Institution: Geflohen und gesucht

Die Ambivalenz der christlichen Gestalt

Das eindrücklichste positive Phänomen in der Kirche heute ist die sanfte, unbeirrbare Gewalt, mit der eine junge Generation sich unmittelbaren Zugang zu den Ursprüngen verschafft. Lassen wir jetzt von vornherein alles beiseite, was außerchristlich, aller irdischen Formen und Fortschrittshoffnungen müde, sich ins Formlose – mit welchen Methoden immer – zu versenken sucht. Beschränken wir uns auf den unzweifelhaft christlichen Elan, mit dem Gruppen jüngerer Christen sich, unbekümmert um alle Stacheldrähte der Wissenschaft, einen direkten Weg zur Ursprungsform des Christlichen bahnen: durch einen unbeirrbaren Instinkt für das, was Jesus von Nazareth unter seinen Zeitgenossen gewesen sein muß, oder auch für das, was er als sein lebendiges Pneuma der Nachwelt hinterlassen hat. Als sähe Jesus die sich aufrichtenden Barrieren der Institution voraus, sagt er seinen Jüngern: „Lasset die Kleinen zu mir kommen und wehrt es ihnen nicht …“ |(Mk 10,14)|. Und da die Jünger sich aufregen, daß einer im Namen Jesu Dämonen austreibt, ohne sich der Jüngergruppe anzuschließen: „Wehrt es ihm nicht, … wer nicht wider uns ist, ist für uns“ (Mk 9,39f.). Das ist heute das Beeindruckende, daß Menschen an den Verbotstafeln der Exegeten wie denen der Ordnungsdiener der Kircheninstitution vorbei zu Jesus drängen, und wer will sagen, sie könnten von ihm nicht berührt und nicht von seinem Geist erfüllt werden?

Aber nun ist es sinnvoll, doch einmal zu lesen, was auf den Tafeln der Exegeten steht, die keineswegs a priori des Institutionalismus verdächtigt werden können. Etwas ganz Einfaches: daß wir keinerlei Kenntnis von Jesus von Nazareth haben können, außer vermittelt durch die Glaubenszeugnisse der nachösterlichen Gemeinde, die uns vor allem in den schriftlichen Aufzeichnungen des Neuen Testaments überliefert sind. Und dies wesentlich so, [129] daß für diese Glaubenszeugen der Glaube an Jesus als den Christus, den Heilbringer, schlechthin eins ist mit der aktiven Teilnahme an der Jüngerschar, die den Geist, der in Christus lebendig war, nach seiner Verheißung erhalten hat und unter seinem Treiben und Wehen zu leben versucht. Beides zusammen ist erst der wahre christliche Glaube, der sich einerseits auf das Urbild Jesu von Nazareth bezieht und das von ihm her Empfangene – seinen lebendigen Geist – in sich herrschen läßt. Beides ist aber nach dem gesamten neutestamentlichen Zeugnis eins, weil Jesu Geist ihn trieb, sich für alle bis in den Tod dahinzugehen, und diese Hingabe von Gott dem Vater durch die Auferweckung Jesu von den Toten als die wahrhaft endgültige, unüberbietbare, absolute und deshalb göttliche Liebe selbst beglaubigt wurde: „Sosehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn für die Welt dahingab“ |(Joh 3,16)|. Damit wird die ursprüngliche Einheit von „glauben an …“ und „leben gemäß …“ (im Geist) nochmals enger ineinandergeflochten: beides ist eins in der ganz ausdrücklichen abschließenden Gebärde Jesu, der sich selbst, seine ganze Substanz – sein („für euch und die Vielen“) geschlachtetes Fleisch und vergossenes Blut – für die Seinen, aber auch den Seinen dahingibt, Gott danksagend und ihn segnend (eucharistein), daß er in seiner Liebe zur Welt dieses Äußerste erlaubt. Und wie sich Jesus in dieser abschließenden Gebärde in die Hände der Jünger überliefert („Tut dies zu meinem Andenken“), so legt er – in zahlreichen, immer wieder variierten Ausdrücken – seine Botschaft, seinen Verkündigungsauftrag in die gleichen Hände: „Wer euch hört, hört mich, wer mich hört, hört den, der mich gesandt hat“ usf. |(vgl. Lk 10,16; Joh 12,44)|. Alles schürzt sich zu einem einzigen Knoten zusammen, dort, wo das Leben und Sterben Jesu übergeht in die Existenz der Kirche im Heiligen Geist des Auferstandenen. Es geht keineswegs bloß um eine zeitliche Ablösung, sondern um eine (in aller Sterbensohnmacht) hoheitliche Selbstüberlieferung Jesu in die kirchliche Zukunft hinein, in der Communio und Traditio gleichzeitig empfangen und gelebt werden.

Wir blicken zur Verdeutlichung zuerst auf den Ursprung, Jesus, und dann auf das aus seiner Selbsthingabe Gewordene, die Kirche.