Christliche Spiritualität in einer pluralistischen Gesellschaft

Die Anfrage der Weltgeschichte

Freilich kommt eine solche Verunsicherung nicht von ungefähr. Die Welt, in der wir das Christliche und seine eine Mitte heute zu verstehen haben, hat andere Maße als jene Welt, in die das Christentum eintrat und aus der alsdann der orbis christianus wurde. Die Grenzen dieses orbis christianus sind endgültig zerbrochen. Wir stehen in einer Kenntnis der Menschheitsgeschichte, aller ihrer Strömungen, aller ihrer Motive wie kein Zeitalter zuvor. Wir leben in einer eins werdenden Welt, die alle Kulturen umfaßt, sie miteinander hervortreten läßt und sie zugleich ineinander verschmilzt.

[88] In dieser Welt leben heißt, offen sein für eine Kommunikation, in der das Christliche eine geschichtliche Gestalt unter vielen ist – und in der zugleich offenbar wird, wie viele Abhängigkeiten, wie viele Parallelen, wie viele Wechselwirkungen dieses Christliche mit anderen Strömen von Religion und Philosophie verbinden. Im universalen Kommunikationsraum der Geschichte und der Welt ist nicht mehr ganz deutlich, auf welche Ränder sich die eine Mitte des Christlichen bezieht, und eben dadurch wird die Mitte schwebend. Wie viele überkommene Antworten des Christlichen sagen nicht mehr „dasselbe“, wenn ich sie auf jene Fragen, Überlieferungen und Erfahrungen beziehe, die uns heutige Kenntnis der Welt und der Geschichte erschließt. Ist das Christliche, wie wir es aus unserer Überlieferung verstehen, die Antwort auf alle Fragen und – wenn es diese Antwort ist – kann dann diese Antwort so gegeben werden, wie wir sie bislang gegeben haben? Die Verunsicherung von innen wächst, zumindest auch, aus der Verunsicherung von außen.