Der Himmel ist zwischen uns

Die Achse der Welt

Setzen wir unsere Frage einmal anders an, um uns schrittweise an die Antwort heranzutasten. Wir stellen uns die Welt mitunter vor im Bild der Kugel, die sich um ihre Achse dreht. Wenn die Welt nun das Spielfeld der Geschichte zwischen dir und mir ist, dann hat auch dieses Zwischen eine Achse. Zwischen dir und mir geht es um etwas.

Doch die Achse, das, worum es zwischen uns, worum es uns geht, ist nicht irgendeine vorgegebene Sache, ist nicht irgendetwas außerhalb von uns. Das, worum es uns geht, geht von uns selber aus. Zunächst einmal geht es von mir aus. Meine „Weltanschauung“, das meint doch dies: Auf welche Mitte beziehe ich alles? Um welche Achse schwingt sich für mich das Viele, was ich täglich erfahre, denke, tue? Es gibt da freilich nicht selten einen erheblichen Unterschied zwischen jener Weltanschauung, die ich „offiziell“ – auch für mich selber zur Beruhigung meines Gewissens – vertrete, und jener, die mir beinahe unbewusst in der Haut steckt. Vielleicht verfolge ich hohe Ziele und gebe klare Bekenntnisse ab. Aber sie prägen nicht mein Leben, nicht meine Stimmung und erst recht nicht die jener Mitmenschen, die mit mir zu tun haben.

Aber worum geht es mir denn, ganz unwillkürlich, ganz alltäglich, wenn ich dir begegne, wenn ich mit dir zu tun habe? Will ich mich, meine Macht, mein Können, meine Meinung in dir spiegeln? Will ich selber die Mitte sein, die Achse, um die auch du dich drehen sollst? Ist meine Freundlichkeit, mein [15] sympathisches Auftreten nur der Trick, um dich in meine Gefolgschaft zu bekommen? Oder bin ich ein für mich selbst recht anspruchsloser, vielleicht sogar „selbstloser“ Typ, der sich gerne um dich dreht – im Grund freilich nur deswegen, weil ich selber keine Mitte zu finden, zumindest keine Mitte durchzuhalten vermag? Oder passe ich mich den wechselnden Launen, Einfällen, Bedürfnissen, Eindrücken, Erlebnissen an, den Trends, den Zielen und Mächten des wetterwendischen Augenblicks? Oder ist meine Achse jene Leere, jener Abgrund meiner heimlichen Verzweiflung, dass es mit allem doch nichts auf sich habe – und davon lasse ich mich übermannen, würge mich nur recht und schlecht und widerwillig weiter von einer Station zur anderen?

Ja, diese Frage führt weiter: Worum geht es mir? Wo die geheime Achse meines Lebens ist, um die sich alles dreht, dort ist die Achse meiner Welt. Sind wir also doch vom Bild der Welt als Zwischen-Raum zurückgefallen zum Bild der Welt als Um-Welt mit ihren sich ins Undeutliche verlierenden konzentrischen Kreisen um mich selbst? Genau besehen: nein. Es geht schon darum, dass ich selber eine Mitte habe. Wer keine Mitte hat, der gerät in den oder jenen Sog, verliert den Halt und wird sich selbst entrissen. Doch wer nur sich selber Mitte ist, der kommt nie über sich hinaus. Die Faszination, dass sich alles um ihn dreht, weicht bald der Enttäuschung über die Einsamkeit, über das Verurteiltsein zu sich selbst. Gerade heute macht der Mensch diese Erfahrung: Er hat sich in die Mitte geschwungen, hat eine Welt entworfen, die sich um ihn dreht, machbar und verfügbar – aber er selbst bleibt gebannt an sich, bleibt in Distanz zu dem, was um ihn kreist, und endet so in der Not seiner Isolation.

Die Mitte nur in mir suchen, die Mitte bloß aus den Angeboten des Augenblicks auswählen, keine Mitte haben: alles das ist nicht die Lösung. Denn so komme ich entweder nicht zu mir selbst [16] oder ich komme nicht von mir los, nicht über mich hinaus. Und eigentlich komme ich auch gar nicht zu mir, wenn ich nicht über mich hinauskomme. Wer sich nicht kennt, wer sich nicht in der Hand hat, der ist kein Partner für andere, der weiß nichts zu sagen und hat nichts zu geben; und wenn anderes an ihn stößt, so ist das ein Zusammenstoß, aber keine Erfahrung. Wer nicht über sich hinauskommt, der kommt auch nicht zu sich. Nur wenn ich auch anderen etwas bedeute, andere auf mich reagieren, andere mit mir Erfahrungen machen, erfahre ich selber, wie ich bin und wer ich bin. Nur so kann ich mich korrigieren, kann ich mich in Frage stellen und auch mich bejahen. Damit ich aber zu mir komme und über mich hinauskomme, muss ich das Spiel meiner Selbstbehauptung oder meiner Anpassung, meiner Ansprüche an die anderen und ihrer Ansprüche an mich hinter mir lassen.

Nicht schieben und geschoben werden, nicht beherrschen und beherrscht werden, sondern fragen nach dem, worum es geht. Worum geht es nicht nur mir, sondern worum geht es im Blick aufs Ganze, worum geht es in Wahrheit? Gibt es nicht Maßstäbe, gibt es nicht einen Sinn des Lebens, gibt es nicht Wahrheit, etwas also, das nicht ich machen kann und das nicht andere machen können? Was ist die Achse, um die sich mein Leben, um die sich die Welt zu drehen hat?

Eines jedenfalls ist gewiss: Diese Achse, um die das Ganze schwingt, darf nicht nur die meine, sie muss auch die deine sein. Es muss dir und mir um dieses Eine gehen können. Und wenn wir unsere Achse in diesem Einen haben, dann erfüllt sich ein Dreifaches: Es geht um dieses Eine, das nicht nur mir oder dir oder irgendeinem gehört, sondern das größer ist als wir alle; aber so geht es mir nicht weniger um mich selbst – es ist ja auch meine Mitte; und ebenso geht es mir um dich, um die anderen – denn es ist ja auch eure Mitte. Deine [17] Welt und meine Welt muss es sein, die sich zwischen uns breitet; deine und meine Achse muss es sein, um die es uns und somit zwischen uns geht. Eine Wahrheit, die nicht größer wäre als du und ich, eine Wahrheit, die nicht zugleich aber auch Wahrheit für dich und für mich wäre: das wäre nicht die Wahrheit.

Die Wahrheit ist wie ein Ja, das alles und alle bestätigt, sein lässt und zugleich alle und alles über sich hinaus öffnet, Kontakt, Begegnung, Beziehung stiftet. Von einer solchen Achse her leben wir, können wir allererst uns selbst und einander verstehen und den Mut zu uns und zueinander gewinnen. Hier wendet sich die Not, dass wir über uns hinauswollen und doch an uns gebannt bleiben. Was sie wendet, ist jene Wahrheit, die Liebe ist, Liebe fordert, Liebe ermöglicht.

Doch wo wir diese Liebe finden und ob wir überhaupt diese Liebe finden, die ihre heimliche Spur in unser Herz eingesenkt hat, das können wir uns nicht aus unserem eigenen Denken herausrechnen. Die Spur ist da, und sie deutet hin auf jene Wahrheit, auf jene Liebe, der wir uns verdanken. Aber es ist wie die Spur eines menschlichen Fußes mitten in der Wüste. Wer hat sie hinterlassen? Wahrheit, Liebe – müsste da nicht der Name fallen, den die Geschichte der Menschheit tausendfältig nennt: Gott?

Er, nur er dürfte und könnte die Achse sein, um die sich unser Leben dreht. Er, nur er dürfte es sein, worum es geht zwischen mir und dir. Wenn er da sein kann zwischen uns, dann hat unser Leben Sinn, dann ist die Welt nicht leer.