesen, unerzwingbar, weil nicht von einem fassenden Umgriff istsagenden Denkens zu bewerkstelligen. Das Lassen ist nicht, es geschieht nur frei, als das Eigene des Denkens, das seinen ist-sagenden Vollzug erst trägt, es ist kein „ist“, sondern ein „bin“, hinter das „ist“ zurücksteigende Entsprechung zu der das „ist“ nach vorn übersteigenden Anrede.

Diese Zweideutigkeit wohnt dem Denken also unaufhebbar inne: Es ist von sich her seinlassendes Denken; es ist, was es von sich her ist, aber nur wirklich aus der freien Einstimmung sich seinem Wesen lassenden Vollzuges.1

[24] Wie unterscheidet sich in seinem Vollzug, in seiner Durchführung lassendes vom fassenden Denken? Wie schon gesagt, wird lassendes Denken nun nicht einfach aufhören, auch fassendes Denken zu sein. Die alles als es selbst aufgehen lassende Offenheit des Denkens wird seine fassende Mächtigkeit von selbst dem entgegenbringen, was von sich her das ihm Faßliche ist. Auch der lauter empfangende Griff faßt. Doch er ist Griff einer „Hand“, die, für mehr Bewegungen als für die des Fassens bereitet, gerade auch dem gemäße Weisen der wahr-nehmenden Gegenwart entgegenbringt, was nicht ins umgreifende Fassen eingehen kann, ohne zerstört oder verfremdet zu werden. Unmittelbar vom Denken gesagt: es ist nicht nur Inbegriff von Strukturen, die sich in der Konstitution und Erklärung von Gegenständen (im Kantischen Sinne) erschöpfen. Denken hält nicht nur sein „ist“ bereit für das, was ihm als Gegenstand vorhersehbar und erwartbar, für das es also „eingerichtet“, a priori eingestellt ist, Denken hat ein grundlegenderes Apriori, das der Offenheit fürs Unversehene, dem es in selbst unversehener, unkonstruierbarer Freigabe Stätte seiner Ankunft zu sein vermag. Gewiß wird auch hier die Struktur des ist-sagenden, feststellenden und verknüpfenden Denkens ins Spiel kommen, aber ihr „ist“ und „was“ und „weil“ wird vor dem es Übersteigenden und ihm Ungemäßen in die Funktion des indirekten Zeichens zurücktreten und dieser Funktion innesein, der Griff der universal beweglichen „Hand“ des Denkens wird sich als verweisende Gebärde verstehen und übertreffen. Was die Hand greifen kann, ist im vorhinein umgrenzt, auch wenn sie „alles“ greifen kann. Wohin sie zu weisen und worauf sie zu deuten vermag, sprengt ebenso notwendig die Grenze voraufgehender Festlegung. [25] Gegenstandserkenntnis ist apriorisch strukturiert, personale und geschichtliche setzt den Wegfall eines solchen Apriori voraus, nur die Ausgrenzung gegen die gegenständliche Erkenntnis, der Abstoß von ihr, das „Negativ“ ihrer selbst also ist apriorisch strukturiert. Das Gegenständliche ist von seinem Wesen her das Beständige, Selbige, „nichts Neues“, Ereignis und Person sind das je qualitativ Einmalige und Neue.

Sich lassendes Denken vermag sich also über den Bereich seines vergegenständlichenden Fassens hinauszulassen und insofern auch das auf sich zu- und in sich einzulassen, dem es nicht mehr mit gegenständlich-fassender Erkenntnis gerecht würde. Weil Begreifen nur eine seiner Weisen ist, liegt ihm das Sich-Vergreifen an dem, was nicht mehr zu begreifen ist, fern, es ist dafür offen, daß es auch solches gebe, was sich nur als entzogen gibt, offen für jenes, was die Profanität des Zugriffs von innen her verbietet, fürs Heilige.


  1. Mag der Versuch des „Systems des transzendentalen Idealismus“ beim jungen Schelling scheinbar auch gerade entgegengesetzt gerichtet sein: auf die Verwandlung alles als „Sein“ Aufgehenden in die Setzung des Denkens, der Einstieg in solches Denken durch den ästhetisch verstandenen, freien Vollzug intellektueller Anschauung gerät insgeheim in die Nähe zum Ansatz des lassenden Denkens beim freien Entscheid für sein ihm gleichwohl unbeliebiges Wesen (vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Sämtliche Werke, Bd. III, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart u. a. 1856–61, 365–374) – an der Wende zur Spätphilosophie scheint dies sich zu bestätigen (vgl. etwa IX, 228f.). ↩︎