Wegmarken der Einheit

Der Wille Gottes und die Spiritualität der Einheit

[72] Unvergeßlich ist mir eine Reise, die ich vor mehreren Jahren von Bogotá nach Armenia in Kolumbien mit dem Auto machte. Einer der bewegendsten Augenblicke war es, wie von einer Paßhöhe sich die Ketten der Anden in einem ungeahnten Zusammenhang des Ganzen präsentierten. So ähnlich ist es mir ergangen, als ich in der Mariapoli (Sommertreffen, zu denen die Fokolar-Bewegung einlädt) 1958 und 1959 in Fiera di Primiero das Leben des Fokolar kennen lernte. Das war für mich mehr als nur die Begegnung mit einer Spiritualität, die besser beten und die eigenen Nöte und Aufgaben tiefer aus dem Geist Jesu bewältigen hilft. Es war für mich wie ein Gebirge, was sich da auftat. Ich entdeckte in den Punkten der hier gelebten Spiritualität das Evangelium als Ganzes neu, als einen lebendigen Zusammenhang, der sich im Leben erschließt. Und dieses Leben, so wurde mir deutlich, steht nicht neben dem Verstehen, sondern ist Weg auch zum tieferen Verstehen selbst. Und weiter: Die Landschaft, in die ich da blickte, zeigte sich mir als Lebensraum, in dem viele, ja in letzter Konsequenz alle und gerade die Menschen von heute leben können: Evangelium als Lebensraum für das Menschsein heute. „Laß alle eins sein, wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, damit die Welt glaube!“ – Dies ist sozusagen der Standort auf dieser Paßhöhe, von der aus das Evangelium im ganzen sich erschloß.

Ich habe eine ähnliche Erfahrung wie damals noch einmal gemacht. Eine Erfahrung, die indessen nichts hinwegnimmt von der früheren, sondern dasselbe nur noch einmal in ein neues Licht rückt. Die Paßhöhe, von der sich mir in neuer [73] Perspektive das ganze Evangelium erschließt, heißt: der Wille Gottes. Von allem Anfang an spielt der „Wille Gottes“ in der Spiritualität des Fokolar eine entscheidende Rolle. Doch Wille Gottes ist sowohl für das Evangelium selbst wie für die Spiritualität des Fokolar eben nicht nur ein Punkt; und wie sehr er einen neuen Einstieg ins Ganze, eine neue Sicht des Ganzen in Gang bringt, wurde mir deutlich im Kontext der Einsichten und des Lebens, die sich in Chiara Lubichs Buch „Der Wille Gottes“ (italienische Originalausgabe: Il sì dell'uomo a Dio) verfassen.

Im folgenden soll es nun darum gehen, den Zusammenhang zwischen Wille Gottes und Spiritualität der Einheit vom Willen Gottes her zu reflektieren und zu entfalten. Anders gesagt: Wie erschließt sich unmittelbar vom Evangelium her Wille Gottes als christliche Grundkategorie, und wie drängt dieser Wille Gottes zu einer Schau und einem Leben, die sich leiten lassen von Jesu Testament, daß alle eins seien?

Bei dieser Betrachtung gehe ich aus von der Bedeutung des Willens Gottes für den Menschen von heute. Daran anschließen möchte ich eine Reflexion auf die Stelle in der Geschichte der Menschheit, an der uns der gelebte Wille Gottes konzentriert und exemplarisch begegnet. Von hier aus soll dann die Zusammenfassung des Willens Gottes in den Knotenpunkten der Botschaft und des Lebens Jesu uns in den Blick treten. Und zum Abschluß wird sich wie von selbst uns zeigen, daß wir, vom Evangelium sprechend, vom Weg des Fokolar gesprochen haben. Dies aber legt einen Umkehrschluß nahe: Der vom Willen Gottes her gelesene Weg des Fokolar enthüllt sich uns als Weg in die Mitte und ins Ganze des Evangeliums. Ein solcher Weg hat seine besondere Dringlichkeit und Aktualität für den Menschen unserer Epoche.