Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“

Der Wein ohne den Durst

Wäre es nur ein persönliches Geschick, wäre es ein singulärer Fall einer abseitigen Berufung und ihrer ungeheuerlichen Konsequenzen, dann könnte es auf sich beruhen bleiben. Auch für den Dichter selbst. Aber er weiß, es ist mehr. „,Sie haben keinen Wein mehr‘: damit beginnt das Evanglium. Wie steht es aber mit denen, die nicht geladen wurden zur Hochzeit? Immer schmaler wird die Tafel des Bräutigams, immer breiter werden die Tische, an denen niemand nach Wundern verlangt“ (74). In sich selbst und in den Figuren des Pilgram an der Kanzel im Ste- [110] phansdom liest Reinhold Schneider eine säkulare Gefährdung der Botschaft. Ihr Angebot stößt nicht mehr auf Nachfrage, das Bedürfnis, dem sie Erfüllung verheißt, zerrinnt in einer neuen Erfahrung von Welt. „Die Frage nach dem Wert des Daseins legt die Axt an die Wurzeln; fällt die Antwort verneinend aus – und warum sollte das nicht geschehen? –, so stürzt alles zusammen. (…) Ohne Lebensbejahung keine Religion; das Ja zum Leben ist vielleicht die eigentliche Gnade, die Kanzel der Verkündigung. (…) Wenn ich das Leben nicht will, nicht mehr wollen kann, so vermag auch Gott nichts über mich; denn Gott ist das Sein, und dieses ,Nicht mehr‘ (nicht das affektive und daher verdächtige ,Nein‘) entrückt seinem Bereich“ (72f.). Wein der göttlichen Fülle ja, aber er ist nicht mehr interessant für den Menschen, der von seinen eigenen Experimenten, von seiner eigenen Sucht nach dem Mehr, nach dem Ewig schon so übersatt ist, daß er sich kein Mehr und kein Ewig mehr anbieten läßt. Die Botschaft wird nicht bestritten, sie betrifft nicht mehr. „Das Korn will Erdreich, in dem es sterben kann, um aufzuerstehen. Wenn der Mensch das ewige Leben weder ersehnt noch fürchtet – und dieser Zone sind wir sehr nah –, verdorrt das Korn für immer. Der Glaube an Auferstehung setzt den Wunsch nach Auferstehung voraus – oder die Angst vor dem Nichts. Aber weder dieser Wunsch noch die Angst verstehen sich von selbst; in der Definition des Menschlichen, soweit sie überhaupt möglich ist, sind sie nicht eingeschlossen. Menschentum kann sich darstellen, formen, ohne von der Frage nach Unsterblichkeit beunruhigt zu werden: hier ist die Grenze der Verkündigung, der Mission, des Wortes, des Christentums. Es ist nicht das Wort an alle, sondern an die Erwählten unter allen“ (69). Wer nicht mehr fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu besitzen, bei dem greift nicht mehr das Evangelium, sein Ansporn, seine Verheißung, sein Nachfolgeruf (vgl. 98). Reinhold Schneider befragt diese Frage, stellt sie in Frage: „Ist sie aber nun dem Menschen wesentlich? Ist sie unabdingbar? Nein. Weder die Vorsokratiker noch die Stoiker haben sie aufgeworfen; unüberschaubare Völkerscharen gingen und gehen hin, ohne an ihr zu leiden. Das Bild des Menschen und das Verlangen nach ewigem Leben lassen sich ebensowohl voneinander trennen wie der [111] Mensch und der Glaube an ewigen Tod oder das Verlangen nach Verlöschen. Die durch die Herabkunft Christi beantwortete, ihm vorausgegangene Frage ist geschichtlich, genau lokalisiert, also Stimme einer variablen, einer sehr besonderen Konstellation. Hieran scheitern an bestimmter Stelle Verkündigung und Mission. Was kann Christi Sieg über den Tod Menschen und Völkern bedeuten, die sich in den Tod ergeben haben, nach Ewigkeit gar nicht verlangen? Die Osterbotschaft kann sie nicht erreichen. Und doch wurden die Apostel an alle Völker gesandt. (…) In christlicher Sicht mag man das Verstummen der Frage nach Unsterblichkeit als eine seelische Katastrophe betrachten, wohl gar als ein Geheimnis der Finsternis; das ewige Leben wird erlangen, wer Gott aus ganzer Seele liebt und den Nächsten wie sich selbst. Aber auch diese Bezogenheiten richten sich an eine ganz bestimmte seelische Gegebenheit. Kann der nur Gott lieben aus ganzer Seele, der das ewige Leben will: Liebt er Gott um dieses Lebens willen? Kann nur der den Nächsten lieben wie sich selbst, der Gott liebt? – Ist nicht eine Existenz möglich, die diese Beziehungen nicht zu leisten vermag, wenigstens nicht zugleich, die Gott liebt, aber das Leben nicht sucht, die den Nächsten liebt, aber vielleicht nicht Gott und das Leben?“ (98–100).

In dem ganz auf sich, auf seine Einsamkeit mit dem Gesamt von All und Geschichte gestellten Dichter, in seiner unverwechselbaren, persönlich ihm zugewachsenen Situation entdeckt er plötzlich die anderen, das Geschlecht, die Menschheit. Er sieht, wie eine neue Gestalt des Unglaubens heraufkommt, jene, die nicht Leugnung heißt, sondern Beziehungslosigkeit. Wenn aber die Universalität, wenn das „für alle“ in Frage gestellt ist, ist dann nicht das Christentum, ist dann nicht die Botschaft in ihrem Kern in Frage gestellt?

Die Antworten, zu denen hin diese Fragen offen sind, liegen in verschiedener Richtung, ein weites Feld zeichnet sich auch in Reinhold Schneiders Reflexionen ab: Entzug gegenüber dem Gott, der das Leben verheißt, Leben mit einem Gott, der kein Leben verheißt, Atheismus, der nicht unglücklich wird ohne die Aussicht auf das ewige Leben, Frömmigkeit, die sich nicht klammert an diese zentrale Botschaft – aber kann das christliche Frömmigkeit sein? Eine andere Richtung: Müssen wir einfach [112] verstummen vor dem Geheimnis der Erwählung zum Glauben? Müssen wir uns damit abfinden, daß dem Tod für alle nicht das Wort für alle entspricht? Oder müssen wir nach einer tieferen Wurzel suchen, aus der die Botschaft vom Leben, vom ewigen Leben doch wiederum Botschaft für alle wird? Das Rätsel der Geschichte und des Lebens, der empfundene Widerspruch der Botschaft vom Vater und von der Liebe gegenüber diesem Rätsel – das Stoßen an die Grenze des eigenen Lebenswillens über den Tod hinaus – die Frage nach dem Durst, den das Wasser des Lebens stillt, die Frage nach der Ortsbestimmung der christlichen Botschaft im Diagramm der Menschheitsgeschichte: in diese Klimax reißt uns „Winter in Wien“.

Das erste Verb der zweiten Zeile lautet, tonlos, unauffällig: „gleitet“ (7). Die letzten Worte der letzten Zeile: „sachte entzieht“ (284). Die Grundbewegung in der Tat, ist ein „Herausgleiten aus jeglichem Horizont“ (73); und, erinnern wir noch einmal daran, dieses Gleiten ist die persönliche Geschichte Reinhold Schneiders, die „Winter in Wien“ spiegelt: „Ich fühle mich aus dieser Wirklichkeit, diesem Wahrheitsbereich gleiten, ohne Einwand, immer in Verehrung und Dankbarkeit, ohne jegliche Rebellion, aber eben doch für mich, gezogen von meinem Daseinsgewicht, mit geschlossenen Augen, verschlossenem Mund“ (113). Die Gewichte, die gleiten machen, sind in unseren Blick getreten. Um so drängender wird die Frage: Was bleibt?